Kapitel 26
Der kleine Fiat startete auf Anhieb. Im Eiltempo fuhr ich über die Hafenstraße in Richtung Fähranleger, unmittelbar vor dem Hafenamt kurvte ich links in die Deichstraße, schnitt Kurven und überholte alles, was nicht bei drei auf dem Süddeich war. Aufgebracht gestikulierende Fahrer und wildes Gehupe die gesamte rasante Fahrt über. Das Handy vibrierte, Antje rief an. Ich stellte das Smartphone auf „frei sprechen“ und erklärte ihr in kurzen Sätzen, dass ich Gesa Jacobs einen Besuch abstatten wollte. Alles Weitere später. Und falls ich mich heute Abend verspätete, solle sie sich keine Sorgen machen. Antje meinte, das mit den Sorgen sei ihre Sache, und ich sagte, sie habe recht. Wir legten auf.
Mittlerweile war es dunkel geworden. Ich folgte dem Verlauf der Richthofenstraße, die in den wenig befahrenen Karl-Rieger-Weg mündete, hier verlangsamte ich das Tempo. Irgendwo zwischen Industriegebiet und Dünensender machte ich den gepflasterten Seitenweg aus, in dem Frau Jacobs wohnte. Ich stoppte am rechten Fahrbahnrand, probierte es noch einmal bei Deeken. Er ging nicht ran. Ich legte das Smartphone beiseite, wollte gerade zurücksetzen, als ein dunkler SUV aus dem Seitenweg schoss und mein Heck um wenige Zentimeter verfehlte. Der SUV schlingerte, der Fahrer konnte das Fahrzeug nur mit Mühe in der Spur halten. Es brauste in hohem Tempo davon, ich befürchtete das Schlimmste. Sofort setzte ich zurück, bog in den Weg ein und fuhr etwa zweihundert Meter bis zu einem Haus. Ich zog die Handbremse, nahm den Gang raus, ließ den Motor laufen, kletterte aus der Büchse, näherte mich dem Haus. Die Fenster waren erleuchtet, die Haustür stand weit offen. Dort blieb ich stehen und rief in den Flur hinein: „Frau Jacobs? Hallo?“ Keine Reaktion, kein Geräusch. Ich betrat den Bungalow, ging durch den hell erleuchteten Flur, gelangte bis ins Wohnzimmer. Ein großer, gemütlicher Raum mit Ledercouches, erleuchteten Tisch- und Stehlampen und Kunstdrucken von Poppe Folkerts an den Wänden. Wieder rief ich: „Frau Jacobs?“ Nichts tat sich. Ich schaute schnell in die anderen Zimmer, das Haus war verwaist.
Der rasende SUV, die offene Haustür – Gesa Jacobs war offenbar von Carina Lüske entführt worden. Ich spurtete zurück zum Wagen, wendete, fuhr den Weg zurück und bog am Ende rechts ab, auf die noch warme Spur des SUV. Nähe Jugendherberge stoppte ich, checkte die Umgebung via Smartphone ab. Wohin könnte Carina Lüske gefahren sein? In der näheren Umgebung waren Camping- und Golfplatz, der Leuchtturm und der Flugplatz im Grohdepolder. Der Flugplatz! Carina besaß eine Fluglizenz, und sie liebte das Fliegen. Ich steckte das Handy in meine Jackentasche, fuhr wieder an.
Die Milchscheibe des Vollmonds leuchtete die Landschaft kaltweiß aus, sie lag da wie ausgestorben. In einiger Entfernung sah ich vereinzelt Wohnwagen, sie erinnerten an Grabsteine. Über mir spuckte der pulsierende Leuchtturm seine Lichtwellen in die Ewigkeit. Unmittelbar vor dem Turm gab es rechts einen Weg zum Inselairport, dessen Asphalt im Mondlicht glitzerte. Ich nahm den Fuß vom Gas, trat die Kupplung durch und löschte die Scheinwerfer. In einigem Abstand zum Flughafengebäude kam der Wagen zum Halten. Ich stellte den Motor ab, stieg aus und schloss die Tür durch vorsichtiges Andrücken. Es war mucksmäuschenstill, kein Lüftchen regte sich. Die Sterne waren groß und funkelten wie erstarrtes Feuerwerk. Geduckt näherte ich mich dem Flughafengebäude mit Restaurant und integriertem Tower – alles dunkel und verlassen. Plötzlich ein polterndes Geräusch, es kam von der Rückseite. Ich pirschte am Gebäude entlang und über eine Anhöhe bis zu einer Reihe Garagen mit einem alten Schienenbus. In etwa hundert Metern Entfernung machte sich jemand an einem Hangar zu schaffen, der im Mondlicht schimmerte wie eine Perlmuttschatulle. Davor parkte der dunkle SUV. Im Licht der Scheinwerfer schob Carina Lüske das schwere Hangartor auf, machte Licht, eilte zum Fahrzeug zurück und stellte den Motor ab. Ich hatte sie gefunden! Carina zog etwas von der Gestalt eines Menschen vom Rücksitz, schulterte es angestrengt und verschwand damit in den Hangar. Ich nutzte die Gelegenheit, rannte seitwärts über den Rasen und stoppte meinen Sprint am Heck des SUV. Aus der Halle drangen Stimmen.
