Kapitel 27
Es brummte. In meinem Schädel brummte es und um das Zwerchfell herum auch. Es war ein anhaltendes, sogar hörbares Brummen, es schien nicht mit meinem Kopfschmerz in Verbindung zu stehen. Genau – ich war niedergeschlagen worden. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, mich zu bewegen und meinen Hinterkopf zu befühlen, das alles gelang nicht. Um mich herum alles in Bewegung. Das Brummen kam von einem Verbrennungsmotor, meine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden und ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Langsam kriegte ich die Augen auf und realisierte, wo ich war: Ich saß in Form eines Fragezeichens auf der Rückbank der Cessna, und die war in der Luft. Langsam bewegte ich den Kopf zum rechten Fenster, ich schaute hinunter auf die Insel mit ihren beleuchteten Straßen und Häusern. Weiter hinten der blinkende Leuchtturm. Wir flogen nach Norden, hinaus aufs offene Meer. Mir wurde eiskalt, aber die Adrenalinproduktion sprudelte. Ich sah Carina Lüske schräg vor mir am Steuerknüppel mit geradem Rücken und zusammengebissenen Zähnen. Ich sah die harten Konturen ihres Gesichts, die sich vor dem Licht des Armaturenbretts abzeichneten. Sie schaute zum Sitz des Co-Piloten, auf dem noch jemand saß oder lag. Aber diese Person, soweit ich das sehen konnte, rührte sich nicht. Gesa Jacobs vielleicht, bewusstlos oder tot. Ich zog an meinen Fesseln, befühlte das Material, es dehnte sich leicht – vermutlich ein Kabel.
„Carina“, sagte ich viel zu leise, das Brummen des Motors übertrug sich allzu laut auf den Innenraum. Ich beugte mich vor. „Carina!“, sagte ich viel lauter. Sie blickte sich erschreckt um, ohne in hektische Bewegungen zu verfallen. Offenbar war ich zu früh aus meiner Bewusstlosigkeit erwacht, das entnahm ich ihrem entgeisterten Gesichtsausdruck. Ich nutzte diesen Überraschungsmoment, wollte sie in ein Gespräch verwickeln. „Carina, endlich habe ich Sie gefunden! Ich grüße Sie von Ihrer Mutter!“
„Wie? Was ... was soll das?“, rief sie. Sie war auf der Suche nach den richtigen Worten: „Meine Mutter ... sie ist tot. Und diejenigen, die ihr das angetan haben, werden dafür bezahlen – bis auf den letzten Penny!“
„Carina, wie viele müssen noch sterben, bis Sie glauben, Ihre Mutter gerächt zu haben, obwohl sie lebt? Ich rede nicht von Ihrer Adoptivmutter Hilde Lüske, sondern von Julia Heymann“, sagte ich und bewegte dabei unablässig meine Handgelenke, um die Fessel zu dehnen.
Carina Lüske schaltete ein Licht ein, um mich betrachten zu können, wie ich da auf der Rückbank mehr lag als saß. Die Hände nach hinten gebunden, die Haare zerzaust, Hinterkopf womöglich blutverkrustet. Bei dieser Beleuchtung wirkte ihr Gesicht fast eckig mit tiefen Furchen links und rechts des Mundes.
Sie bewegte ihren Kopf mit einem kleinen Ruck. „Wa... was wissen Sie denn schon davon?“, krächzte sie.
„Eine Menge, vermute ich! Ich habe mit allen gesprochen: mit Ihrem Großvater Rolf Heymann, mit Ihrer Freundin Fenja Groothuis, mit Bonno Cornelius und sogar mit Ihrer Mutter Julia ...“
Blitzschnell griff Carina nach etwas, das auf der Armatur lag, und schlug mir damit hart ins Gesicht. Ein entsetzlicher Schmerz durchfuhr meine Gesichtsnerven, ich schrie auf. Mit einem Auge sah ich, dass es sich bei dem Gegenstand um die Pistole handelte. Sie hatte mir den Griff durchs Gesicht gezogen, mein rechtes Auge nur um wenige Zentimeter verfehlt. Ich drehte den Kopf zur Seite, sah wieder aus dem Fenster, ich brauchte eine Verschnaufpause.
