Kapitel 5
Februar 2018
Die Luft war feucht und kalt. Über der Fähre hing die Wolkendecke wie ein fahles Tuch, bald würde sie aufreißen. Für Norddeutschland sollte es Frost geben, so war die Ansage. Es war Viertel nach zwölf. Auf der Frisia III tummelten sich ein paar Touristen, hochmotivierte Geschäftsleute, unmotivierte Arbeiter und das Fährenpersonal mit freundlichen Gesichtern. Wir alle wurden mitgezogen durch das anfänglich enge Siel, hinaus auf die offene See, wo Wogen uns huckepack nahmen. Tief im Bauch der Fähre dröhnte ein Dieselmotor, er erzeugte wohliges Vibrieren. Eine Etage darüber und auf dem Zwischendeck gab es Kaffee, belegte Brötchen und Würstchen mit Fensterblick. Auf dem Oberdeck standen Fahrzeuge und ein paar Frischluftfanatiker. Über mir die Brücke, ein gläserner Verschlag für die Captain’s Crew. Der kühle Wind wirbelte meine Haare durcheinander, ich zog den Schal enger, knüpfte den obersten Knopf meiner schwarzen Cabanjacke zu und stellte den Kragen hoch. Der Blick über die Nordsee war fantastisch, ich hatte ihn über die Jahre ganz vergessen. Mein letzter Norderneybesuch lag fast achtunddreißig Jahre zurück, damals noch mit meinen Eltern, nur wenige Jahre vor ihrem Verkehrsunfall, der beiden das Leben entriss. Es war eine dunkle Zeit damals, ich vermisste meine Eltern unsagbar. Der Inseltrip nun gab mir das Gefühl, auf eine ganz besondere Art wieder mit ihnen verbunden zu sein.
Beim Anblick der Weite und des Horizonts spürte ich ein schmales Band, das uns Menschen mit einer wie auch immer gearteten Ewigkeit verbindet. Eines jener Phänomene, das sich vielleicht tief in unser kollektives Unterbewusstsein gegraben hat, und ich fragte mich, ob es den täglichen Pendlern auf der Fähre auch noch so erging.
Der Wind brandete in Böen auf, weiße Gischtkämme schäumten direkt am Schiffsrumpf entlang. Mein Blick ruhte mal auf der Gischt, dann wieder hoch oben bei den Möwen, die der Fähre kreischend folgten. Ich schaute ein Stück weit entfernt aufs Wasser. Dort gab es glatte, lange und gleichmäßige Wogen ohne Schaumkronen. Senken und Heben hatten genau die richtige Balance, dass einem nicht übel wurde. Ich schaute zum Horizont in Richtung Norderney. Die Insel war als dunstiger Strich auszumachen. Eine separate Welt, ähnlich einer sich selbst organisierenden Zelle, darauf abgestimmt, sowohl Einkommen als auch Erholung zu generieren. Tourismus ist der Kleber, der beide Interessen zusammenhält – und gleichwohl vor Probleme stellt ...
Februar war vielleicht nicht der aufregendste Monat, um eine Insel des Nordens zu besuchen. Februar ist ein grauer Monat, ähnlich dem November. Aber beide haben so etwas wie Erwartungen im Gepäck, zumindest in touristischer Hinsicht: der November die Advents- und Weihnachtszeit, der Februar Flüchtlinge aus Karnevalshochburgen. Was würde mich erwarten? In Hamburg las ich von den Kapitalverbrechen an einem katholischen Geistlichen der Kirchengemeinde Norderney und dem ehemaligen Chefarzt einer Norderneyer Klinik. Das blieb haften, denn ich war ja vom Fach, wie man so sagt. Studiert hatte ich am Kriminalwissenschaftlichen Institut in Hamburg, dann der Wechsel in die Fakultät für Rechtswissenschaften, Schwerpunkt Ökonomie. Mit dem Diplom zum Wirtschaftsjuristen in der Tasche setzte ich alles auf eine Karte und eröffnete eine Detektei für Wirtschaftskriminalität, mietete ein Büro in der Speicherstadt an, später noch eines in Wilhelmshaven. Der Terminkalender war von Anfang an voll, wenngleich unausgewogen, denn freie Zeit gab es kaum noch, und das brachte unsere Ehe zum Stillstand. Es war die klassische Ehefalle, der Susanne und ich auf den Leim gegangen waren. Wir hatten uns immer weniger zu sagen, jeder lebte sein Leben, es gab keine gemeinsamen Unternehmungen, keine gemeinsamen Inhalte mehr. Bevor uns das richtig klar wurde, überschlugen sich die Ereignisse. Ich wurde von meiner verschütteten Vergangenheit eingeholt, kam ohne psychologische Hilfe nicht mehr auf die Beine. Der erfolgsverwöhnte Privatermittler Frank Gerdes war unten, ganz unten. Es war eine wertvolle Erfahrung, denn ich begann zu ahnen, worauf es im Leben ankommt.
Der Himmel wölbte sich hell schimmernd über der See wie Perlmutt. Die Sonne zeichnete sich als weißer Fleck hinter silbrigen Wolken ab, gleich wollte sie durchbrechen. Ich zog die kleine Flasche Coke Zero aus der Tasche und nahm einen Schluck. Ich dachte zurück an das Wiedersehen mit meiner Jugendfreundin Antje nach fünfundzwanzig Jahren. Antje Meiners unterstützte mich nach Kräften bei meinen Ermittlungen vor vier Jahren in der Südoldenburg-Region. Und sie war es auch, die mir half, mich meiner Vergangenheit zu stellen, wenngleich am Ende alles erlosch, was zwischen uns neu entflammt war. Seitdem gingen wir wieder getrennte Wege, bis
vor vierzehn Tagen, als mich ihre Mail erreichte. Es war ein knapper, aber dringlicher Text. Was mich verwunderte, war, dass sie sich von Norderney aus gemeldet hatte. Gehörte Antje doch für mich zu jenen Menschen, die ihre Heimat nie verlassen würden, aber so ist das nun mal mit den Annahmen. Antjes Privatleben war wegen der schwierigen Pflegesituation der Mutter einige Jahre auf der Strecke geblieben, womöglich hatte sich das nach dem Tod ihrer Mutter vor vier Jahren geändert.
