Kapitel 22
Ich weiß nicht mehr, was ich noch sagte oder wie ich mich verabschiedete. Einfühlsame Worte werden es schon gewesen sein. Und jetzt, vier Stunden nach dem Gespräch, saß ich auf der Fähre an einem Tisch und starrte durch schmutzige Scheiben das Meer an. Ich blickte durch das Fenster, ohne konkret etwas zu sehen. Mühsam sortierte ich die Puzzleteile, die immer zahlreicher geworden waren. Mir blieb nichts anderes übrig, als intuitiv dem Weg zu folgen, der mir am vielversprechendsten erschien – das machte ich ohnehin die ganze Zeit. Ich dachte an die Menschen, die mir bisher begegnet waren, und an ihre Geschichten, an das traurige Paar Hermann und Hilde Lüske mit einem Familiengeheimnis, das keins mehr war. Nach anfänglichem Zaudern gewährten sie mir Einblick in das Geschäftsgebaren des Systems Sander/Jacobs/Cornelius. Der Name Gronewold fiel jedoch nicht, was mich verwirrte. Und am Ende des Gesprächs herrschte eine merkwürdige Abbruchstimmung in dem stillen Wintergarten, als seien Herr und Frau Lüske entfernte Verwandte auf Abschiedstour, unmittelbar vor einer Auswanderung. Piet hatte den Kontakt zu ihnen abgebrochen. Beide wirkten verunsichert, entwurzelt und ohne festen Haltepunkt. Ich hatte selbst einmal Eltern, die beide schon tot sind. Sie kamen bei einem Unfall ums Leben, als ich siebzehn war. Mein Vater war Polizist, er arbeitete bei der Kriminalpolizei, meine Mutter war Schneiderin, sie arbeitete von zu Hause aus und war immer erreichbar für mich. Die Erinnerung an sie ist nur noch blass, das Lachen, die Stimmen, die gütige Hand meiner Mutter. Eltern und Kinder – im Allgemeinen sind sie nur selten glücklich miteinander. Manche Eltern sind zu jung, manche zu alt, manche sterben zu früh, manche sehr spät. Und umgekehrt geben Kinder dem Leben eine neue Richtung vor. Es ist nicht immer die Richtung, die man sich wünscht, aber vielleicht die, die man braucht. Manchmal sind Eltern und Kinder so gegensätzlich wie Frost und Hitze, all die Jahre des kurzen Lebens, die aufreibenden Tage und Nächte. Ich sah mir das Foto an, das ich bei den Lüskes gemacht hatte, und prägte mir die Auflistung der Pflegefamilien ein, bei denen Piet in seinen ersten beiden Lebensjahren untergekommen war. Auch sie waren nicht zusammen glücklich geworden.
Die Fähre näherte sich gegen 16 Uhr dem Anleger, unter einer tiefen, satten Wintersonne, die sich im Hafennebel verlor. Nach dem Ausstieg ließ ich es langsam angehen. Ich ging ein paar Schritte und blieb stehen. Ich dachte an meine Frau Susanne und an das, was ihr jetzt bevorstand – und auch mir. Eine Entscheidung für oder gegen unsere Ehe zu treffen, drängte sich nun geradezu auf. Das allzu bequeme Vorsichherschieben war vorbei, vor diesen Gedanken kann man nicht weglaufen. Man kann vor der Insel weglaufen, den Menschen, den Touristen und alledem, aber nicht vor der Verantwortung, die sich tief unten regt, irgendwann hochsteigt, anklopft und sich einnistet.
Ich sah auf mein Smartphone. Es wäre an der Zeit, Deeken anzurufen, ihn über die Handlangertätigkeiten des Bonno Cornelius aufzuklären – auch er steckte knietief in den Geschäften mit den Scheinadoptionen. Vielleicht konnte Deeken sich die DNA-Reihenuntersuchung sparen, wenn er sich Cornelius als Ersten vorknöpfte. Mir ging noch etwas anderes durch den Kopf. Ich hatte das Gefühl, etwas nicht zu Ende gebracht zu haben. Seit dem Mord an Jan Gronewold im Nordstern war ich Fenja Groothuis aus dem Weg gegangen. Der Tod ihres Liebhabers musste auch für sie ein entsetzlicher Schock gewesen sein. Zudem überlegte ich, auch Nele Gronewold-Hansen einen Kondolenzbesuch abzustatten, verwarf es aber. Wir bewegten uns auf zwei völlig verschiedenen Planeten, unser Abschied sollte endgültig sein. Also klingelte ich Fenja über mein Smartphone an, wir vereinbarten ein Treffen in etwa einer halben Stunde. Fenja schlug dafür die Stella-Maris-Kirche vor. Daraufhin rief ich Antje an, um ihr zu sagen, dass ich wieder im Lande war. Wir verabredeten uns für den Abend. Als Überraschung sollte es etwas aus dem Meer geben. Wie recht sie damit hatte, konnte niemand ahnen ...