Kapitel 23
Ich spazierte direkt in die weiße Kirche in die Goebenstraße. Mein letzter Besuch war erst fünf Tage her, es kam mir vor wie ein ganzes Jahr. Fenja wartete im unbeleuchteten Kirchenschiff. Niemand sonst war da. Im Halbdunkel sah ich in ihr blasses, sommersprossiges Gesicht, umrahmt von kupferrotem Haar, im Kontrast dazu eine dunkelgrüne Bluse und dunkelgraue Jeans. Schweigend gab Fenja mir die Hand mit einer hauchdünnen Schweißschicht an der Innenfläche. Sie wirkte besorgt, es ging ihr nicht gut, das sah ich ihr an. Auch ihr schüchterner Blick irritierte mich etwas. Mein Verhalten im ehemaligen Hotel Nordstern neulich zählte nicht gerade zu den Glanzlichtern meiner Karriere. Wegen der Spitzelaktion im Schrank hatte ich mit einer kräftigen Ohrfeige von ihr gerechnet. Ich war nicht hier, um sie wegen ihrer Liebschaft mit Gronewold zu verurteilen – sie wird ihre Gründe gehabt haben. Fenja war definitiv in Trauer, ich bekundete ihr mein Beileid. Nach ein paar stillen Sekunden begaben wir uns in die hinteren Räume.
„Falls du dich wunderst, Frank, warum wir uns hier treffen und nicht bei mir zu Hause“, begann Fenja unser Gespräch, als wir im Konferenzraum angekommen waren, „Raik soll von alldem besser nichts erfahren.“ Sie schaltete das Licht ein.
Ich fragte: „Er weiß also nichts von Jan Gronewold und dem, was im Nordstern passierte?“
Hitzige Flecken flammten auf ihrem Hals auf, und ihre Mundwinkel kringelten sich, bevor sie sagte:
„Raik weiß nur, was in den Zeitungen und in den Medien steht, er weiß, dass Jan Gronewold umgebracht wurde – mehr nicht.“ Sie hob ihre flache Hand. „Und das soll bitte auch so bleiben, weil ... na ja ... das ist ganz allein meine Sache – und Sache der Polizei natürlich.“
„Ich habe nicht vor, mit Raik darüber zu sprechen. Sei unbesorgt“, erwiderte ich.
Fenja lächelte ein schwaches, unsicheres Lächeln. „Danke, Frank“, hauchte sie.
Ich merkte ihr an, wie sehr ihr das alles zusetzte. „Gibt es jemanden, dem du dich anvertrauen kannst, der dir hilft, dieses ... Trauma zu verarbeiten?“
Fenja nickte entschieden, ihre Mundwinkel kringelten sich stärker. „Ich habe eine gute Freundin, sie ist Psychologin.“ Ihre Worte kamen kühl und überlegt, aber nur wenige Sekunden später wurden ihre Augenränder rot und feucht, es platzte nur so aus ihr heraus. Fenja erzählte mir von dem schwierigen Verhältnis zwischen Gronewold und seiner Frau Nele. Unter ihrer Fuchtel habe er gestanden, Nele sei unerträglich gewesen. Das waren alles Dinge, die Jan ihr erzählt hatte. Ich sagte Fenja nicht, dass ich Nele gut kannte, und ich vermied es, ihr zu sagen, dass ich Gronewolds Schilderungen kaum Bedeutung beimaß. Ich wertete ihre Erzählung nicht, sondern hörte nur zu. Fenja beschrieb, wie Jan Gronewold und sie sich im Laufe der Jahre näherkamen. Schon seit der Schulzeit kannten sie sich, aber Jan habe nie Interesse an ihr gezeigt. Vor ungefähr zehn Jahren kamen sie ins Gespräch, sie unterhielten sich über ihre Beziehungen, und da habe es zwischen ihnen gefunkt. Zunächst fand sie ihn sympathisch, später wurden ihre Gefühle für ihn intensiver. Sie trafen sich regelmäßig im Hotel, seit der Zeit, als es noch in Betrieb war. Die Liebe nahm zu, aber sie konnten sich nicht vorstellen, ihre Ehen deswegen aufs Spiel zu setzen, wollten vielmehr ihre Partner in die Beziehung integrieren. Fenja und Jan strebten offene Ehen an. Kein Betrug, kein Techtelmechtel und keine Heimlichtuerei hinterm Rücken – das war der Plan. Fenja wollte Nele mit offenem Visier begegnen, auch ihren Raik darin einweihen, wenn die Zeit reif dafür sei. Jan tat sich schwer damit, wollte noch etwas warten, Fenja habe keinen Druck auf ihn ausüben wollen. Während sie sprach, überdachte ich die Konstellation aller Beteiligten: Eifersucht war noch immer ein klassisches Motiv für Mord. Möglicherweise war es Fenja entgangen, dass Nele, Raik oder sogar beide Wind von ihrer Affäre bekommen hatten. Eine offene Ehe ist nicht jedermanns Sache, vielleicht war einem der Kragen geplatzt. Die Morde an Pfarrer Martin Sander und Dr. Menno Jacobs wollten jedoch nicht so recht da hineinpassen. Gehörte Jan Gronewold also in eine besondere Kategorie? Das widerspräche der aufgefundenen DNA-Sequenz, die die Fälle Pfarrer Sander und Jan Gronewold verband. Die Wahrheit lag irgendwo dazwischen.