Ich war Antjes Bitte, auf die Insel zu kommen, gern gefolgt. Genau genommen war es nicht Antje, die meine Hilfe benötigte, vielmehr ihre Kollegin und Freundin Sabine Bakker. Frau Bakker war die inoffizielle Geliebte des getöteten Chefarztes, der vor einem Monat ans Lenkrad gefesselt mit seinem Wagen im Hafenbecken versenkt wurde und dabei ums Leben kam. Offenbar war die Polizei bei ihren Ermittlungen kaum vorangekommen. Bereits einen Monat vorher fand man den erstochenen Leichnam eines beliebten Pfarrers kopfüber in seiner Kirche baumelnd. Und auch hier habe die Polizei keine nennenswerten Ergebnisse vorweisen können, schrieb Antje. Sabine Bakker konnte nicht länger nichts tun. Auf Antjes Empfehlung hin wollte sie mich beauftragen, in Bezug auf den ermordeten Chefarzt private Ermittlungen anzustellen.
Das Silbergrau der See lag in Verhandlungen mit dem Himmel, als Ergebnis bekam das Wolkentuch Risse, die Sonne fiel in schmalen Streifen auf das Wasser und auf eine kleine Sandbank, die an ihren Rändern mit Seehunden bevölkert war. Ein einsames Segelboot steuerte um die Westspitze der Insel, es kreuzte in weiter Entfernung unseren Fahrweg.
Wenn ich an Norderney dachte, musste ich auch an Nele Hansen denken, eine gute Freundin aus Studientagen, die später im Innendienst für die Direktion Polizeikommissariat Hamburg-Bergedorf arbeitete. Wir waren drei Monate ein Paar, es war eine On-off-Beziehung, ziemlich kompliziert, und ich war erleichtert, als es vorüber war. Unmittelbar darauf lernte ich Susanne kennen. Soviel ich wusste, war Nele der Liebe wegen nach Norderney gezogen. Für den Fall, dass wir uns auf der Insel begegnen sollten, würde ich sie vielleicht nicht einmal wiedererkennen. An ihr Gesicht konnte ich mich nur noch schemenhaft erinnern, es gab nicht mal mehr Fotos aus der Zeit. Geblieben war eine kurze, aufflackernde Hitze, die sich tiefrot in mir ausbreitete, wenn ich an sie dachte.
Wir erreichten die Insel nach einer Stunde Fahrt. Wie eine schüchterne Geliebte schipperte die Frisia III in weitem Bogen auf den Anleger zu, bereit für den Inselkuss. Ein futuristisch anmutendes Terminal empfing uns, der Anleger hatte sich herausgeputzt. Wir legten an. Zwei Fährleute mit gelben Westen positionierten sich am Ausgangsschott, einer warf das Tauende über die Dalbe, fuhr die Fußgängerbrücke aus, der andere gab Zeichen zum Aussteigen. Die Passagiere gingen rasch die Gangway hinauf, ich folgte den anderen ins Empfangsgebäude.
Antje stand am anderen Ende der Wartehalle, in der Nähe des Ausgangs. Als sie mich sah, sandte sie mir ein Lächeln per Eilboten. Wir begrüßten uns als alte Freunde. Sie küsste mich leicht auf die Wange und wir umarmten uns, dabei strich sie mir mit beiden Armen über den Rücken. Ich genoss es und es versagten alle Worte. Wir schauten uns in die Augen. Sie hatte sich kaum verändert. Antje gehörte zu den Frauen mit zeitloser Schönheit, nicht der Kleidung, sondern der Ausstrahlung wegen. Mittelgroß und schlank, schulterlanges, braunes Haar, mit vereinzelt grauen Fäden. Der sorgenvolle Zug um ihren Mund, den ich vor vier Jahren noch bei ihr ausmachte, war gänzlich verschwunden. Antjes Mandelaugen strahlten, und dieses Strahlen war nicht aufgesetzt, es kam tief aus ihrem Inneren.
„He!“, grüßte ich sie mit dem Norderneyer Gruß.
„He!“, gab Antje zurück. Sie umfasste meine Hände, drückte sie kurz. „Frank, es ist so schön, dich hier zu haben!“ Sie seufzte tief. „Danke, dass du es einrichten konntest!“ Bei diesen Worten löste sie eine Hand, führte eine meiner langen, dunkelblonden Haarsträhnen hinters Ohr, auf dem Rückweg strich sie mir mit der flachen Hand über die stoppelige Wange. Eine ihrer liebenswerten Gesten, die ich vermisste hatte.