Vollmond am wolkenlosen Himmel, funkelnde Sterne, darunter das dunkle, glitzernde Meer. Ein romantisches Motiv, wenn einem danach war. Von der Insel war nichts mehr zu sehen. Unter uns mehrere Containerschiffe aus Übersee, unterwegs von und nach Hamburg oder zum Jade-Weser-Port, wie glitzernde Perlen an einer Schnur. Plötzlich sackte die Cessna ab. Ich sah wieder nach vorn, Carina Lüske griff nach der Steuerung und zog daran, die Maschine stieg wieder. Es war höchste Zeit, umzukehren. Ich musste sie auf andere Gedanken bringen. Sie schaute sich verächtlich nach mir um und wieder nach vorn. Es war mir nicht ganz klar, was hinter ihrer energischen Stirn vor sich ging, tippte aber darauf, dass sie Gesa Jacobs und mich über der Nordsee aus dem Flugzeug werfen wollte – Überlebenschance wenige Minuten bei dieser Kälte.
Ich wagte es, Carina erneut anzusprechen, ließ nicht locker. Ich rief: „Hören Sie, ich sage die Wahrheit! Ich habe tatsächlich mit Ihrer leiblichen Mutter gesprochen. Sie lebt! Sie hat sich nicht umgebracht!“ Während ich sprach, versuchte ich, aus den Armaturen schlau zu werden. Ich erinnerte mich dunkel an die wichtigsten Anzeigen: Luftgeschwindigkeit, Höhenmesser, Steigmesser ...
„Du lügst, Schwachkopf! So wie alle mich immer nur angelogen haben!“, schrie sie fast hysterisch.
„Nein!“, gab ich zurück. „Ihre Mutter Julia inszenierte 1990 ihren Selbstmord. Sie wollte, dass ihre Eltern leiden, für all das, was sie ihr angetan hatten und worin auch Doktor Jacobs und Pfarrer Sander ihre Finger mit im Spiel hatten.“
Carina schaute mich irritiert an. „Sie wissen davon, was damals mit den Babys passiert ist? Sie wissen von diesen dreckigen Geschäften?“
„Ich weiß es, und die Polizei weiß es inzwischen auch. Wir wissen, was Jan Gronewold Ihrer Mutter angetan hat, die Kassettenaufnahme bezeugt es.“ Carina riss ihre Augen noch weiter auf. Ich sagte: „Fenja und ich haben die Aufnahme gehört.“ Sie ließ kurz ihren Blick sinken, ich redete einfach weiter: „Anschließend wurden Sie von Sander und Jacobs illegal zur Adoption freigegeben und dafür haben die ihre Hand aufgehalten. Ich weiß, was Sie durchmachen mussten, ich kenne Ihre Geschichte. Hilde und Hermann Lüske haben es mir erzählt. Man verordnete Ihnen viel zu früh ein Geschlecht, ohne Ihre Entwicklung abzuwarten, ohne Sie selbst zu fragen. Aber Sie haben es geschafft, sich aus den gesellschaftlichen Zwängen zu befreien. Ich weiß, was Ihre Trauer und Ihre Wut ausgelöst hat. Sie sehnen sich nach Gerechtigkeit, nach Vergeltung und Wiedergutmachung. Gerechtigkeit wird es geben, aber dafür braucht es Sie, Carina!