Kapitel 25
Ich beeilte mich, aus der Kirche zu kommen. Draußen ging die Sonne unter, es war fast windstill. Dichter Dunst geschmolzenen Schnees hing in der Luft. Die Menschen gingen angestrengt, als wateten sie durch Gelatine. Ich ging zurück zum Klamottendenkmal, bog links in den Herrenpfad, am Ende der Adolfsreihe gelangte ich auf den beleuchteten Kurplatz. Das helle Rathaus rechts war dem Badehaus vorgelagert, mit einem unscheinbaren Säulengang und einer ebenso unscheinbaren Glastür. Ich ging darauf zu, als im selben Augenblick eine große, auffällig gekleidete Frau herauskam, deren Habitus dem eines bunten Fabelwesens nicht unähnlich war. Die dunklen Haare hochtoupiert, der magentafarbene Pony zu einer Tolle drapiert, ein dunkelgrüner Fascinator mit langen, wippenden Fasanenfedern schräg am Kopf. Ein braunes, hochwangiges Gesicht mit schmalen Augen in aufregender Kriegsbemalung – die deutsche Antwort auf Grace Jones, ein Hauch jamaikanischen Karnevals erfüllte für kurze Zeit den Platz. Ihr schmaler Oberkörper war eingehüllt in eine blaugrün schimmernde Jacke, dazu schwarze Stoffhose mit Schlag und silbernen Heels. Fenja hatte recht, ich hatte Sina Ihnken tatsächlich auf der Geburtstagsparty gesehen – sie war der auffällige Teil des Fruchtbarkeitstanzes. Gerade war sie dabei, die Rathaustür hinter sich abzuschließen. Sie drehte sich und kam geradewegs auf mich zu.
Ich fragte: „Entschuldigung! Hat das Rathaus geschlossen?“
„Alle geschlossen zum Friseur.“ Sie lachte schallend mit tiefer, kehliger Stimme und klopfte mir auf die Schulter zum Zeichen, dass das ein Witz gewesen war. Es gab also Spaßklarinetten auf der Insel. Sie setzte sich in Bewegung, auf eine Weise, als würde sie gern bleiben.
„Das ist sehr schade“, sagte ich allzu bedeutungsvoll.
„Na ja, mich haben Sie ja noch erwischt“, stellte Frau Ihnken mit einem Augenzwinkern fest. Als sie den Mund aufmachte, verschwand ihr Kinn darunter und auf den Zähnen zeigten sich Tabakflecken.
„Ob Sie mir vielleicht weiterhelfen könnten, Frau Ihnken? Sie sind mir von Fenja Groothuis empfohlen worden.“
Sina Ihnken zeigte sich überrascht. „Oh, Fenjas Freunde sind natürlich auch meine Freunde“, sagte sie mit einem verkrampften Lächeln. Genau genommen war es kein Lächeln, eher ein offener Mund mit hochgebogenen Winkeln. Die Pause war auffällig lang. Vielleicht wollte sie umgarnt werden. Ich nannte ihr meinen Namen und skizzierte meinen ungefähren Beweggrund, was sie womöglich weniger misstrauisch machte. Frau Ihnken musterte mich von oben bis unten. Es war lange her, dass mich jemand so herausfordernd angesehen hatte. Sie kam einen Schritt näher, sah mich scharf an, mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte, und sagte mit ihrer tiefen Stimme: „Sollte das mit Fenja nicht stimmen, Frank Gerdes“, sie bohrte mir einen spitzen Zeigefinger in die Brust, „ziehe ich dir das Fell über die Ohren.“ Ihr Bass sank ein paar Oktaven tiefer, sie beugte sich noch weiter vor. „Verstehen wir uns?“
Ich nickte zustimmend, bedauerte mich im selben Moment selbst dafür, wegen einer einzigen Frage mein Leben aufs Spiel zu setzen.
„Was möchtest du wissen, Herr Privatermittler?“ Ihre Zungenspitze erschien zwischen den Zähnen.