Ich sagte: „Ich hatte sowieso etwas Luftveränderung nötig, Antje. Deine Anfrage kam wirklich nicht ungelegen.“ Antje trug einen anthrazitfarbenen Dufflecoat, darunter Bluejeans und weinrote Stiefel. Sie hatte noch immer keinen Ring am Finger. Ich lächelte sie offen an. „Es ist schön, dich wiederzusehen, Antje. Du siehst sehr gut aus.“
Hinter ihren sinnlich geschwungenen Lippen wurde eine Reihe makelloser Zähne sichtbar. Sie lächelte, und die Milchstraße sanfter Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken kräuselte sich leicht. „Danke, du Schmeichler. Es geht mir wirklich gut, aber es hat sich so vieles verändert ...“ Ihre Augen schienen nach etwas zu suchen, sie blieben an meinen Lippen hängen. „Nach unserem plötzlichen und harten Abschied vor vier Jahren sah es so aus, als ... würden wir uns nie wiedersehen, Frank.“
Ich wusste nicht recht darauf zu antworten, ich versuchte es: „Wenn ich mich recht erinnere, ... war
ich ... völlig außerstande, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Ich war ... gefangen in dem Trauma, das mich eingeholt hatte. Lass uns jetzt nicht darüber reden, Antje.“
Sie nickte, sagte nichts mehr dazu. Wir lösten uns, und Antje sah mich von oben bis unten an. „Hey, du trägst ja deine Schimanski-Jacke nicht mehr ...“ Sie unterbrach sich abrupt, ihre Wangen bekamen Farbe, schnell schob sie nach: „Ach was, das war dumm von mir, bitte entschuldige.“ Ich wollte auch dazu nichts erwidern. Es war ihr bewusst geworden, dass unser letzter gemeinsamer Fall gewissermaßen mit meiner hellen US-Feldjacke in Verbindung stand, die hinlänglich auch als „Schimanski-Jacke“ bekannt ist. Aber seit meinem Zusammenbruch trug ich konsequent schwarze Kleidung.
Ich nahm meinen Trolley, wir traten aus dem Terminal hinaus ins Freie. Der Himmel war komplett verhangen. Auf dem Parkplatz verteilten sich die Ankömmlinge auf Busse, Taxis, und ein paar Leute machten sich zu Fuß auf den Weg. Links, direkt am Empfangsgebäude, hielt eine rüstige Rentnergang eine Bank besetzt, den ganzen Rummel beobachtend, als hätte sie ihr komplettes Leben auf diese Weise verbracht. Käme man in zehn Jahren wieder, würden dieselben Herrschaften wohl noch immer hier sitzen und beobachten.
Meinen Koffer übergab ich einem Taxifahrer, für den Transport zum Hotel am Denkmal. Antje und ich setzten unseren Weg zu Fuß fort, sie hakte ihren Arm unter meinen. Rechts hinter den geparkten Fahrzeugen gab eine neue Sichtachse den Blick hinunter zum Jachthafen frei, wo sich Möwen gegen den grauweißen Himmel warfen und wieder hinabsegelten. Es roch nach Tang und Salz. Auf unserem Weg in die City sprachen wir über Belangloses. Antjes Unruhe verriet mir, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Ich schaute sie demonstrativ von der Seite an, ihr Blick war stur nach vorn gerichtet. Unvermittelt blieb sie stehen und sagte mit einer Stimme, die mir fremd war: „Frank, damit ich es besser verstehe, muss ich das ansprechen: Vor vier Jahren wolltest du zu deiner Susanne zurück, das war mir klar. Und mit dem Schock, dass du selbst in den Mordfall verwickelt warst, musstest du erst mal fertigwerden.“
Ich nickte. „Das ist wahr, mein Leben hatte sich mit einem Schlag verändert. Ich wusste nicht, ob ich meinen Beruf weiter ausüben konnte, und meine Ehe wurde mit dieser neuen Belastung erneut auf die Probe gestellt. Alles stand mit einem Mal zur Disposition, sämtliche Planungen und Vorsätze zerplatzten wie Seifenblasen, und nichts war mehr wichtig“, sagte ich mit belegter Stimme.
Antje sah mit hochgezogenen Augenbrauen zuerst mich an, dann wieder nach vorn. Nach ein paar Sekunden des Schweigens senkte sie das Kinn, funkelte mich kurz an, blickte wieder geradeaus und fragte: „Und ich war eine dieser Seifenblasen, die nicht mehr wichtig war für dich?“
„Was meinst du?“, fragte ich vorsichtig.
Antje sah mir direkt in die Augen. „Kam ich in deiner Zukunft gar nicht mehr vor? War ich für dich abgeschrieben?“, fragte sie mit bebender Stimme.
„Es tut mir leid, ich ... ich kann es nicht anders beschreiben: Es gab gar nichts, was mir noch etwas bedeutet hätte, und das war nicht gesund. Ich weiß es. Und es wäre jetzt falsch, den damaligen Zustand nach heutigen Kriterien beurteilen zu wollen. Ich ...“
Sie unterbrach mich, und ich spürte, wie sie einem angestauten Druck nachgab, der sich über zu lange Zeit aufgebaut haben musste. „Ganze vier Jahre lang gab es keinen einzigen Gedanken an mich?“ Ihre Augen wurden feucht, und das lag nicht an der kalten Luft.
