Kapitel 4

16. Januar 2018

Mit versteinerter Miene legte Gesa Jacobs ihrem Mann Menno den Telefonhörer in die Hand, den er nur widerwillig ergriff. Träge führte er ihn zum Ohr, als wäre er so schwer wie eine Hantel. Mit der anderen Hand beförderte er das Lifestyle-Magazin Sport­cars & Watches auf den gläsernen Wohnzimmertisch und schaute auf seine Armbanduhr, es war einundzwanzig Uhr fünf. „Hier Doktor Jacobs“, sagte er in den Hörer.

Eine dünne, krächzende Stimme antwortete zögerlich: „Doktor Jacobs, guten Abend! Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich ... habe Ihre Nummer vom Vorsitzenden des Seglervereins.“

„Nun, gut. Was gibt es denn?“ Es war ihm zuwider, wenn man nicht zur Sache kam.

„Ich möchte Sie bitten, zum Jachthafen zu kommen. Beim Transport eines Flügels für die Offshore-Windkraftanlage ist es zu einem ... Missgeschick gekommen. Leider wurde dabei Ihre Jacht, die Ney-Cruiser, beschädigt. Sie steht doch auf dem Gelände hinter der Halle A? Die Jacht ist zwar abgedeckt, aber ...“

Um Himmels willen, dachte Menno Jacobs, erst der verheerende Brand in der Bootshalle und jetzt das. Die aufsteigende Verärgerung verschlug ihm fast die Sprache. Er räusperte sich und sagte: „Ja, das ist ... meine Jacht. Was genau ist denn passiert, wie groß ist der Schaden?“

„Es wäre gut, wenn Sie gleich kommen könnten, um sich das mal anzusehen. Alles Weitere können wir gern hier besprechen.“

Dr. Jacobs ließ seinen Blick über die helle Wohnzimmereinrichtung im Landhausstil mit diversen Tisch- und Stehlampen sowie den hochwertigen Gemälden von Poppe Folkerts schweifen. Dieser heimeligen Atmosphäre mochte er sich heute Abend kaum mehr entziehen. Zudem peinigten ihn erneut Rückenschmerzen auf eine Weise, die seinen verdienten Ruhestand seit Wochen vergiftete, ganz zu schweigen von den dunklen Schatten der Vergangenheit, die ihm des Nachts kaum mehr Ruhe gönnten.

Er sah zum Fenster. Jetzt noch raus in die Dunkelheit?, fragte er sich. Seine Augen spielten im Dunkeln nicht mehr so gut mit. Dem Kapital, der Jacht und dem Verein zuliebe wollte er das Risiko, im Dunkeln zu fahren, doch eingehen. „Na schön“, gab er der Bitte des Anrufers nach, „bin unterwegs. In etwa fünfzehn Minuten bin ich bei Ihnen.“ Er legte auf und bereute es dann doch, zugesagt zu haben.

Dr. Menno Jacobs informierte seine Frau über den Inhalt des Telefonats, nahm Jacke und Autoschlüssel, ging zur Garage hinüber, stieg in den silberfarbenen Mercedes SL Coupé und startete. Die Fahrt ging ein kurzes Stück über freies Gelände, dann links auf den Karl-Rieger-Weg. Ab Höhe Birkenweg setzte sich ein dunkler SUV hinter Dr. Jacobs, der ihm auch auf der Richthofenstraße folgte. Erst als er die letzte Kurve hi­nunter zum Hafen nahm, wuchs seine Skepsis. Dr. Jacobs trat die Kupplung, schaltete runter in den zweiten Gang und bog scharf links in den Jachthafen ein. Der Verfolger erhöhte kurz das Tempo, folgte im halben Meter Abstand. Dr. Jacobs bremste ab, der Verfolger fuhr so dicht auf, dass es eigentlich hätte knallen müssen – aber der Knall blieb aus. Im Schritttempo ging es am Hafenbecken entlang. Links in einer Reihe das Hafenamt, ein Getränkeshop und die Seenotretter, Gebäude allesamt unbeleuchtet. Keine Menschenseele, nicht der geringste Hinweis auf ein Windkraftanlagen-Desaster – nichts! Was sollte das? Wer steckt hinter dem Anruf? Vielleicht sollte ich jetzt besser umkehren, dachte er, als das Fernlicht des SUV hinter ihm in kurzen, unregelmäßigen Intervallen aufflackerte. Dr. Jacobs stoppte seinen Mercedes. Im Rückspiegel sah er, wie die Fahrertür des SUV geöffnet wurde. Eine dunkle Vorahnung ließ ihn wie gelähmt dasitzen. Die Geister der Vergangenheit waren zurück, und sie würden sich wohl nicht mehr vertreiben lassen ...

Eine vermummte Gestalt entstieg dem dunklen Wagen, sie ging zwischen den beiden Fahrzeugen hindurch, um das silberne Coupé herum bis zur Beifahrertür. Sie wurde geöffnet. Der Unbekannte setzte sich neben Dr. Jacobs auf den freien Sitz. Der Doktor protestierte nicht, er schloss die Augen, atmete schnell und schwer. Noch ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, hatte ihm der Unbekannte die rechte Hand mit einem Kabelbinder ans Lenkrad fixiert. Der Schlüssel wurde blitzschnell abgezogen, das Lenkrad nach rechts eingerastet, der Gang herausgenommen.

Der Vermummte stieg aus und beugte sich noch einmal halb zu Dr. Jacobs herab: „Du hast es verdient – Arschloch!“

Die Tür flog zu, der Unbekannte ging zurück, stieg wieder in den SUV. Der setzte sich wieder in Bewegung, dockte an, schob das Mercedes-Coupé langsam, aber stetig in Richtung Hafenbecken. Dr. Menno Jacobs erkannte, dass es keinen Sinn hatte, weiter vor seiner Verantwortung zu fliehen. Die Schatten der Vergangenheit hatten ihn endgültig eingeholt. Dies war sein Ende und er würde es hinnehmen müssen. Wie würdelos. Und was ist mit Gesa, mit den Kindern und den Enkeln? Und was ist mit Sabine? Sie alle wollen, dass ich lebe! Sie ... brauchen mich!, kam ihm in den Sinn. Mit letzter Kraft ein Aufbäumen: Er trat auf die Bremse, öffnete die Fahrertür, die aber von einer Dalbe, die linksseitig am Wagen entlangschrammte, wieder zugedrückt wurde. Mit der linken Hand ein Übergreifen zur Handbremse, er zog, doch zu spät. Das erste Drittel des Mercedes hing über der Spundwand. Das schiebende Fahrzeug stoppte, setzte zurück, nahm Anlauf und rammte das Coupé mit voller Wucht, Glas splitterte. Dr. Jacobs schrie panisch, sein Wagen hüpfte vorwärts, rutschte ein Stück weit auf dem Bodenblech, bis er nach einem kurzen Wippen ins Hafenbecken kippte und versank.