“ Ich griff tief in die emotionale Kiste. „Ohne Sie wird es niemanden mehr geben, der es öffentlich macht. Sie sind der lebende Beweis für das menschenverachtende System, das Jacobs und Sander installiert und worunter so viele gelitten haben oder heute noch leiden! Die meisten Betroffenen ahnen noch gar nicht, aus welchen Familien sie kommen, wonach sie sich sehnen, was sie vermissen. Die Opfer dieses Systems spürten schon immer eine gewisse Leere, eine Leere, die nur Sie ausfüllen können, Carina. Sie sollten umkehren und dem Ganzen ein Ende bereiten. Bringen Sie uns sicher wieder nach Hause, damit die Wahrheit bekannt wird!“ Sie schaute stur nach vorn, ins tiefschwarze Dunkel. Plötzlich ein Blitz aus den aufgetürmten Wolken vor uns wie eine düstere Vorwarnung. Ich sagte: „Wir fliegen in die falsche Richtung. Kehren Sie um, dann wird alles gut! Ich helfe Ihnen dabei, Frau Jacobs vor ein Gericht zu bringen.“
Jäh warf Carina ihren Kopf herum, die Linien ihrer Wangen wurden schärfer. „Pah! Das ist doch Geschwätz, es ist noch nicht vorbei!“, rief sie wütend. „Die Arzthure hier“, sie nahm die Pistole und zeigte damit auf Gesa Jacobs, „hat ihre gerechte Strafe noch nicht gekriegt.“
In mir ballte sich eine Faust. Carina war ein harter Brocken, ließ sich nicht so leicht umstimmen. Ich zog kontinuierlich an dem Kabel, das meine Handgelenke umschloss. Es weitete sich immer mehr. Der Höhenmesser zeigte tausendsiebenhundert Fuß, mit fallender Tendenz, der Zeiger des Steigmessers wanderte nach unten, die Luftgeschwindigkeit betrug hundertvierzig Knoten – Tendenz steigend. Das war keine optimale Fluglage, wenn ich mich recht erinnerte. Vielleicht war es Carinas Absicht, ihrem Leben ein Ende zu setzen und uns mit in die Tiefe zu reißen. Damit war ich nicht einverstanden, ich hatte ein Date mit Antje, und ich wollte nicht, dass sie sich Sorgen machte. Noch einmal konzentrierte ich mich auf die Armaturen, auf das Funkgerät und die Steuerung. Wenn Carina mich denn ließe, würde ich mir durchaus zutrauen, die Lenkung zu übernehmen ...
Ich bemühte mich weiter, Carina Lüske in ein Gespräch zu verwickeln. „Ist das Frau Jacobs? Was haben Sie vor, Carina? Sagen Sie es mir!“
Sie warf den Kopf in den Nacken, zog höhnisch ihre Oberlippe zurück. „Auf die Alte wartet die Seebestattung, und auf dich auch – das habe ich vor!“
Also kein erweiterter Suizid, Carina war die Einzige mit Rückflugticket. Die Faust in meiner Magengrube öffnete und ballte sich wieder, nun aber fester. Ich sah an der Rückenlehne vorbei, wie Frau Jacobs aus ihrer Ohnmacht erwachte. Sie bewegte ihren Kopf und als sie registrierte, wo sie sich befand, wiegte sie ihren schmalen Oberkörper nach vorn, als habe sie Bauchschmerzen. Jetzt sah ich, dass sie gefesselt und geknebelt war. Gesa Jacobs drehte sich mühsam nach rechts zum Fenster, blickte hinaus. Sie schrie in den Knebel hinein und begann mit hysterischem Schaukeln. Carina fasste die Pistole am Lauf und schlug dreimal brutal auf Frau Jacobs ein. Stöhnend sank sie in den Sitz zurück. Die Pilotin meinte es sehr ernst, mir wurde noch kälter, aber die Fesseln gaben mittlerweile nach.