Ich hob eine Hand flach an, wie um das Gesagte zu unterstreichen. „Antje, alles hing am seidenen Faden ... Ja, ich gebe zu, es gab keinen Platz für dich, weil ich alle Mühe hatte, mein Leben und meine Ehe wieder auf die Kette zu kriegen.“
Sie nickte entschieden, als wollte sie mir ein genau das habe ich mir gedacht! entgegenschleudern. Ihr Blick ließ mich sofort los, der Winter strich mit kaltem Finger über ihre Stirn und hinterließ eine frostige Stimmung. Eine ganze Weile gingen wir schweigend nebeneinander her, dann taute es. Antje sagte: „Ich kann es mir heute noch nicht verzeihen, dass ich dich einfach so wegfahren ließ.“ Hinter ihren Augen lauerten Tränen, aber sie fügte fest hinzu: „Du warst in einem labilen Zustand, es hätte wer weiß was passieren können.“
Wir blieben kurz stehen, stellten uns voreinander hin, ein paar endlose Sekunden sahen wir uns an. Ich flüsterte fast: „Antje, es war gut, dass du die Kraft hattest, mich gehen zu lassen. Ich hatte Susanne erzählt, was sich ereignet hatte, gleich darauf habe ich mich bis in die letzte Konsequenz meiner Vergangenheit gestellt. Und Susanne stand mir in allem bei, sie hat mich durch Untiefen begleitet. Erst die Selbstanzeige, dann die Psychotherapie – das alles brauchte seine Zeit.“
Wir drehten uns wieder auseinander und setzten unseren Weg fort. Langsam, als wäre eine Krise überstanden, besserte sich Antjes Laune. „Das habe ich alles nicht gewusst, weil du dich mit keinem Wort gemeldet hast. Es kostete mich ungeheure Überwindung, dir überhaupt zu schreiben.“ Es klang wie ein Vorwurf, ich hoffte aber, dass es keiner war. Mittlerweile erreichten wir die Bülowallee. Antje lud mich ins Tide zum Essen ein. Sie hatte einen Tisch reservieren lassen, wir wurden an unseren Platz geführt. Es war ein modernes Ambienterestaurant mit Panoramafenstern, hellem Parkett, Sonnenterrasse und Showküche. Die Musik aus der unsichtbaren Anlage war leise und einschmeichelnd, wir kamen zur Ruhe. Der Kellner kam angeschwebt, nahm die Bestellung auf und legte sich ins Zeug. Für mich gab es nach der Cremesuppe mit Seeluftschinken einen Seesaibling mit Safransoße, für Antje Entenbrust auf Preiselbeerjus mit frischen Beilagen und einen trockenen Chardonnay für uns beide. Es schmeckte herrlich. Dann sprachen wir über die alten Zeiten, ganz besonders über jene Abschnitte, die wir beide als „nett“ in Erinnerung hatten. Nach dem Dessert, dem Pistazien-Mandelparfait an warmen Waldbeeren, fragte ich: „Weißt du noch unser letztes gemeinsames Essen?“
Antje antwortete mit einer Gegenfrage: „Du meinst doch nicht die Pizza, oben in deinem Loft?“
„Nein, es war dieses Restaurant ...“, ich schnipste mit den Fingern, „ich glaube, Agrarlobby hieß es.“
„Du meinst das ,Agora‘“, korrigierte sie mich. „Ich erinnere mich sehr gut. Der Wein war staubtrocken und die Stimmung zwischen uns war auf Grundeis. Ein paar Grad kühler, und man hätte uns als Trockeneis abfüllen können.“
„Und der Kellner brachte uns die Rechnung auf einer Warmhalteplatte“, schob ich nach.
„Nachdem er die Eiskarte vor uns versteckt hatte!“, ergänzte Antje.
Wir lachten. Es war ein erleichterndes Lachen. Es
war jenes Lachen, das man gern lacht, um Belastendes zu vergessen. Es wollte nicht recht gelingen, nach ein paar Schlenkern kamen wir zu unserem Thema zurück.
„Frank, du sprachst vorhin von einer Selbstanzeige. Was wurde daraus?“, wollte Antje wissen.
Ich nahm einen Schluck aus dem Weinglas und sagte: „Die Selbstanzeige ... sie kostete mich viel Überwindung. Schließlich stand meine berufliche Existenz auf dem Spiel. Aber dann kam alles ganz anders: Das Verfahren wurde nach § 153 Absatz 1 der Strafprozessordnung eingestellt, weil schon während des Ermittlungsverfahrens glaubhaft dargelegt werden konnte, dass ich zur Tatzeit aufgrund des Schocks nicht im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte war. Zudem hatte ich mich, nachdem mir das bewusst geworden war, unverzüglich gestellt. Es lag keine Tötungsabsicht vor und es bestand nicht die Gefahr einer Wiederholungstat. So etwas wird als Erstverstoß im Bereich geringer Schuld behandelt, es gab auch keine Nebenkläger.“
Eine Denkerfalte erschien auf Antjes Stirn. „Du bist damit aber nicht wirklich zufrieden, wenn ich deinen Tonfall richtig deute?“
Ich nickte zustimmend. „Darum die Therapie. Ich weiß jetzt, dass ich mir nichts mehr vorzuwerfen brauche, und ich habe gelernt, mit diesem dunklen Kapitel in meiner Biografie umzugehen. Die Vergangenheit lässt sich nicht korrigieren, aber sie lässt sich aufarbeiten. Das ist ein Prozess, der noch anhält.“
Während des Gesprächs gelang es, unsere Beweggründe verständlich zu machen, ohne uns gegenseitig anzuklagen. Die Stimmung wurde zusehends lockerer, die Lacher waren deutlich in der Überzahl, wir ernteten entrüstete Blicke. Genau wie beim letzten Mal erkundigte sich Antje nicht nach dem Status meiner Ehe. Sie war sich in ihrer zurückhaltenden Art treu geblieben. Aber sie erkundigte sich nach meinem Job – nach der Auftragslage, nach der Aufklärungsquote. „Was ich schon immer mal wissen wollte: Wie macht man das als privater Ermittler, wie kommst du an deine Informanten, wie kriegst du die Leute dazu, sich dir gegenüber zu öffnen?“