Mit glänzenden Augen ließ Fenja die Erinnerungen an ihren Liebhaber lebendig werden: „Sein schönes
Gesicht, und die durchdringenden, blauen Augen ... seine sinnlichen Lippen. Und seine Hände liebte ich mehr als alles andere ... sie waren wie vom Bildhauer geformt ...“
Ich verbuchte solche Erzählungen unter Trauerbewältigung. Es war Fenjas Weg, damit fertigzuwerden. Auf einmal, innerhalb weniger Sekunden, veränderte sich ihr Gesicht. Es schien mehr und mehr vor Elend zu zerfließen, es verwandelte sich zu einem Sinnbild für alles, was in den letzten Jahren schiefgelaufen war, für alles Unausgesprochene, das ihre Ehe mit Raik belastete. Und aus seinen Erzählungen auf Fenjas Party wusste ich, dass die beiden schwere Zeiten hinter sich hatten. Fenjas Lippen begannen zu zittern, der Glanz ihrer Augen erlosch.
Ich wollte sie auf andere Gedanken bringen. „Fenja, offen gesagt, ich hatte mit Vorwürfen von dir gerechnet.“
Sie sah mich abwartend an und fragte: „Weil du Jan und mich in flagranti erwischt hast?“ Ich nickte. Sie fügte hinzu: „Im Nachhinein habe ich mich eher gewundert, dass die Polizei mich nicht festgenommen hat.“
„Und was glaubst du, warum du nicht verhaftet wurdest?“, fragte ich vorsichtig.
„Entweder weil du deinen Mund hieltst oder ... weil die Polizei mich als Täterin ausschließen konnte.“ Ich schwieg, als ich sah, dass Fenja noch etwas sagen wollte: „Denn ich weiß, dass du nicht für dich allein ermittelst, sondern mit der Polizei gemeinsame Sache machst, und ich weiß, dass du in Schottland bei Julia warst.“
Ich war ehrlich überrascht. „Woher?“
Sie antwortete nicht sofort. „Das mit der Polizei hat Hauptkommissar Deeken angedeutet, alles andere habe ich von Meina Sigges. Sie hat sich mir vorgestern anvertraut. Sie sagte, dass du bei ihr warst. Das Gespräch mit dir gab ihr den letzten Anstoß, sich zu öffnen. Meina kann die Vergangenheit nun nicht länger verschweigen, meinte sie. Jetzt, an ihrem Lebensende, wollte sie mit sich ins Reine kommen.“
Grundsätzlich bin ich für die Wahrheit, aber wenn Frau Sigges das überall herausposaunte, lief Julia Heymanns zweite Identität Gefahr, aufzufliegen. „Und was hast du ihr daraufhin gesagt?“, wollte ich wissen.
„Ich sagte, solange sie damit nur zu mir käme, wäre es in Ordnung. Ich trage das gern mit. Allerdings dürfe sie wegen Julia damit nicht an die Öffentlichkeit gehen, und sie war einverstanden.“
„Wenn Meina Sigges sich daran hält, bleibt Julia Heymann weiter unbehelligt“, folgerte ich und sagte, so ruhig ich konnte: „Julia erzählte mir, dass du ihr damals dabei geholfen hast, nach Schottland zu gehen.“
Fenja sah mich ungerührt an, inzwischen gefeit vor Fallstricken und ungerechtfertigten Annahmen. Sie wusste, dass meine Fragen nicht in diese Kategorien gehörten. Sie sagte: „Geht das direkt weiter an die Polizei, muss ich mich deswegen vor Gericht verantworten – ist es das, was du von mir willst?“ Ihre vollen Lippen verzogen sich. „Oder warum wolltest du mich wirklich sprechen?“
„Glaubst du das, Fenja? Hast du nicht gemerkt, dass wir auf mehreren Ebenen die gleiche Sprache sprechen?“, fragte ich mit einer gehörigen Schippe Empathie in der Stimme. Ihre Freundin Julia zu schützen, hatte für Fenja oberste Priorität, das spürte ich. Aber ich spürte auch, wie sich ganz allmählich zwischen uns etwas zum Positiven verändert hatte.