Ich sagte: „Carina, ich kann verstehen, dass Sie ...“
Sie lachte auf. Es war ein hysterisches, unkontrolliertes Lachen, als sei sie verwirrt oder mit der Situation überfordert. Wahrscheinlich hatte sie sich das alles einfacher vorgestellt, ich hatte ihren Plan durchkreuzt – sie musste improvisieren, und das gehörte nicht zu ihren Stärken. Carina Lüske schrie gegen den Nachthimmel: „Was kannst du? Du verstehst gar nichts!“ Sie schaute wieder mich an. „Du hast nicht die geringste Ahnung, was ich durchmachen musste!“
Es gelang mir, eine Hand aus der Fessel zu ziehen und gleich darauf die zweite. Ich war fest entschlossen, direkt und unmittelbar loszuschlagen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, als gäbe es einen perfekten Augenblick, die perfekte Sekunde zwischen all den anderen Sekunden. Vorsichtig bewegte ich mich vor, hielt das Gespräch am Laufen, damit sie keinen Verdacht schöpfte. Ich sagte: „Sie haben recht, das weiß ich wirklich nicht! Ich habe ja mit Ihren Adoptiveltern gesprochen. Heute haben sie viel mehr Verständnis für Ihre Situation, als Sie glauben. Und Ihre wirkliche Mutter Julia möchte Sie liebend gern wiedersehen. Sie befand sich damals selbst in einer Notlage! Heute lebt sie unter neuem Namen in Schottland. Fragen Sie Bonno Cornelius, er hat ihr damals geholfen, außer Landes zu kommen.“
Sie blickte mich schweigend an. Für einen Moment glaubte ich, eine Mischung aus Melancholie und Mutlosigkeit in ihren Augen zu sehen, nach wenigen Sekunden veränderte sich ihr Blick, er wurde kalt. Sie schaute wieder nach vorn, behielt ihre Verletztheit für sich, als sei sie längst über alle Fragen hinweg, als sei alles Lüge, was ich von mir gab. Die Würfel waren gefallen, aber ich wusste nicht welche, bis Carina mich erneut anschaute. Es glitzerte gefährlich in ihren Augen, der Blick verhieß nichts Gutes. Dann ging alles sehr schnell. Ich reagierte instinktiv, als sie mit triumphierendem Blick die HK 9 auf mich richtete. Ich schlug gegen die Waffe, ein Schuss löste sich, das Neun-Millimeter-Projektil verschwand im Rücksitz, fünf Zentimeter neben meinem Oberarm. Ich bog Carinas Arm wie einen Hebel mit aller Kraft hinter den Sitz. Sie schrie auf, die Pistole polterte herunter, rutschte unter den Sitz. Mit der rechten Hand versetzte ich ihr einen Kantenschlag gegen den Hals und einen gezielten Faustschlag gegen die Kinnspitze. Carina zeigte keine Gegenwehr, sie war bewusstlos, rutschte den Sitz hinab und schob mit ihrem Knie eine schwarze Schieberstange in die Armatur. Das Flugzeug bekam Schub, die Nase stieg an und taumelte leicht. Die Trimmung musste nachjustiert werden, aber ich wusste nicht mehr richtig, wie man das machte. Ich beugte mich nach vorn, versuchte die Lenkung zu packen, aber Carina lag mir im Weg. Mit einer Hand griff ich nach dem Steuerknüppel, das langte aber nicht. Ich zwängte mich mit aller Kraft zwischen den Sitzen durch, drückte Carina zur Seite und zog die Schieberstange zurück. Die Maschine beruhigte sich, kam in die Waagerechte. Ich hielt das Steuer für ungefähr eine Minute fest und ließ es wieder los, um mich um Gesa Jacobs zu kümmern. Ich zog ihr den Knebel aus dem Mund und fühlte den Puls an der Halsschlagader – der war schwach, aber wenigstens