Nicht undankbar für dieses Thema, begann ich zu erzählen: „Es ist ein Unterschied, ob ich professionell in Wirtschaftsangelegenheiten unterwegs bin oder als privater Ermittler. Professionell warte ich mit verifizierbaren Fakten auf, die im Grunde nicht widerlegt werden können. Es gibt da keinen großen Spielraum, die Beweislage spricht für sich. Oft treten ehemalige oder geschasste Mitarbeiter an mich heran, sie präsentieren mir von sich aus Unterlagen, aus denen die Sachverhalte eindeutig hervorgehen – und wenn nicht, bohre ich nach. Das gestaltet sich recht unkompliziert. Unmittelbar nach dem Einschalten der Behörden werden Anwälte beauftragt, die die Anklage im Interesse des Beschuldigten auszuräumen versuchen. Der Ausgang dieser Verfahren ist durch die Gesetzgebung gewissermaßen vorgezeichnet. Beide Seiten wissen, was sie erwartet. Dafür gibt es Anwälte. Bei meinen privaten Ermittlungen – wie hier – bin ich auf eine vertrauensvolle Basis angewiesen. Der persönliche Kontakt und das vertrauensvolle Auftreten stehen dabei im Vordergrund. Wenn es gelingt, wollen die Leute erstaunlich gern erzählen. Endlich ist da jemand, der zuhört, der ein Interesse daran hat, die Dinge zurechtzurücken. Und noch was: Solange ich nicht als Ermittlungsbehörde auftrete, ist klar, dass die Leute nichts riskieren, falls sie sich vergaloppieren. Wenn es hart auf hart kommt, können sie einfach alles abstreiten.“
Antje dachte über das Gesagte nach, sie sagte: „Umgekehrt kann es aber auch bedeuten, dass du nichts in der Hand hast.“
„Zunächst sieht es so aus, da gebe ich dir recht.“ Ich hob leicht die Schultern. „Wenn ich auf diese Weise aber an Beweismittel gekommen oder mir sicher bin, dass die Indizien ausreichen, übergebe ich den Fall den Ermittlungsbehörden. Die kümmern sich um den Rest, weil nur sie mit den nötigen Befugnissen ausgestattet sind.“
Als wir merkten, wie sehr am Nebentisch der Kreis der Zuhörer angewachsen war, beschlossen wir zu gehen. Die Bedienung kam mit der Rechnung, Antje zahlte. Wir verließen das Tide und gelangten zum Kurplatz, dem hellen Conversationshaus mit Arkadengang und Uhrentürmchen in der Mitte, nebst Spielcasino, Bibliothek, Café und Touristeninfo. Rechts daneben das imposante Badehaus mit Wellenplanschbecken, Solebad und Thalasso-Anwendungen. Gegenüber das markante Zinnentürmchen des Inselhotels König. Wir überquerten den Kurplatz in Richtung Weststrand. Antje erzählte, sie habe für den Nachmittag ihre Kollegin und Freundin Sabine Bakker zum Kaffee eingeladen. Wir steuerten also Antjes Wohnung in Strandnähe an. Auf dem Weg zum Damenpfad wollte ich wissen, warum es Antje nach Norderney verschlagen hatte. Grübchen erschienen auf ihren Wangen und die Nasenspitze bewegte sich leicht, als sie erzählte: „Du weißt vielleicht noch von meinem Interesse an der Psychologie, daraus wurde tatsächlich mehr. Ich schrieb mich als Gasthörer an der Uni Oldenburg für Allgemeine Psychologie ein, weitere Seminare folgten. Zwei Jahre später hielt ich mein Zertifikat zur psychologisch-technischen Assistentin in den Händen, und damit habe ich mich hier beworben.“
Ich sah sie anerkennend an. „Glückwunsch! Und, warum Norderney?“
Sie lächelte wehmütig. „Es ist die Insel meiner Kindheit, ich war ja oft mit meiner Oma hier. Die Insel, das Meer, die Architektur und das ganze Flair habe ich immer sehr gemocht. Und als ich vor eineinhalb Jahren meine Bewerbungen verschickte, war die Altenpflegeeinrichtung Casa Vitalis auch darunter. Es hat geklappt, und ich bereue es kein bisschen.“ Ihre Augen leuchteten. „Und eine tolle Wohnung habe ich auch gefunden, gleich hier im Damenpfad.“
„Wie passend.“
Wir gingen links in die Wilhelmstraße, schlugen Haken und erreichten Antjes Wohnung, in Sichtweite des Weststrands. Wir stiegen in die zweite Etage hoch, Antje schloss auf, wir gelangten in eine gemütliche Wohnung mit Aussicht. Eine kleiner, quadratischer Flur, die Küche mit glänzend hellen Schränken, das Wohn- und Esszimmer mit dunkelgrauen und verchromten Möbeln, Couches im Loungedesign, auf denen weiche Kissen lagen. An den hellen Wänden waren Bilder in natürlichen Farben, und die Fenster, die zum Meer hin wiesen, waren Lichtschächte in die Unendlichkeit. Meinem Blick hinaus auf die See folgend sagte Antje: „Toll, nicht? Das habe ich mir immer gewünscht, freie Sicht aufs Meer. Und das Beste daran ist, nicht mal Touris können mir das Panorama vermiesen!“ Antje lachte. „Die gehen brav auf der Promenade spazieren – und die ist auf der anderen Seite des Deiches, etwas tiefer gelegen.“
„Die Aussicht ist wirklich umwerfend!“, bestätigte ich. Während Antje den Kaffeeautomaten startklar machte, schaute ich mich um. Das Wohnzimmer verbreitete Behaglichkeit. An der Wand ein großes Bücherregal mit Sachbüchern zu Psychologie und Gerontologie, aktuelle Romane, Lyrik und Bildbände. Auf dem kleinen Wohnzimmertisch lag ein angesagter Kriminalroman mit Lesezeichen etwa in der Mitte des Buches. Ich nahm es, las den Rückentext durch. Es ging um einen kauzigen Kommissar mit Eheproblemen – hm, das klang vertraut. Manchmal braucht man Bücher nicht mehr zu lesen, wenn man die Rückseite durchhat. Auf diese Weise kriegt man ein gewisses Gespür, auch wenn es letztlich oberflächlich bleibt. Man verschafft sich ein kleines Update und ist ein informierter Gesprächspartner auf Cocktailpartys, wenn man trotz der Oberflächlichkeit noch eingeladen wird.
