Kapitel 1

Sommer 1989

Zitrusgelbe Vorhänge hoben und senkten sich im Rhythmus der brandenden See. Sie gebaren gut durchmischte Luft, durch schmale Fenster gelangte sie in Julias Zimmer. Draußen verebbte langsam die Sommerglut der letzten Tage, doch hier unter dem Dach brüllte die Hitze noch immer backofengleich. Irgendjemand hatte den Ofen auf die höchste Stufe gestellt, den Knopf abgezogen und tief ins Riffgat gesteckt.

Julia Heymann zog einen Vorhang beiseite, sah hi­naus, kniff die Augen zusammen. Das Licht war grell, die Luft flirrte, tanzte in der Ferne. Ihr Blick sank hinunter bis in den Garten. Ein paar Gäste waren schon da, das Gelächter ihrer Mutter klang dann affektierter. Wieder ließ Mutter sich feiern – sich selbst und insgeheim ihren ... Beichtvater.

Julia zog den Vorhang wieder zu, durchquerte barfuß ihr Zimmer und öffnete die Tür für einen Luftzug – aber nicht mehr. Von unten drangen Musikfetzen sowie das penetrante Gelächter ihrer Mutter herauf. An der veränderten Stimmlage erkannte Julia, dass Pfarrer Martin Sander eingetroffen war. Alle himmelten ihn an. Sogar Mutter war geil auf ihn – das spürte sie. Nie durfte so etwas ausgesprochen werden, mit einem Knacks im Heiligenschein lebte es sich nicht gut. Julia war nicht verborgen geblieben, dass auch der Pfarrer ein Auge auf Mutters Hintern geworfen hatte, meistens sogar beide. Papa bekam davon nichts mit, der merkte sowieso gar nichts! Ma und Pa redeten kaum noch miteinander, aber die Fassade blieb gewahrt – vor Freunden, Verwandten und natürlich der Kirche. Regelmäßig schaute Mutter sich „Die Dornenvögel“ an, und jedes Mal heulte sie sich die Augen wund. Erst vor wenigen Wochen kaufte sie sich die Spezial-Video-Edition im Metallschuber, inklusive Begleitbuch und Stofftaschentüchern mit aufgesticktem Konterfei Pater Ralphs. Die alte VHS-Kassette war unbrauchbar geworden, war durchgenudelt. Und je länger Julia darüber nachdachte, desto mehr wurde ihr klar, dass es zwischen Pfarrer Martin Sander und diesem ätzenden TV-Pater Ralph tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit gab. Vermutlich wartete Mutter nur darauf, bei nächster Gelegenheit mit Sander durchzubrennen. Eine stille Sehnsucht, die sie womöglich mit anderen frustrierten Ehefrauen Norderneys teilte.

Julia wollte den Gästen heute nicht begegnen, auf keinen Fall. Der hektische Aufriss am Vormittag hatte das erforderliche Maß an Kooperation überschritten. Kuchen backen, Kaffee kochen, Tisch decken. Jetzt waren ihre Eltern an der Reihe, und auch heute würde es Mutter gelingen, die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Eigentlich sollte Vaters Beförderung zum Leiter des Ordnungsamtes gefeiert werden, doch Mutter war talentiert darin, solche Anlässe für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen.

Nach dem Mittagessen nahm Julia den dicken Brief vom Küchenschrank und meldete sich ab. Sie verschwand nach oben ins Zimmer, zog sich aus, streifte sich ein übergroßes Shirt über, warf sich aufs Bett und griff nach dem Kassettenrekorder. Kenos Kassette war endlich da, hoffentlich mit guten Nachrichten, er hatte das Band bereits an die richtige Stelle gespult. Julia öffnete den Schacht des Rekorders, schob die Kassette hinein, schloss die Klappe und drückte auf „Play“.