Ich wechselte ebenfalls ins vertrauliche Du und fragte: „Du arbeitest schon einige Zeit in der Stadtverwaltung?“
„Das kann man wohl sagen. Seit meiner Ausbildung 1985, gefühlt also mein ganzes Leben. Damals noch mit schwarz-weiß gestreifter Nenahose und Walkman auf den Lauschern“, lächelte sie. „Angefangen habe ich damals in der Friedrichstraße, später der Umzug 2006 hierher an den Kurplatz.“ Sie vollzog eine auffällige Geste, geeignet für die große Bühne. „Alles mitgemacht!“ Mit der rechten Hand prüfte sie den tadellosen Sitz ihrer Magentalocke, und ich merkte ihr an, sie genoss es, gefragt zu werden.
„Dann weißt du vielleicht noch, wer Ende der Achtzigerjahre mit der Verwaltung von Adoptionen betraut war?“
Sie leckte sich die Lippen. „Das ist jetzt nicht dein Ernst! Ha! Ich kann nicht glauben, dass du ausgerechnet danach fragst.“
„Wieso?“
„Na, weil das damals intern ein Aufreger war.“ Sie sah mich streng an, so streng, als würde sie gleich mit Wattebäuschchen schmeißen.
„Inwiefern?“
Sie stieß einen dünnen Seufzer aus. „Na, Adoptionen! Hallo?! Von denen gab es hier naturgemäß nicht so viele, und ausgerechnet unsere unterbeschäftigte Teilzeittippse Gesa sollte die neue Stelle ganz allein managen, damit sie noch weniger zu tun hatte, als sie ohnehin schon machte. Die ganze Belegschaft verstand das nicht.“ Sina zuckte mit den Schultern. „Na ja, irgendwann war ja auch Schluss, sie war nur noch Arztgattin und Galeristin.“ Beim letzten Wort setzte sie Anführungszeichen in die Luft.
„Gesa, also Gesa Jacobs, wickelte die Adoptionen ab?“
„Man suchte halt eine Beschäftigung für sie. Dabei war Gesa öfter an der Côte d’Azur als ich am Weststrand von Norderney.“ Sie hob ihre langen Arme. „Woher sie die Urlaubstage nahm, war mir schleierhaft“, plauderte Sina aus, wie man es eher in der Büroküche unter Kollegen erwartet.
„Das ist interessant! Vielen Dank für die Auskunft!“, sagte ich und gab ihr die Hand. Ihre war kalt, aber die Augen blickten lodernd und neugierig.
„Wie – das war’s schon?“, schnarrte sie.
„Die Zeit drängt“, sagte ich und lächelte schief.
„Wer sich keine Zeit nimmt, der läuft am Leben vorbei, Frank Gerdes!“
Ich wusste in etwa, was sie meinte. Sie würde es verkraften. Ich hob nur noch die Hand und machte mich auf die Socken.
Die Welt ist eine Insel. Wie unter einem Brennglas waren alle Beteiligten auf Norderney versammelt, wenngleich ich mit Witwe Jacobs am allerwenigsten gerechnet hatte. Ich wählte Deeken an, um ihm mitzuteilen, für wen er schleunigst Personenschutz abzustellen hatte. Aber er sagte kein Wort, die Mailbox war angesprungen. Ich hinterließ die wichtigsten Fakten auf Band, in der Hoffnung, er würde es bald abhören, aber darauf konnte ich mich nicht verlassen. Auf schnellstem Weg musste ich jetzt zu Gesa Jacobs. Das Smartphone spuckte ihre Adresse aus: Sie wohnte in einem Seitenweg, zwischen Karl-Rieger-Weg und Südstrandpolder. Es war das einzige Haus dort, offenbar eine entlegene Gegend, zu weit für einen Sprint mit dem Rad. Es musste viel schneller gehen. Ich griff in die Jackentasche. Glücklicherweise schlummerte noch Antjes Fiat-Schlüssel darin. Und das dazugehörige Auto stand nur wenige Meter von hier entfernt, auf einem Parkplatz hinter dem klassizistischen Gebäude der Frisia-Reederei. Manchmal braucht es ein wenig Glück.