Fenja fasste Vertrauen und Mut. „Ich habe Julia damals nicht allein geholfen.“
„Nicht?“
„Nein.“ Sie lächelte, fast verlegen. „Wie hätte ich wissen können, wie man das macht? Da war jemand mit Verbindungen, der kannte sich aus in der Szene, der war mal eine Zeit lang in London und als er wieder zurückkam, überraschte er uns mit bunten Pillen, diesen chemischen Muntermachern ...“
Ich wusste, was sie meinte. „Ecstasy.“
„Ja, das war es. Jedenfalls kannte er jemanden, der einen anonym über den Kanal bringen konnte, mit irgendeinem Frachtschiff von Rotterdam aus. Bis nach Schottland kämpfte Julia sich dann selbst durch – keine Ahnung wie.“
„Wie hieß denn dieser Szenetyp, der ihr dabei half?“
Es zuckte um ihre Mundwinkel, und sie hielt den Blick gesenkt. „Den kennst du sowieso nicht, er heißt Bonno Cornelius.“
„Aso.“ Darauf hätte ich selbst kommen können. Norderney, die Königin der Nordsee, wurde insgeheim von einem Tausendsassa regiert.
Fenja sprach weiter: „Bonno war ein wenig älter als wir und ziemlich durchgeknallt. Der war sogar mal Krankenpfleger und glaubte, einen Skandal mit vertauschten Babys aufgedeckt zu haben. Das war Anfang der Neunzigerjahre. Das stellte sich irgendwann als Irrtum heraus, und er flog aus der Klinik.“
Mein letzter Stand war, dass er freiwillig ging. Ich behielt es im Hinterkopf und sagte: „Davon habe ich gehört. Was macht er heute?“
Jetzt sah Fenja mich mit ihren großen grünen Augen direkt an. „Mal sah man ihn Taxi fahren, ein anderes Mal im Supermarkt Lebensmittel in die Regale einsortieren. Gelegenheitsjobs, nehme ich an. Aber das ist schon eine Weile her. Heute würde ich ihm nicht mal einen Verbandswechsel zutrauen. Alkohol und Drogen haben ihre Spuren hinterlassen, der Jüngste ist er ja auch nicht mehr.“
Skeptische Stille. Ich war in Gedanken schon weiter, musste an Julias Worte denken, als sie fast am Ende unseres Gesprächs sagte: Ich habe für mich entschieden, Piet nicht wiederzusehen, weil die Umstände ... nein, darüber kann ... ich nicht sprechen. Was waren das für Umstände, die Julia quälten? Gab es etwas, das ich nicht einmal ahnte, oder sah ich Gespenster? Bei aller Liebe zum Puzzlespiel – ich dachte spekulativ, und mit Annahmen musste man vorsichtig sein.
Fenja guckte säuerlich. „Was ist? War das mit dem Ecstasy zu viel für dich?“
„Nun, das ... nein. Ich ...“, begann ich kryptisch.
„Was!?“
Ich fing von vorne an. „Das Gespräch mit Julia. Ich hänge dem noch etwas nach. Es ist, nun ja, vielleicht ist es nicht wichtig, aber ich werde den Gedanken nicht los, dass Julia etwas belastete, etwas, das sie ihrer Lebensfreude beraubt hat. Ein Unglück vielleicht, das seit Langem auf ihrer Seele lastet.“ Ich schüttelte langsam mit dem Kopf und fügte hinzu: „Es ist nur eine Ahnung.“
Eine langsame Rötung kroch Fenjas Wangen hinauf. Es war faszinierend – sie konnte noch röter werden.