Eine männliche Stimme sagte: „Bald ist es vorbei, Carina. Du kannst stolz auf dich sein!“
Carina antwortete: „Ich tue das für uns beide, Piet. Verstehst du? Damit wir das alles endlich hinter uns lassen können!“
Ich sah nicht, wer mit wem sprach – ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Mit wem sprach Carina da? Mit Piet? Wer war dann Carina? Julia Heymann hatte mir erzählt, dass Piets Zwillingsbruder unter der Schwangerschaft gestorben war, sie hatte mir sogar den Totenschein gezeigt. Hatte der Junge doch überlebt oder hatte ich falsche Schlüsse gezogen? Was war davon zu halten?
Von hier aus sah ich den Mann nicht. Ich hörte ihn sagen: „Wenn die Jacobs-Schnepfe erst mal als Fischfutter in der Nordsee liegt, hat sie endlich gekriegt, was sie verdient – genau wie ihr Macker.“
Ich bewegte mich lautlos um den Wagen herum, um beide ins Blickfeld zu bekommen.
Carina stand mit dem Rücken zu mir. Ich hörte sie sagen: „Das waren wir Mama schuldig, ihr Tod durfte nicht ungesühnt bleiben. Gleich ist es geschafft, wir haben gründlich aufgeräumt, Piet. Mama wäre stolz auf uns beide gewesen.“
Carinas Gesprächspartner blieb verborgen, ich wagte einen Blick über das Autodach hinweg. Jetzt sah ich es: Carina sprach ... mit niemandem! Sie war allein! Sie sprach mit sich selbst, mit ihrem anderen Ich, namens Piet. Carina hantierte an der einzigen Cessna herum, die im Hangar stand. Die Motorhaube war auf einer Seite hochgeklappt. In ihrem Gürtel steckte gut sichtbar eine schwarze Pistole.
Mit ihrer männlichen Stimme sagte sie: „Die Jacobs wird leiden müssen, für all das, was sie uns und den anderen Kindern angetan hat.“ Eine Pause. „Aber denk dran, du musst weit genug raus, wegen der Strömung!“
Die weibliche Stimme antwortete: „Ich fliege nicht erst seit gestern, Piet. Daran habe ich natürlich gedacht! Der Pfarrer, der Doktor und der Immobilienaffe haben’s schon hinter sich. Da werde ich am Ende schon keinen Fehler machen.“
Plötzlich meldete sich mein Handy in der Jackentasche, es war auf „lautlos“ gestellt, aber es rappelte. Ich duckte mich tiefer, griff in die Tasche, zog es halb heraus und schaltete es ab. Als ich hochblickte, war Carina verschwunden. Irgendwo im hinteren Bereich fiel krachend eine Tür ins Schloss. Stille. Ich wartete vier, fünf Sekunden, richtete mich halb auf und blickte durch die Autoscheiben in das Innere des Fahrzeugs, um für einen eventuellen Rückzug vorbereitet zu sein. Die Türen waren unverschlossen, der Schlüssel steckte – das genügte. Auf leisen Sohlen schlich ich zum Hangar, blieb links vor der Torzarge stehen. Die Cessna war vorzeitig
aus dem Winterschlaf geholt worden. Beide Türen standen offen, die Innenbeleuchtung brannte. Von Frau Jacobs keine Spur. Vielleicht lag sie auf dem Rücksitz, den ich von hier nicht einsehen konnte. Hinter mir auf einmal eine Bewegung. Während meiner Drehung traf mich etwas am Hinterkopf, was für neue Sternbilder sorgte – erst blendend weißes Licht, dann ein schwarzes Loch.