vorhanden. Umständlich zerrte ich Carina auf Frau Jacobs Seite und kletterte auf den Pilotensitz. Die Maschine ging in den Sinkflug. Ich behielt sowohl den Höhenmesser als auch den Steigmesser im Blick, zog am Steuerknüppel, um ein Trudeln zu verhindern. Das reichte aber nicht aus. Ganz leicht schob ich die Schieberstange wieder nach vorn, um den Schub zu erhöhen. Als Nächstes vollzog ich eine leichte Rechtskurve, um zu testen, wie sich die Maschine verhielt – sie reagierte, wie ich es erwartete. Mit Blick auf den Fluglageanzeiger wendete ich die Cessna bei fünfundzwanzig Grad Querneigung, während ich das Absinken mit stetigem Zug am Steuerknüppel kompensierte. Zu Beginn der Drehung orientierte ich mich an der Position des Mondes, der allmählich hinter einer Wolkenwand verschwand, irgendwann entdeckte ich den Kurskreisel. Die Anzeige „180“ auf dem Display bestätigte mir die vollzogene Kehrtwendung nach Süden, zurück nach Norderney. Am linken Rand der Armatur leuchteten zwei Anzeigen sowohl für den rechten als auch für den linken Tank, beide befanden sich im roten Bereich, und das machte mir Sorgen. Vermutlich war Carina nicht mehr zum Tanken gekommen, als sie sich auch noch um mich kümmern musste. Ich sah aus meinem Fenster. Container von Wolken stapelten sich wie von einem Leck geschlagenen Frachter. Über der See kam Gewitter angerollt. Grollen und Wetterleuchten durch dunkle Massen, die in meinem Rücken aus Nord heraufzogen. Gesa Jacobs und Carina Lüske lagen einträchtig beieinander. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Vor vielen Jahren ließ ein Freund mich ans Ruder, um mich mit den Basics vertraut zu machen. Start und Landung waren exklusive – allenfalls als guter Beobachter.
Bei einer Höhe von zweitausend Fuß und der Geschwindigkeit von einhundertzehn Knoten versuchte ich mich am Funkgerät. Ich drückte Knöpfe, drehte an Reglern und betätigte die Kippschalter auf drei Ebenen rechts vom Altimeter. Den Kopfhörer mit integriertem Mikrofon schob ich mir über die Ohren und drückte die „Mic“-Taste, aber die Funkkiste war tot. Als Nächstes suchte ich in den Jackentaschen nach meinem Handy – es war nicht mehr da. Verdammt! Ich war auf mich allein gestellt. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Maschine zurückzufliegen und irgendwie runterzubringen. Ich schätzte die bisherige Flugzeit auf zwanzig Minuten, dasselbe also auch für den Rückflug. Unten das glänzend schwarze Meer, mit feinem Baumrindenmuster. Ein Anblick, der mich fühlen ließ, wie klein und unbedeutend wir sind auf der dünnen Erdkruste, zwischen Feuer und dem unendlichen All. Die Lichter der Insel waren noch nicht auszumachen, mit Ausnahme des Leuchtfeuers, und ich hoffte, dass es die richtige Insel war. Sie lag so still vor uns, dass wir uns genauso gut auf dem Grunde des Meeres hätten befinden können oder einsam und verloren im All – so in etwa mussten Jim Lovell und die Apollo-13-Crew empfunden haben, 1970 auf ihrer dramatischen Rückkehr zur Erde. Würde ich jetzt verschwinden, wüsste niemand, wo ich geblieben war, und nur wenige würden mich vermissen, mit Ausnahme des Finanzamts vielleicht. Antje wohl auch. Für einen Moment schloss ich die Augen, sah Antje vor mir, ihr Gesicht, ihr Lächeln, ihren Blick ...