Es klingelte an der Haustür. Antje drückte den Summer, Sabine Bakker kam die Treppe herauf. Antje umarmte die schlanke Frau, bat sie herein, nahm ihr den Trenchcoat ab und parkte ihn an der Garderobe. Frau Bakker blieb unschlüssig stehen, als sei sie wegen einer freien Stelle gekommen. Wir gaben uns die Hand, nachdem Antje uns einander vorgestellt hatte, und sie lotste uns in ihr Wohnzimmer. Frau Bakker war eine Frau von Mitte bis Ende fünfzig, etwa so groß wie ich. Sie hatte schöne, freundliche Gesichtszüge und große, braune Augen. Hohe Wangenknochen ließen sie jünger wirken, so auch ihre schmale Nase. Das braune Haar reichte ihr bis zu den Schultern, es war voluminös und in der Mitte gescheitelt. Sabine Bakker war stimmig gekleidet, ihr Anblick war Ausdruck klassischer Eleganz, Make-up und Nagellack hätten das womöglich entwertet. Wir setzten uns, sprachen kurz über die prognostizierte Kälte, die bald den ganzen Norden erfassen würde, und gaben unsere Wünsche bezüglich Tee oder Kaffee an Antje ab, die damit in die Küche verschwand. Frau Bakker hatte ein offenes, ehrliches Wesen, aber ein Lächeln, das von Traurigkeit gezeichnet war. Vielleicht lag es an den Augen, die sich weigerten, mitzulächeln. Rasch entwickelte sich ein Gespräch über ihre und meine Tätigkeit. Ich gab Frau Bakker einen Überblick über mein Tagesgeschäft als Ermittler, während Antje uns mit Kaffee und Sanddorngebäck versorgte und sich dazusetzte. Es war an der Zeit, etwas über Sabine Bakkers Anliegen zu erfahren, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Antjes Freunde auch meine Freunde seien, denen ich meine Dienste diskret und unentgeltlich zur Verfügung stellte.
Ich sagte: „Frau Bakker, Antje erzählte mir vom gewaltsamen Tod Ihres Geliebten und Ihrer Trauer, die Sie nicht zeigen können, weil Ihre Beziehung zu Doktor Jacobs nicht öffentlich war.“ Sabine Bakker nickte mit zusammengepressten Lippen, ich sprach weiter: „Wir wollen hier über die Dinge sprechen, die bisher nicht nach außen gedrungen sind, die Sie den Ermittlungsbehörden wahrscheinlich vorenthalten haben, sofern die überhaupt von Ihrer Existenz wissen ...“
Frau Bakker schüttelte energisch den Kopf, sie sagte mit ihrer tiefen Stimme: „Nein, nein, die Polizei weiß nichts von mir ... und sie weiß auch nichts von dem Verhältnis zwischen Menno und mir. Ich habe niemandem außer Antje davon erzählt, weil sie eine Herzenskennerin ist. Sie hat gespürt, dass ich ... verzweifelt bin.“
Als ahnte ich nicht schon die Antwort, fragte ich: „Was, wenn ich fragen darf, ist der Grund, dass Sie sich den Behörden gegenüber nicht offenbaren? Sie müssen wissen, dass, sollte Ihr Verhältnis nachträglich bekannt werden, Sie automatisch zum Kreis der Verdächtigen gehören.“
Frau Bakker sah mich ratlos an. „Wie ... warum das?“, fragte sie aufgebracht, mit einer Stimme, die Verzweiflung und Empörung zugleich ausdrückte.
„Aus dem einfachen Grund, dass Sie durch Ihr Schweigen die Ermittlungen behindern beziehungsweise erschweren.“ Ich machte eine Pause, dazu ein kritisch abwägendes Gesicht. „Weshalb wollen Sie die Behörden bei der Aufklärung nicht unterstützen?“
„Also, nein. Ich will da nicht mit hineingezogen werden.“ Sie sprach jetzt lauter und schüttelte den Kopf, langsam und nachdrücklich. „Fast zwanzig Jahre waren wir ... ein Paar. Wir haben es so lange geschafft, unsere Beziehung geheim zu halten. Niemand hat etwas bemerkt. Menno war so geschickt darin, Treffen und sogar Urlaube mit mir zu arrangieren.“ Frau Bakker zögerte etwas, sie sprach leiser weiter: „Mein Mann Rudolf und Mennos Frau Gesa sind ja vollkommen ahnungslos, und ich möchte, dass das so bleibt. Wenn die beiden jetzt nach so vielen Jahren von unserer ... Verbindung erführen, würde für sie die Welt einstürzen.“ Ihre Stimme rutschte in eine höhere Tonlage. „Wissen Sie, Herr Gerdes, was dann los wäre?“ Sie sah mich abwartend an. Ich nickte, sagte aber nicht, was dann los wäre. Etwas Düsteres zog in ihren Blick, was vorher nicht da gewesen war. Ihre Stimme bekam einen gereizten Unterton: „Nein, das werde ich auf keinen Fall tun. Ich betrachte das als eine Art Vermächtnis, als ein Erbe, das ich aufrechterhalten möchte. Mennos ganzes Bemühen, all die Jahre sollen nicht umsonst gewesen sein. Bitte, verstehen Sie mich!“ Dann nahm sie eine Tasse in die Hand, lehnte sich etwas zurück und betrachtete mich mit forderndem Blick.