Nun sah ich ihr fest in die Augen. „Fenja, gibt es etwas, woran deine Freundin heute noch zu knabbern hat?“
Auf einmal glänzte Schweiß auf ihrer Stirn wie unangemeldeter Besuch aus Jugendtagen. Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ja, das ... gibt es leider wirklich.“ Ihr Blick glitt wieder hinunter zu Boden, weiter übers Parkett und zurück zu mir, als dachte sie darüber nach, inwieweit sie mir etwas von großer Wichtigkeit anvertrauen konnte. „Ich muss dir was zeigen, Frank, aber dafür gehen wir besser ins Büro, nach nebenan.“ Fenja wandte sich um, ich folgte ihr in den Bürotrakt, durch den ich schon mit Pater Hans gegangen war. Sie blieb links vor einer der Türen stehen, zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss ein Büro auf. Wir betraten den Raum, Fenja drückte den Lichtschalter, Neonlicht flackerte auf. In der Mitte standen sich zwei helle Schreibtische gegenüber, beide mit Büroutensilien bestückt. Rechts an der Wand ein halbhoher Aktenschrank mit Schubladen. Fenja ging zum rechten Tisch, hob eine Ecke der dunkelbraunen Schreibunterlage an und nahm den darunter liegenden Schlüssel an sich. Sie ging zum Aktenschrank, entriegelte die unterste Schublade und zog sie heraus. Fenja warf mir einen einladenden Blick zu, ich trat näher und sah hinunter in das offene Schubfach. Diverse Gegenstände waren darin: eine verschlissene Ausweismappe, ein altes Handyaufladegerät, Musikkassette, Diktiergerät mit Minikassette, eine zerkratzte Armbanduhr, Etui für Visitenkarten und etwas, das ich nicht erkennen konnte, weil es hochgerutscht war. Fenja erklärte: „Das sind alles Dinge, die ich gestern von unserer Sekretärin übernommen habe. Sie wollte das restliche Zeug aus den Wohnungsauflösungen loswerden.“ Fenja nahm die Musikkassette heraus, sie sagte: „Auch die hier war dabei, sie stammte aus Keno Schnieders Wohnung. Ich habe mir die Kassette gestern Abend noch angehört, weil Julias und Kenos Namen darauf stehen.“ Sie seufzte und sagte weiter: „Eigentlich hatte ich Musik erwartet, aber was ich dann hörte, machte mich vollkommen fertig.“ Die Farbe in ihrem Gesicht verblasste zusehends. „Ich ... na ja, wenn du das gehört hast, weißt du, wovon ich rede.“ Sie sah mich mit entschuldigendem Blick an: „Ach, du kennst ihn ja nicht: Keno Schnieder war ...“
Ich führte ihren Satz zu Ende: „... war Julias Jugendfreund und vermutlich der Vater von Piet.“
„Du weißt es?“ Fenja sah aufrichtig erstaunt aus.
„Rolf Heymann, Julias Vater, erzählte mir von ihm. Keno starb 2011, glaube ich.“
Fenja wies auf das Etikett der Musikkassette. Wo bei anderen „The Greatest Hits“ stand, waren hier die Worte „Für Julia / Für Keno“ zu lesen. Fenjas Gesicht zeigte Betroffenheit. „Die liegt hier schon so lange, und ich wusste es nicht. Hätte ich die Aufnahme früher gehört, wäre mein Leben komplett anders verlaufen. Ich denke, es ist an der Zeit, den Inhalt mit jemandem zu teilen, der an der Wahrheit interessiert ist und den Dingen ehrlich auf den Grund geht, so wie du.“
Rechts neben dem Büroschrank stand ein schwarz- und silberfarbener Radiorekorder, wie sie in den Achtzigerjahren hergestellt wurden, einer, mit dem man Livemitschnitte vom laufenden Radioprogramm machen konnte. Durch Drücken der „Eject“-Taste öffnete sie das Kassettenfach. Fenja steckte die Kassette hinein, spulte das Band an eine bestimmte Stelle und sagte: „Auf dieser Kassette nahmen Julia und Keno wechselseitig Botschaften auf, die sie sich zugeschickt haben. Die vorletzte und letzte Aufnahme auf der Kassette spiele ich dir vor. Zuerst die letzte Nachricht von Keno, danach Julias Antwort.“ Fenja drückte die „Play“-Taste, das Band lief an:
„... ich war mir ja unsicher, wie es mit mir in der Firma weitergehen soll, wenn ich die Prüfung erst mal geschafft habe. Da meinte der Kollege zu mir, ich sollte den Chef einfach frech danach fragen. Schließlich würde ich gute Arbeit machen. Und das habe ich gestern nach Feierabend gemacht. Ich hab an seine Tür geklopft, er hat mich hereingebeten, und nachdem ich ihn gefragt habe, hat er sofort Ja gesagt! Ist das nicht toll, dass mich die Firma übernehmen will? Ich bin so was von erleichtert! So, liebe Julia, das waren meine Neuigkeiten. Ich denke jeden Tag unheimlich viel an dich und hoffe, dass es dir gut geht! Ich liebe dich und kann es gar nicht erwarten, dich wieder in den Armen zu halten. Ich küsse dich, liebste Julia!“
Als Nächstes kamen Klickgeräusche, die Aufnahme war beendet.