Ich öffnete meine Augen, sah noch einmal zum Funkgerät. Jetzt erst entdeckte ich die Taste „Com“, die ich drückte. Das Gerät erwachte zum Leben, Frequenzen leuchteten auf, aber ich hatte nicht die blasseste Ahnung, welche die richtige war. Das Gerät war auf 121,50 Megahertz eingestellt. Ich sprach ins Mikrofon: „Hier ist Cessna ...“, ich nannte die Typenbezeichnung des Flugzeugs, „... eins sieben zwei im Anflug auf Norderney. Hört mich jemand?“ Ich konzentrierte mich auf vollständige Angaben für einen Notruf: „Mayday, Mayday, Mayday! Hier ist Cessna eins sieben zwei mit unerfahrenem Piloten im Anflug auf Norderney, aus Richtung Norden. Meine Flughöhe beträgt zweitausendeinhundert Fuß, Geschwindigkeit hundertzehn Knoten. Ich benötige Anweisung! Luftraum nördlich vor Norderney und über der Insel freihalten! Ich benötige Anweisung zur Landung!“
Atmosphärisches Rauschen, dabei blieb es. Ich wiederholte die Durchsage, keine Antwort. Ich wiederholte sie ein drittes Mal. Plötzlich: „Hallo, Cessna eins sieben zwei, hier ist die Flugleitung Bremen! Sie befinden sich im Anflug auf Norderney?“
„Roger! Das ist richtig!“, antwortete ich.
„Wie zum Teufel ...“ Er unterbrach sich. „Die Flugleitung auf Norderney ist um diese Zeit nicht besetzt!“
„Für eine kurzfristige Besetzung wäre ich Ihnen sehr dankbar! Wenn ich die Anzeige hier richtig deute, ist der Sprit bald aufgebraucht!“, gab ich zurück.
„Wie kommen Sie denn dazu, unter derartigen Bedingungen über der Nordsee zu kreisen? Ist das ein Scherz?“
„Kein Scherz – ich wurde entführt. Erklärung später!“
Der Fluglotse keuchte und sagte: „Um Himmels willen! Ich werde einen SAR-Einsatz veranlassen!“
„Machen Sie das! Bitte vergessen Sie nicht, mir jemanden ans Mikro zu holen, der mir Anweisungen zur Landung geben kann. In etwa zehn Minuten erreiche ich die Insel.“
„Das mache ich selbst! Wie viel beträgt Ihre Flug...?“ Ein Knistern. Die Kommunikation war abgebrochen.
Ich antwortete trotzdem, in der Hoffnung, dass Bremen mich hörte: „Meine Flughöhe beträgt zweitausendeinhundert Fuß, bei einhundertzehn Knoten!“
Das Rauschen hörte auf, dann wieder die Stimme: „Verstanden! Verringern Sie jetzt die Flughöhe auf eintausendachthundert Fuß. Wissen Sie, wie man das macht?“
„Ja, ich probiere das mal.“ Dabei schob ich das Steuerrad nach vorn, die Maschine sank, ich behielt den Höhenmesser im Blick. Zunächst bewegte sich der schmale Zeiger gegen den Uhrzeigersinn, der breite folgte sehr viel langsamer.
„Es funktioniert“, sagte ich.
„Gut! Drosseln Sie jetzt das Tempo auf fünfundachtzig Knoten, um das LL100 zu sparen, also, ich meine das AvGas, den Treibstoff.“
„Muss ich dazu an der roten Schieberstange ziehen?“
„Nein, die schwarze!“ Er machte eine kurze Pause und ergänzte: „Apropos, wie steht der rote Schieber?“
„Die Stange ist vollständig drin.“
„Dann hören Sie zu: Ziehen Sie die rote Stange so weit raus, bis der Motor etwas stottert, dann schieben Sie sie langsam wieder rein, bis der Motor wieder rundläuft. Dann fliegen Sie nicht mit der vollen Mischung. Kriegen Sie das hin?“
„Müsste gehen.“ Ich betätigte den roten Schieber, und auch an der schwarzen Stange zog ich gemäß der Anweisung, um Sprit zu sparen. Das bestätigte ich mit: „Beide Schieber korrigiert!“