Ich nickte und sagte ruhig: „Ich respektiere Ihre Entscheidung selbstverständlich.“ Ich lächelte, als würde ich sie vollkommen verstehen. „Ich möchte Ihnen dennoch empfehlen, dass jetzt, wo ... die Polizei auf der Stelle tritt ...“
„Auf gar keinen Fall!“, fuhr sie dazwischen, dabei füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie wagte es kaum, ihren Blick irgendwo ruhen zu lassen.
„... jetzt, wo die Polizei auf der Stelle tritt, es an der Zeit wäre, die ganze Wahrheit zu erzählen“, beendete ich meinen Satz.
„Die Wahrheit!? Ja, es ist und bleibt die Wahrheit, dass ich Menno liebe, ihn immer lieben werde und er mich geliebt hat! Aber das geht jetzt nur mich etwas an, und sonst niemanden.“ Ihre Stimme wurde dünn und zerbrechlich wie gesprungenes Porzellan, dann liefen Tränen. „Es war unsere gemeinsame Liebe, sie gehörte nur uns ...“ Die Tränen zeichneten glänzende Spuren auf ihr Gesicht. Sabine Bakker zog ein Taschentuch hervor, sie schnaubte und fuhr mit brüchiger Stimme fort: „Glauben Sie mir, ich habe das alles schon durch – es ist alles richtig so ...“ Ihre letzten Worte kamen wie ein Hauch. Antje legte tröstend ihre Hand auf den Unterarm ihrer Freundin. Mein Blick wanderte von Antjes Hand hinauf zu Sabine Bakkers großen, traurigen Augen.
Ich nickte schweigend, als Zeichen, dass es okay war. Bestätigend sagte ich: „Von mir wird niemand etwas erfahren.“ Ich nahm einen großen Schluck Kaffee.
Frau Bakker beruhigte sich, Antje fasste ihre Hand und sah sie mitfühlend an. Eine Viertelminute verging, in der nichts gesagt wurde. Ich nahm einen Keks und brach die Andacht: „Antje sagte mir, Sie haben das
Gefühl, die Ermittlungen der Behörden würden nicht vorankommen?“
Sabine blickte auf, sie hatte sich wieder im Griff, steckte das Taschentuch weg, strich sich eine Strähne hinters Ohr und sah mich aus erschöpften Augen an. „Ja, ich finde es skandalös, dass die Polizei sich nicht öffentlich zu diesem Fall äußert. Es gibt überhaupt keine Nachrichten über die aktuellen Ermittlungsergebnisse. Was ist denn da los?“
Ich hob die Hände und gab zu bedenken: „Nun, vielleicht ist das beabsichtigt, um die laufenden Ermittlungen nicht zu gefährden. Wissen Sie, wer den Fall bearbeitet? Das würde mir die Kontaktaufnahme mit den Behörden erleichtern.“
Sie schüttelte den Kopf und wollte gerade antworten, da mischte sich Antje ein: „Kann ich dir später erzählen, das wird etwas ausführlicher.“
Ich bemerkte ihren veränderten Blick, darum legte ich die Frage vorübergehend auf Halde und bezog einen anderen Aspekt mit ein: „In der Presse stand etwas von einem weiteren Mord auf Norderney, es handelte sich dabei um Pfarrer Sander. Das dürfte etwa vor einem Monat gewesen sein.“ Frau Bakker reagierte nicht, aber ich sah, wie sich ihre Lippen zusammenzogen. Antje nickte unmerklich. Ich sagte in gedämpftem Ton: „Können Sie sich vorstellen, dass der Mord an Pfarrer Sander etwas mit dem Verbrechen an Doktor Jacobs zu tun haben könnte, Frau Bakker?“
Abwägend bewegte sie ihren Kopf hin und her, legte ihre Hände zusammen und hob sie unters Kinn. Sie sagte: „Das weiß ich wirklich nicht. Die beiden kannten sich zwar, aber ... Menno und seine Frau Gesa waren freigiebige Förderer der Kunst und damit auch Förderer der Kirche. Kunst sei die Brücke zwischen Kirche und Gesellschaft, war Mennos Credo. Und über die Galerie seiner Frau pflegten beide geschäftliche Beziehungen bis nach Italien, aber ich kann mir wirklich nicht vorstellen, was diese beiden Morde miteinander zu tun haben könnten.“
Mein Interesse an der Konstellation Dr. Jacobs, seine Frau Gesa sowie Pfarrer Sander war geweckt. Solche Kontakte hinterlassen Spuren – irgendwie, irgendwo. Und in diesem Zusammenhang kam mir ein weiterer Gedanke: „War Doktor Jacobs Mitglied in der katholischen Kirche?“, fragte ich möglichst einfühlsam.
Ihr Blick verschwand für einen Augenblick. Dann kam er zurück, sie antwortete: „Ja, aber warum ... ist das ... wichtig?“, ihre Stimme brach in der Mitte durch.
Ich suchte die Schnittmenge von Klinikchef und Pfarrer, ich fragte: „War Doktor Jacobs ein religiöser Mensch? War das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und Pfarrer Sander so gut, dass er bei ihm beichten ging?“
Ihre Hände senkten sich, die Finger flochten sich ineinander. „Ach, Sie meinen, Menno habe dem Pfarrer von unserer Beziehung erzählen können?“, fragte sie mit leichter Unruhe in der Stimme.
