4

Hungertod

Wenn Sie hungrig sind, ist die natürlichste Handlung, etwas zu essen. Menschen sterben nicht aus Dummheit am Hungertod. Sie sterben, weil wir sie sterben lassen .

Hungertod, also Tod durch Verhungern, kostet derzeit jedes Jahr etwa 15 Millionen Menschen das Leben. Ich möchte, dass Sie klar erkennen, wie viele das sind. Das entspricht ungefähr der gesamten Bevölkerung von Dallas, Madison, Denver, Minneapolis, Houston, Atlanta, San Francisco, Oklahoma City, Springfield, Salt Lake City, Phoenix und New Orleans (entspricht der gesamten Bevölkerung der Bundesländer Hessen und Bayern, d. Übers.). Es bedeutet, dass allein durch Verhungern in jeder Minute 28 Menschen sterben. Dreiviertel davon sind Kinder. Die Weltbevölkerung umfasst gegenwärtig sechs Milliarden Menschen. Dieser Planet hat die Kapazität, acht bis elf Milliarden Menschen zu ernähren. Somit entspricht Ihr Glaube, dass Menschen verhungern, weil diese Erde sie nicht ernähren kann, nicht gerade der Wahrheit. Die Ursache des Hungertodes ist nicht die, die sie scheint. Die Ursachen für den Hungertod in dieser Welt sind genau die gleichen wie die für das Nichtfunktionieren unseres Lebens auf der persönlichen Ebene. Sie sind gedanklicher Art. Alles, wonach es sonst noch aussieht, ist nichts als Schein. Solange bestimmte Ideen und Überzeugungen weiter bestehen dürfen, wird nichts, was wir tun, das Verhungern beenden, ganz gleich, wie aufwendig das Unternehmen auch sein mag.

Die erste Idee ist eine „Nicht-Idee“. Es existiert in der heutigen Welt keine sich ausbreitende Meinung, dass Menschen ein Recht auf genügend Nahrung für die Erhaltung ihres Lebens haben. Verhungernde Menschen wissen, dass es so ein Recht gibt, aber sie leben nicht lange genug, um von dem, was sie wissen, sprechen zu können. Ein Mensch ist nicht weniger Mensch, weil seine Schüssel leer und Ihre voll ist. Dennoch herrscht die Nicht-Idee heute in der Welt vor, dass Menschen kein Recht auf ausreichende Nahrung zur Lebenserhaltung haben. Es gibt sehr wohl die Idee, dass Menschen ein Recht auf freie Meinungsäußerung und Glücksstreben haben. Ist hier vielleicht etwas übersehen worden? Nun, es gibt einen Zustand, der dieses Versehen hervorgebracht hat. Dieser Zustand ist tatsächlich jene angenommene Daseinsbedingung, die tiefer sitzt, als uns bewusst ist. Sie ist so tief verwurzelt, dass sie von uns praktisch nicht zu unterscheiden ist. Es ist eine Überzeugung, die unhinterfragt für Wahrheit gehalten wird.

Diese Überzeugung sagt, dass es in der Welt nicht genug Nahrung gibt. Angenommen, Sie wollen dem Verhungern in der Welt ein Ende machen und stoßen auf diese „Wahrheit“, dann werden Sie Ihre Absicht, dem Hungertod ein Ende zu machen, begraben. Was Sie dann dafür tun, wird lediglich eine Geste sein, und Sie werden stets nur das Mögliche erreichen, statt das Unmögliche. Sie sind unmittelbar in einer Haltung festgefahren, und Menschen verhungern weiterhin infolge der „Tatsache“, dass es unvermeidbar ist. Unvermeidbarkeit ergibt sich quasi natürlich aus der grundlegenden Annahme des Mangels. Solange Ihre Haltung die ist, Hungertod sei unvermeidbar, wird es ihn geben. Einfache Beobachtung, ich meine, einfache Beobachtung zeigt, dass er zu vermeiden ist. Wenn er so unvermeidbar wäre, warum hat dann nicht jeder von uns jemanden gekannt, der aufgrund mangelnder Nahrung den Hungertod gestorben ist? Was sagen Sie? Er ist in manchen Teilen der Welt unvermeidbar und in anderen nicht? Ja, und warum ist das so? Die Wahrheit ist, dass er nicht unvermeidbar ist, und er ist, zumindest heutzutage, etwas, was wir verursacht haben.