„Jetzt kommt Julias Text“, schob Fenja dazwischen.
Es klickte wieder, man hörte leise Musik. Es klang wie „Good Times“ von der Gruppe Chic, der alte Discokracher. Weiter passierte nichts. Plötzlich eine entsetzt klingende Stimme, so laut, dass ich erschrak – es war Julia: „Jan, was machst du hier ...? Wie bist du hier reinge...?“ Der Satz brach ab, es folgten Geraschel, ein Quietschen und eine unterdrückte, gepresste Stimme, als würde ihr der Mund zugehalten. Es quietschte und raschelte unentwegt, als bewegten sich Menschen hektisch auf einem Bett. Julias Stimme klang gequält, immer verzweifelter. Fenja und ich schauten uns an. Die Situation war beängstigend, und wir erlebten das zeitversetzt mit. Julia wimmerte, wir hörten ruckartige Bewegungen, als würde sie sich heftig wehren. Auf einmal eine männliche, fast ekstatische Stimme: „Jetzt bist du fällig, Schlampe. Hast du’s vergessen? Du gehörst jetzt mir.“ Offenbar hatte Julia ihren Mund unter
seiner Hand losreißen können, die Folge war ein entsetzliches: „Nein, lass mich! Neeeeeiiiin, neeeeeeeiiiiiiiiinnn ...!“ Die männliche Stimme lachte dreckig, stöhnte. Kein Zweifel, wir waren Ohrenzeugen einer Vergewaltigung, die vor achtundzwanzig Jahren geschah. Nach einer Weile verebbten die Geräusche, und wieder die männliche Stimme: „Wenn du was sagst, bist du tot!“ Eine Gürtelschnalle klimperte, eine Tür klappte, gefolgt von heftigen Schluchzern. Fenja schaltete den Rekorder ab, sie atmete heftig.
Eine endlose Sekunde verhakten sich unsere Blicke. Ich sagte: „Julia nannte den Namen Jan“, und fügte hinzu: „Jan Gronewold?“
Fenjas Augen wirkten müde. „Das macht mich so fertig. Stell dir vor, vielleicht ist er der Vater von Piet, denn Keno und Julia haben nie miteinander geschlafen. Julia verriet es mir, unmittelbar bevor sie wegging.“
„Wenn das stimmt, wäre es in etwa nachvollziehbar, warum Julia ihrer Mutter freie Hand ließ.“
Fenja schaute irritiert drein. „Du meinst, auch Julia wollte heimlich entbinden und das Kind anschließend weggeben? Glaubst du, Julia und ihre Mutter haben das gemeinsam geplant?“
Ich hob die Schultern. „Ich weiß es nicht, zumindest wäre es denkbar. Julia wurde vergewaltigt, wie wir jetzt wissen. Was geht einer jungen Frau durch den Kopf, wenn sie erfährt, dass sie nach der Vergewaltigung schwanger ist?“
Eine Antwort erübrigte sich, Fenja starrte mich nur an. Das größte Problem bei meinen Ermittlungen war, dass mir unentwegt Halbwahrheiten aufgetischt wurden, und es war mühsam, Essenzielles aus der trüben Suppe herauszufischen. Jan Gronewolds Stimme war definitiv auf der Aufnahme herauszuhören. Es war die Stimme eines Vergewaltigers. Diese Straftat war zwar verjährt, aber es war nachvollziehbar, warum Gronewold ein Interesse an Julias Krankenakte hatte. Vermutlich wähnte er sich zeitlebens sicher, solange Dr. Jacobs lebte und ihn schützte. Aber nach dessen Tod war dieses Gleichgewicht ins Wanken geraten, er konnte es sich nicht leisten, seinen Ruf zu verlieren, unabhängig davon, ob die Straftat verjährt war oder nicht. Fenjas gelebter Traum mit ihrem Liebhaber Jan war zu einem Albtraum verkümmert. Es war an der Zeit aufzuwachen, und ich war gekommen, um sie zu wecken.