„Hervorragend! Ich habe Sie übrigens auf meinem Radar, die Hilfsmannschaften sind unterwegs. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben, und bewahren Sie einen kühlen Kopf, dann sollte auch die Landung gelingen!“ Wenige Minuten später kam das nächste Kommando: „Flughöhe weiter verringern auf tausend Fuß. Achten Sie darauf, dass die Sinkrate nicht mehr als zweihundertfünfzig bis dreihundert Fuß pro Minute beträgt. Das sind auf dem Steigmesser zwei bis drei Striche unter null. Kennen Sie sich damit aus?“
Mit dem Blick zum Steigmesser antwortete ich: „Nur ungefähr. Aber es geht klar, bin im grünen Bereich.“
Ich schaute nach vorn durch die Scheibe. Vereinzelt waren Lichter auszumachen, der Hafen rechts oben etwas dunkler, in der Mitte die Häuser und Straßen der Stadt, der blinkende Leuchtturm links oben, und im Osten gab es kein künstliches Licht. Der friedliche Anblick von hier oben konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir uns in Lebensgefahr befanden, ein Szenario, das ich nie würde vergessen können. Jedes noch so kleine Detail prägte sich mir ein. Auf
dem Sozius regte sich Frau Jacobs, sie erwachte in
einem unpassenden Moment, aber es gab auch keinen passenden. Sie riss erschreckt die Augen auf, begann gellend zu schreien. Das ertrug ich ein paar Sekunden, dann redete ich ihr beruhigend zu. Gesa Jacobs’ Jammern wurde zu einem lang gezogenen Stöhnen. Ihr Gesicht hatte dunkle Flecken auf Schläfen
und Wangen, Carinas Schläge hatten ihr stark zugesetzt.
Im Kopfhörer wieder die blecherne Stimme: „Flughöhe auf ... Knoten ver...! Hören Sie mi...? Bitte ...stätigen!“
„Bitte Anweisungen wiederholen, die Verbindung ist schlecht!“
Ein Knistern, aber keine Antwort.
Frau Jacobs hielt sich die Hand vor den Mund, schaute abwechselnd von Carina zu mir und aus dem Fenster. Ihr dämmerte anscheinend, was inzwischen passiert war. Mit beiden Händen klammerte sie sich am Sitz fest.
Ich sagte, so vorsichtig ich konnte: „Frau Jacobs, können Sie zufällig ein Kleinflugzeug fliegen?“
Verstört schüttelte sie den Kopf. „Werden wir das hier überleben?“
„Wenn wir zusammenarbeiten, sehe ich gute Chancen“, antwortete ich mit fester Stimme und achtete auf die Sinkrate.
Auf einmal streckte sie ihre Hand aus, sie umfasste mein Handgelenk und stöhnte. Sie hatte Todesangst.
Eindringlich sagte ich: „Hören Sie, Frau Jacobs, wir sind jetzt ein Team, ich brauche Ihre Unterstützung! Machen Sie mit?“
Frau Jacobs nahm ihren Arm wieder zurück. Sie nickte stumm, ihr Gesicht spiegelte Entsetzen wider. „Aber ... aber ... was kann ich denn ... tun?“
Ich sprach laut, aber dennoch besonnen: „Im Moment helfen Sie mir am meisten, wenn Sie sich ruhig verhalten. Kriegen Sie das hin?“
Frau Jacobs nickte wieder. Das Licht der Armaturen spiegelte sich auf ihrer nassen Stirn, große Schweißtropfen hatten sich dort gebildet. Vor uns funkelten die Lichter der Insel wie ein Haufen Sterne, kollektiv vom Himmel gefallen mit dem Blinkfeuer als hellem Pulsar. Das Flugzeug ruckelte, es sackte plötzlich ab. Frau Jacobs stieß einen spitzen Schrei aus, hatte sich aber schnell wieder in der Gewalt. Der Motor fing an zu stottern, eine Warnleuchte erschien über der Füllanzeige für das AvGas. „Flugleitung Bremen, hier ist Cessna eins sieben zwei. Der Treibstoff ist aufgebraucht, der Motor stottert.“
Ein Knistern. „Verdammter Mi... Verflucht!“ Die Flugleitung kratzte den letzten Rest behördlicher Sachlichkeit zusammen. „Hören Sie, die Insel liegt direkt