„Aber es gibt doch nichts, was ich tun könnte?“ DOCH, ES GIBT ETWAS. Werfen Sie Ihre Haltungen der Unvermeidbarkeit und des Mangels weg. Wenn Sie das tun, taucht als Nächstes auf, dass Sie dafür nicht verantwortlich sind. Es passiert doch in einem anderen Teil der Welt, oder? Was haben Sie damit zu tun? Nun, nichts und alles. Wenn Sie die Welt gerne funktionieren sehen wollen, lassen Sie sich sagen, sie kann. Sie können jedoch nicht darauf warten, dass der Rest der Welt erleuchtet wird, bevor Sie erleuchtet werden. Diesen Augenblick werden Sie niemals erleben. Erinnern Sie sich, es gibt die Welt, die Sie niemals kennen können, und es gibt Ihre Welt, die einzige, die Sie kennen können. Wenn Sie erleuchtet werden, werden Sie entdecken, dass „die“ Welt für Sie erleuchtet wird. Ihre Welt fängt an zu funktionieren, und dann werden Sie bemerken, dass auch „die“ Welt schon im Begriff ist zu funktionieren. Bis zu diesem Augenblick der transformierten Erleuchtung erscheinen Ihnen die Zustände in „der“ Welt, einschließlich Hungertod, festgefahren und hoffnungslos. Das bedeutet nicht, dass sie festgefahren und hoffnungslos sind. Es bedeutet, dass Sie dem Hoffen verhaftet und hoffnungslos sind, ohne etwas Wirkungsvolles zu tun. Erinnern Sie sich an die Polaritäten? Der Zustand, der die Hoffnungslosigkeit andauern lässt, ist ihr polarer Gegensatz: Hoffnung. Leute wie Sie „hoffen“, dass das Verhungern aufhört. Die „Hoffnung“ dient der Rechtfertigung des Nichtstuns oder bloßer Gesten. In dieser Hinsicht funktioniert „Hoffnung“ etwa ebenso gut wie „Glaube“ und „Wohltätigkeit“, die beide ihren polaren Gegensatz ins Leben rufen.

Bei meiner Arbeit treffe ich viele Leute, und ich bin ein scharfer Beobachter. Und ich kann Ihnen ohne Vorbehalte sagen: Was Leute wirklich wollen, ist, dass ihre Welt funktioniert. Für einige ist es notwendig, eine Weile Nabelschau zu halten oder das Entsprechende in einer Psychotherapie zu tun. Nach einer Weile wird es jedoch offenkundig, dass ihr Nabel in sehr guter Verfassung ist und ihrer diesbezüglichen Neugier der Wunsch zugrunde liegt, dass ihre Welt funktionieren möge. Dann zeigt sich, dass persönliche Erleuchtung nicht von der Erleuchtung der Welt zu trennen ist. Sie bekommen beides oder keins von beiden. Wenn Sie das eine ohne das andere wollen, haben Sie Pech. Basis jedes Lebens ist das Erschaffen eines Kontextes von Ideen, der „die“ (Ihre) Welt funktionieren lässt. Ob Sie das glauben oder nicht – das ist Ihre Basis. Sie brauchen es nicht einmal zu glauben. Wenn das nicht Ihre Basis wäre, wären Sie jetzt in der Oper, statt dies hier zu lesen.

Also, innerhalb des Kontextes der funktionierenden Welt – Beendigung des Hungertodes zum Beispiel – funktioniert alles, was Sie tun, sogar das, was vor dem Augenblick der Erleuchtung wie Wohltätigkeits-„Gesten“ ausgesehen hat. Vor dem Erschaffen des Kontextes der funktionierenden Welt (das heißt vor dem Augenblick der Erleuchtung) funktioniert nichts von dem, was Sie tun. Alles, was Sie tun, wie heroisch, wie großartig es auch sein mag, degeneriert zu einer Geste. Bisher haben wir nur die Oberfläche dessen angekratzt, was möglich ist. Der Hungertod ist ein gigantisches „Zum Teufel mit euch!“ für 15 Millionen Menschen in jedem Jahr. Auf eine sehr wirkliche Art und Weise bedeutet es für uns alle das Gleiche. Es wird damit gesagt, dass das Leben nicht zählt, dass es nicht von Bedeutung ist. Solange wir dieser Ungeheuerlichkeit nicht ein Ende bereiten, werden wir unser volles Potenzial niemals verwirklichen können. Ein aus mehr, besseren und anderen Ideen bestehender Inhalt, der jedoch in einem Kontext von „Es ist nicht zu verwirklichen“ gehalten wird, wird nichts bringen. Nur ein erleuchteter Kontext bringt etwas. Es ist zu verwirklichen, und jetzt ist der Zeitpunkt, die Gelegenheit zu ergreifen, dafür verantwortlich zu sein. Verantwortlichkeit bedeutet ein neuer Kontext, in dem sogar die „Gründe“, denen zufolge es nicht möglich ist, zu einem Beitrag zur Verwirklichung werden. Übrigens: Überbevölkerung verursacht den Hungertod nicht; Hungertod verursacht Überbevölkerung. In der „Dritten Welt“ erfordert es die Geburt von nahezu fünf Kindern, um einen lebenden männlichen Erben hervorzubringen. Ein lebender männlicher Erbe sichert alten Leuten jemanden, der in ihren letzten Jahren für sie sorgt. Wenn vier von fünf Kindern verhungern, muss man viele Kinder haben, um sicherzugehen, einen männlichen Erben zu haben. Dies ist ein Beispiel für Überzeugungen, die uns die Verantwortung für den Hungertod in der Welt nehmen.

Wenn wir ein Atom spalten, einen Mann auf den Mond und eine Kamera auf den Mars bringen können, können wir dann nicht auch eine Mahlzeit auf den Tisch bringen? Hungertod ist eine Gelegenheit, eine Herausforderung, nicht eine Last.