„Entweder dies oder etwas anderes. Jedenfalls konnte Doktor Jacobs sich wegen des Beichtgeheimnisses darauf verlassen, dass Pfarrer Sander damit nicht hausieren ging.“
Sie rührte sich nicht, zuckte mit keiner Wimper. Sie sah mich unverwandt an, dann beugte sie sich leicht vor. Ihre Stimme klang schwächer, als habe sie gerade unbemerkt ein starkes Medikament eingenommen: „Menno war ein ... religiöser Mensch, wie Sie es ausdrücken, aber er sprach so gut wie nie darüber. Nur wenn es um etwas Organisatorisches ging, wie zum Beispiel wegen des Kirchenfestes oder des Pfarrgemeinderates. Davon hatte er mir das ein oder andere erzählt. Aber in der Regel wollte er diese Dinge von mir fernhalten. Menno sagte immer, dies gehöre zu seinem anderen, komplizierten Leben. Mit mir sei alles viel unproblematischer und leichter als mit seiner ...“ Frau Bakkers Stimme verebbte, und ihr Blick schweifte hilflos durch den Raum, als suche sie etwas.
Mir drängte sich die Frage auf, wie ein solches Doppelleben über so viele Jahre in einem vergleichsweise kleinen Ort gelingen konnte, ohne aufzufliegen. War so etwas möglich? Ich stellte diese Frage nicht. Sie würde allzu moralisch klingen und das gerade entstandene Vertrauen zerstören. Ich schlug einen unverfänglicheren Weg ein, ich fragte: „Können Sie sich vorstellen, wer etwas gegen Doktor Jacobs haben konnte? Hatte er Feinde?“
Sie sah mich direkt an, ihre Augen bekamen einen leicht trotzigen Ausdruck. „Nein, meines Wissens hatte er keine Feinde. Er war überall beliebt und angesehen, er war ein freigiebiger und geachteter Bürger der Stadt.“
Ich betrat eine andere hauchdünne Scholle, um auszuschließen, dass dahinter womöglich eine Erpressungsgeschichte stand: „Frau Bakker, gab es einen besonderen Ort, an dem Sie beide sich regelmäßig privat getroffen haben?“
Ihre Hand fuhr plötzlich hoch, als wollte sie etwas wegwischen, und sie senkte sich wieder, während ihre Wangen glühende Flecken bekamen. „Warum sagen Sie nicht einfach heimlich, Herr Gerdes?“, fragte sie trotzig.
„Weil ich Sie nicht mit gängigen Klischees konfrontieren möchte.“
„Ach ...“, sie winkte mit einer trägen Handbewegung ab. Für einen Augenblick sprach sie schneller, als wollte sie es hinter sich bringen: „Nehmen Sie keine Rücksicht auf mich! Sie glauben ja gar nicht, mit welchen Klischees ich schon bedacht wurde.“ Sie besann sich auf meine Frage und antwortete knapp: „Ja, es gibt einen solchen Ort, wo wir uns privat getroffen haben.“ Sie lächelte ein fast wehmütiges Lächeln, als erinnerte sie sich an etwas, das ihr ein wertvoller Schatz geworden war. Es wurde still. Frau Bakker, die Hüterin verborgener Liebesschwüre, wollte nicht alles kampflos preisgeben, das merkte ich ihr an. Sie bekam einen seltsamen Zug um den Mund. „Warum ist das wichtig?“, fragte sie.
Ich legte Honig in meine Stimme: „Frau Bakker, jeder kleine Anhaltspunkt kann wichtig sein, um ein differenziertes Bild aus Motiv und Tathergang zu entwickeln. Wichtiges kann von Unwichtigem unterschieden werden, das Offensichtliche tritt zutage, abschließend lassen sich Indizien besser zuordnen, und der Fall kann abgeschlossen werden – was sicherlich auch in Ihrem Sinne sein dürfte?“ Das war eine rhetorische Frage, niemand antwortete. Ich unterbrach mich selbst, schenkte mir zwei Sekunden und fügte hinzu: „Deshalb kann es jetzt wichtig sein, auch wenn es später bei der Aufklärung womöglich keine Rolle mehr spielt.“
Frau Bakker tat sich schwer, ihr bis heute gehütetes Geheimnis zu lüften. Wieder ein wertvolles Stück ihrer Sammlung, das sie aufgeben musste. Ihre Lippen öffneten sich, aber die Worte kamen nur langsam heraus: „Wir ... trafen uns in einem ... Hotel, in der Luisenstraße. Es war das ... alte Nordstern. Es ist mittlerweile fast eine Hotelruine.“
In meinem Kopf ratterte es wie ineinandergreifende Zahnräder, bis ich merkte, dass ein Zahn fehlte. Ich hakte nach: „Wie sind Sie beide auf dieses Haus gekommen? Hatten Sie einen Schlüssel dazu oder steht es offen? Ich gehe davon aus, dass auch solche Gebäude auf irgendeine Weise gegen unbefugtes Betreten gesichert sind.“
Frau Bakker bewegte sich kaum noch, nur ihr Mund öffnete sich inmitten eines blassen, versteinerten Gesichts: „Es gibt da ... einen jungen Freund von Menno, sie kennen sich vom Golfclub und dem Seglerverein.“ Nach einer Pause fügte sie gereizt hinzu: „Von ihm hatte Menno die Schlüssel.“
Ich nickte, in der Hoffnung, dass sie mir den Namen ohne weitere Nachfrage eröffnen würde. Dann kam er. Frau Bakker sagte in einem bitteren Ton: „Es ist ... der größte Immobilienmakler hier auf Norderney, also seien Sie bitte äußerst diskret!“
Ich bekam einen dicken Kloß im Hals und verspürte eine sich ballende Faust in der Magengegend. Wenn sie jetzt nicht seinen Namen sagte, würde ich meinen Dienst quittieren.
Sie sagte: „Sein Name ist ... Jan Gronewold.“