Kapitel 28

Mit einem Becher heißen Tees in den Händen und einer Wolldecke um meine Schultern saß ich Deeken gegenüber, in einem Raum der Hafenverwaltung. Zwischen uns eine leere Tischplatte mit abgestoßenen Ecken auf Metallbeinen. Carina Lüske war in Gewahrsam genommen worden, nachdem sie und ich aus dem Flugzeug in den Seenotkreuzer Bernhard Gruben der DGzRS geklettert waren. Frau Jacobs wurde fast zeitgleich von den Rettern der SAR-Staffel aus der Cessna geborgen und mit dem Helikopter in eine Klinik geflogen. Deeken und ich saßen uns schweigend gegenüber, nachdem ich ihm ausführlich erzählt hatte, was seit unserem letzten Telefonat passiert war. Durch die angelehnte Tür hörte man die erleichterten Leute der Rettungsmannschaften über die Gänge gehen, Zeit für die Nachbesprechung, Zeit für lautes, befreiendes Lachen. Vor zehn Minuten hatte jemand heiße Getränke gebracht. Die letzten Formalitäten wurden abgehandelt, die letzten zuckenden Blaulichter waren abgeschaltet worden.

„Bist du zufrieden, Gerdes?“, wollte Deeken wissen, dabei sah er mich muffelig an.

Meine Lippen waren ganz trocken, trotz des Tees. Ich mochte nicht reden. Erst als sein nicht enden wollender, mürrischer Blick mich langweilte, antwortete ich: „Zufrieden wie ein Metzger unter Vegetariern. Auf diesen Höllenritt hätte ich gern verzichtet. Ansonsten lebe ich und bin unverletzt – damit kann ich zufrieden sein.“

„Und deine Reisegefährten auch. Was wollte der oder die Lüske denn da draußen? Nordlichter bewundern?“

„Carina Lüske wollte Frau Jacobs lebendig einer Seebestattung zuführen, weil Carinas Mutter offenbar das gleiche Martyrium erlitten hatte.“

„Offenbar?“

„Offenbar. Sie ging ins Wasser, aber ihre Leiche wurde nie gefunden.“ Ich hütete mich, ihm von Julia Heymanns zweiter Identität zu erzählen. Darauf hatte ich ihr mein Wort gegeben.

„Und du glaubst, dass der oder die Lüske hinter den Morden an Sander, Jacobs und Gronewold steckt?“

„Für mich gibt es keinen Zweifel, dass Carina Lüske die Morde begangen ...“

Deeken unterbrach mich schroff: „Gerdes, der Staatsanwalt will Beweise, keine Mutmaßungen!“

„Sobald ihr Carinas DNA identifiziert und mit eurer Spur verglichen habt, werdet ihr den Beweis haben. Außerdem halte ich sie für geständig. Indirekt hatte sie es mir gegenüber schon zugegeben.“

„Nun gut, schau’n wir mal. Sobald der medizinische Check durch ist, unterhalte ich mich mit ihm oder ihr. Das wird eine lange Nacht.“ Vaske kam rein, Deeken vollzog einen rasanten Themenwechsel: „Und du ... verlässt die Insel schon so bald ... schon morgen?“

Ich sagte: „Du scheinst es ja nicht erwarten zu können. Woran liegt’s? Planst du für morgen eine Pressekonferenz, auf der du mich nicht sehen willst?“

Deeken glotzte betreten. Er hatte recht, ich wollte die Insel bald verlassen, aber den genauen Zeitpunkt wollte ich nicht nennen, ohne ihn mit Antje abgesprochen zu haben.

„Ich werde abreisen, wenn mir danach ist, bis dahin mache ich einen Bogen um die Polizei. Du hast also freies Schussfeld.“ Und an Oberkommissar Ralf Vaske gerichtet: „Passen Sie gut auf sich auf, nicht dass Sie vor seine Flinte geraten.“

Vaske kam auf mich zu, ich stellte den Teebecher auf den Tisch und erhob mich vom Stuhl. Vaske gab mir die Hand, er sagte: „Machen Sie’s gut, Herr Gerdes. Ohne Ihren Tipp wären wir wohl nicht so weit gekommen. Der Reihentest hätte jedenfalls kein Ergebnis geliefert.“

„Na, na, na“, sagte Deeken. Er führte Daumen und Zeigefinger bis auf einen kleinen Spalt zusammen. „Wir waren so nah dran!“ Er grinste und kniff die Augen zusammen. Ich nahm die Decke von den Schultern und reichte sie Vaske. Es klopfte, Vaske rief „Herein!“, die Tür öffnete sich, Antje stand da mit besorgtem Gesicht. Ich sah sie nur an, sie aber starrte fassungslos in mein ramponiertes Gesicht.

Deeken feixte: „Kommen Sie herein! Ja, er ist es, auch wenn man es nicht sofort erkennt.“ Und an mich gerichtet: „Ich habe mir erlaubt, deiner kleinen Freundin Bescheid zu geben.“

Endlich mal etwas richtig gemacht, dachte ich, verkniff es mir aber. Antje kam auf mich zu, wir umarmten uns lang und fest. Mich überkam ein wohliges Gefühl, das ich lange vermisst hatte. Die warme Sehnsucht, das schneller schlagende Herz, das Ziehen in der Magengegend. Deeken erhob sich, er verließ mit Vaske den Raum. Antje begutachtete die blutunterlaufenen Partien in meinem Gesicht. „Oh, Frank. Was ist passiert? Deeken meinte, es ging um Leben und Tod“, sagte sie und lächelte sanft mit traurigen Augen.

„Ausnahmsweise übertreibt er einmal nicht.“ Ich sah mich kurz um. „Lass uns hier verschwinden. Unterwegs erzähle ich es dir.“