vor Ihnen, gehen Sie weiter in den Sinkflug. Verringern Sie ... dabei ... ziehen Sie die Landekla...“
Ich hatte ungefähr verstanden. Der Motor spuckte ein paar Verpuffungen aus, die Funkverbindung brach ab, vermutlich weil die Flughöhe zu tief war. Wir befanden uns noch über der See, und vom Flugplatz war nichts zu sehen, dennoch bereitete ich mich auf die Landung vor. Die Chance, unmittelbar vor der Küste zu landen und damit zu überleben, stand jedenfalls besser, als geradewegs vom Himmel zu plumpsen. In kleinen Intervallen schob ich das Steuerrad in die Armatur. Das Flugzeug sank kontrolliert ab, der Motor erstarb gänzlich. Wir segelten nur noch, es ging rapide abwärts. Ich krallte mich am Steuerknüppel fest, die Maschine rüttelte, die Nordsee kam immer näher. Gelegentlich versuchte ich, die Maschine etwas hochzuziehen, sie in die Waagerechte zu bekommen, um einen steilen Aufprall zu verhindern. Knapp über dem Meer gelang es mir, die Cessna einigermaßen in die Waage zu bringen. Ich vollzog eine Neunzig-Grad-Wende nach links, um einen Crash auf den Strand oder die Promenade zu vermeiden. Frau Jacobs schrie wie eine Furie, und Carina gab erste Lebenszeichen von sich. „Nicht jetzt“, dachte ich nur, mein Herz schlug wie ein Schwergewichtsboxer, als wollte es den Brustkorb sprengen. Ich spürte das Adrenalin durch meinen Körper jagen. Auf einmal kam mir der graue Kippschalter in den Sinn, damals wurde der unmittelbar vor der Landung betätigt. Geistesgegenwärtig drückte ich den hinunter, die Landeklappen fuhren aus. Die Maschine bremste ab, bekam kurz Auftrieb. Dann war der Moment da, das Fahrwerk berührte die grafitfarbenen Wogen. Zunächst tauchten die Räder ein, als Nächstes das Gestänge. Die Bremswirkung schüttelte die Cessna durch. Wir drei schrien laut
auf – expressives Rudelsingen sozusagen. Die Wasseroberfläche bremste die Maschine hart ab, unser Tempo war zu hoch, wir kippten vornüber. Fast wäre es zu einem Überschlag gekommen, in letzter Sekunde kippte die Cessna zurück, sodass wir mit der Schnauze voran ins Wasser einsanken, bis zur Frontscheibe. Jeder hielt sich mit letzten Kräften irgendwo fest, die Erschöpfung zerrte an uns. Keuchendes Atmen und Stöhnen. Aus der Entfernung sah ich ein Schnellboot mit Suchscheinwerfern auf uns zukommen, über uns kreiste ein Helikopter und auf der Promenade zuckten die Blaulichter zweier oder dreier Fahrzeuge. Ich hatte das Gefühl, in einer Seifenblase zu stecken, die jeden Augenblick zerplatzen konnte. Die harten Konturen der Nordsee verschwammen in den Tränen, die sich in meinen Augen sammelten. Wütend ballte ich die Fäuste gegen diesen Irrsinn. Wir waren nur mit knapper Not dem Tod entkommen, und Norderney einer Katastrophe. Norderney – eine ganz eigene Welt. Es war jene Art von Welt, die nichts von all dem ahnte, was vor der Küste ein Ende gefunden hatte. Es waren die katastrophalen Auswirkungen falscher Entscheidungen, die hier vor rund dreißig Jahren ihren Anfang genommen hatten. Und es waren die zwanghafte Befriedigung eines Rachegefühls, ein Betäuben der Angst vor Lieblosigkeit und Einsamkeit und der Überlebenskampf, der schlagartig beginnt, wenn man erkennt, wie vergänglich man ist.
Ich schaute hinüber zu diesem Frostland, der Nordstrand lag direkt vor uns. Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ... ich wollte nicht daran denken.