Zwei, drei Sekunden Stille, dann: „Liebste Julia ...“

Wie sehr hatte sie sich auf seine sanfte Stimme gefreut. Sie war auf der Kassette klar, unmittelbarer als am Telefon. Gerade jetzt, wo Julia sich wegen der Ereignisse der letzten Woche sehr ängstigte, benötigte sie seine Nähe umso dringender.

„... ich vermisse dich.“

Eigentlich wäre es Zeit für ein Telefonat gewesen. Der Vorteil der Kassettenaufnahme war: Sie konnte seine Worte immer wieder zurückspulen und sich alles noch einmal von vorne anhören. Sicher würde sie das heute tun.

„Ich kann es gar nicht erwarten, dich endlich wiederzusehen ...“

Dies war Julias Möglichkeit, ungestört mit Keno zu kommunizieren. Unten am Telefon stünde sie unter Beobachtung. Manchmal telefonierte sie von Fenja aus, aber vor Lauschern war sie auch dort nicht sicher – und sie wollte ihre Freundin nicht ständig mit ihrem Liebesleben nerven.

„Ich muss dir unbedingt erzählen, was ich in den letzten zwei Wochen erlebt habe ...“

Apropos, auch Julia selbst hatte so etwas wie Dornenvögel erlebt, mit der Betonung auf Dornen. Jan Gronewold, Sohn des Chefs, war ihr bei der Abschlussparty dermaßen an die Wäsche gegangen, dass sie ihm eine geknallt hatte. Jan, drei Jahre älter als sie, hatte auf der Schulparty nichts verloren. Er war nicht mal eingeladen gewesen. Das war ihm scheißegal, er machte Jagd auf sie. Jeder Norderneyer wusste das, es sorgte schließlich für Gesprächsstoff, trotzdem hielt niemand zu ihr – außer Fenja vielleicht.

„... da meinte der Kollege ...“

Julia war bei Keno nur mit einem Ohr, mit ihren Gedanken war sie bei Jan Gronewold. Der Typ machte ihr Angst. „Pass auf, Schlampe“, hatte er ihr zugezischt, als er sich ihr draußen breitbeinig in den Weg gestellt hatte. „Meinst wohl, du kannst mir entwisch’n, hä?“ Er streckte ihr den Mittelfinger entgegen. „Uns Gronewolds gehört hier die ganze Insel, vielleicht kapierst du’s nicht ... du Nutte gehörst mir!“ Auf einmal griff er ihr zwischen die Beine, mit der anderen Hand bohrte er ihr einen Finger in den Mund, reflexartig biss sie zu, er boxte
ihr dafür in den Bauch. Wenn sie jetzt daran dachte, kroch der Schmerz wieder hoch, es war ihr kaum möglich, sich auf Kenos Worte zu konzentrieren. Vielleicht sollte sie das Band zurückspulen und von vorn beginnen ...

„... ist es nicht toll, dass die Firma mich übernehmen will?“

Kenos Stimme gab Julia ein gutes Gefühl, so etwas wie Trost. Er war so ganz anders als der Drecksack Jan, dachte sie. In ein paar Wochen würde sie Keno wiedersehen, und in zwei Jahren war für sie beide Abschlussprüfung. Julia war dann volljährig. Sie würde zu Keno aufs Festland ziehen, auch wenn Mutter das nicht akzeptierte.

Nach dem Ende der Sprachaufnahme spulte Julia das Band zurück, startete es erneut. Dieses Mal konzentrierte sie sich ganz auf Kenos positive Worte. Von Jan Gronewold, dem Arsch, sollte er nichts erfahren, sie wollte ihn nicht damit belasten. Julia wollte das mit sich ausmachen ...

Nach dem zweiten Durchlauf ließ sie sich durch den Kopf gehen, was sie Keno alles sagen wollte. Dann drückte Julia die Tasten „Rec“ und „Play“, wartete zwei Sekunden und legte los.

Vom Erdgeschoss drangen die Bassläufe und Akkorde des Songs „Good Times“ durch den Türspalt, und mit ihnen das Knarren der Stufen ...