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Wahrheit als Paradoxie

Wahrheit ist niemals eine Haltung, von der man überzeugt ist, sie ist auch niemals die gegenteilige Haltung, von der man nicht überzeugt ist: Wahrheit ist der Kontext, in dem Überzeugungen bewahrt werden .

Sie sollten jetzt eine Ahnung von etwas bekommen, worüber sich eigentlich nicht sprechen lässt: dem Wesen der Wahrheit und des Selbst. Sie müssen sich vor Augen halten, dass Sprache nicht dazu bestimmt ist, Wahrheit zum Ausdruck zu bringen. Was Leute im alltäglichen Leben unter „Wahrheit“ verstehen, ist eine Haltung, von der sie überzeugt sind. Diese Art von „Wahrheit“ lässt automatisch eine gegenteilige Haltung entstehen. Wenn Sie also sagen: „X“ ist richtig, ruft das mit absoluter Zuverlässigkeit die gegenteilige Haltung, dass „nicht-X“ richtig ist, hervor. Das passiert nicht nur manchmal, das passiert immer und jedesmal, wenn Sie einen Standpunkt einnehmen. Eine Haltung ruft immer ihre eigene Opposition ins Leben. Das sollte Ihnen als Hinweis dafür dienen, was Wahrheit ist.

Die Wahrheit in Bezug auf „X“ und „nicht-X“ ist, dass „X“ und „nicht-X“ beide richtig und beide falsch sind. Wahrheit ist also ein Kontext, der in sich das Paradoxon enthält, dass gegenteilige Standpunkte beide richtig und beide falsch sind. Es ist nun mal so, dass der Verstand nicht in der Lage ist, die Wahrheit als paradox zu erfassen. Deshalb können Sie Wahrheit nicht mit Ihrem Verstand erleben. Der Verstand ist eine Richtig/Falsch-Maschine, die auf das Überleben der Individualität zugeschnitten ist.

Auf den Gebieten der Liebe und der Verpflichtung wird dies besonders deutlich. Wenn Sie zu jemandem sagen „ich liebe dich“, erzeugt das automatisch sein Gegenteil, also vielleicht „ich liebe dich nicht“ oder „ich hasse dich“. Wie Sie sehen können, gibt es manchmal mehr als eine gegenteilige Haltung. Wenn Sie nun Träger von „ich liebe dich“ sind und Sie dies als Haltung vorbringen, erzeugt das zwangsläufig irgendwo ihr Gegenteil. Dieses irgendwo kann im Verstand der Person sein, die Sie von einer Haltung aus lieben. In ihrem Verstand taucht vielleicht auf: „aber ich liebe dich nicht“. Falls die andere Person mit der gleichen Haltung „ich liebe dich“ kommt, werden Sie zum Träger des „ich liebe dich nicht“. „Ich liebe dich/ich liebe dich nicht“ ist als Ambivalenz bekannt. Die einzige Methode, mit der Sie Ambivalenz vermeiden können, wäre die Bereitschaft des „Liebesobjektes“, dieses „aber ich liebe dich nicht“ zu tragen. Wenn Sie beide die Haltung „ich liebe dich“ einnehmen, werden Sie beide Träger der gegenteiligen Haltung werden. Dieser unvermeidbare Zustand der Ambivalenz verpflichtet, wenn die Intention vorhanden ist, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Eine Beziehung von „ich liebe dich/ich liebe dich nicht“ kann nur in Ihrem Selbst, dem Kontext der Liebe, enthalten sein. Wenn Ihr grundlegender Kontext Liebe ist, dann kann „ich liebe dich/ich liebe dich nicht“ in diesem Kontext bewahrt werden, und beide Haltungen tragen zum Kontext bei. Das Ergebnis: „ich liebe dich nicht“ ist eine Bestätigung des Kontextes der Liebe, in dem es gehalten wird und der Beziehung Macht verleiht. Einen Kontext der Liebe zu erschaffen, heißt, Ihr Selbst oder das Selbst zu sein, beinhaltet die Bereitschaft, mit Ihrer bloßen Existenz Risiken in Form von Verbindlichkeit einzugehen. Sie müssen erkennen, dass Liebe von der Ebene des Verstandes aus nicht aufrechterhalten werden kann, niemals aufrechterhalten wurde und niemals aufrechterhalten werden wird.

Gleichermaßen kann Verpflichtung nicht auf der Ebene des Verstandes erschaffen werden. Auf der Ebene des Verstandes wird Verpflichtung ein Konzept und nicht ein Erleben. Das Konzept „ich bin dir gegenüber verpflichtet“ ist eine Haltung und erzeugt mechanisch irgendwo ihr eigenes Gegenteil, entweder in Ihrem Verstand oder im Verstand Ihres Partners. Auf diese Weise wird es vom Verstand genauso behandelt wie „ich liebe dich“. Deshalb muss „ich bin dir gegenüber verpflichtet“ vom Selbst aus erschaffen werden, es ist eine Erfahrung, ein Erleben. Das Erleben des Verpflichtung-Erschaffens geschieht außerhalb der Zeit, und als solches kann darüber nur nachträglich berichtet werden. Für die Praxis bedeutet dies, dass Sie einfach hinschauen, ob Verpflichtung hergestellt wurde, und dann die Wahrheit sagen. Sie können weder sich selbst noch Ihren Partner dazu bringen, Verpflichtung zu erschaffen.

Hier nun, was Sie sehr wohl tun können: Entwickeln Sie die Intention, Ihre Beziehung funktionieren zu lassen. Im Zustand der Integrität entspringt Ihrer Intention natürlicherweise Verpflichtung. Sie ist einfach da, nicht als begriffliche Vorstellung, sondern als natürliche, lebendige, spontane Verpflichtung. Offenkundig sind Integrität und Intention die Werte, die Sie in sich selbst freilegen müssen, wenn Sie funktionierende Beziehungen haben wollen.

Wie können Sie nun all dies verwirklichen? Das Leben funktioniert perfekt, wenn Sie einfach das tun, was den grundlegenden Prinzipien der Intention und der Integrität angemessen ist. Angemessen ist Folgendes: (1.) Sagen Sie die Wahrheit, die ganze, immer, und (2.) bleiben Sie Ihren Idealen vollkommen treu, bis Sie erkennen, dass Ihre Ideale in Wirklichkeit Ihre Blockaden im Leben sind. An diesem Punkt werden diese Ideale Ihre ehemaligen Ideale werden. Danach tun Sie einfach das, was funktioniert. Was grundsätzlich funktioniert, ist: die Wahrheit zu sagen, die ganze, immer. Das bringt Sie zurück zu Wahrheit als Paradoxie. Die Wahrheit ist, dass „ich liebe dich/ich liebe dich nicht“ und „ich bin dir gegenüber verpflichtet/ich bin dir gegenüber nicht verpflichtet“ zu allen Zeiten Seite an Seite im gleichen Raum des Selbst existieren. Wenn Sie das auf der Ebene der Einheit des Seins wirklich mitbekommen, wird es unwichtig, wer zu irgendeinem Zeitpunkt welche Haltungen austrägt. Das Selbst ist der einzige Kontext, welcher groß genug ist, eine funktionierende Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen zu enthalten.

Der Pfad zum Selbst ist Kommunikation. Entspricht es nicht Ihrer Intention, Ihre Beziehung funktionieren zu lassen, werden Sie Kommunikation vermeiden. Falls Sie jedoch über das Vermeiden von Kommunikation hinauskommen, werden Sie sich mit der Wahrheit als Paradoxie konfrontieren müssen. Ihrem (mit dem Einnehmen von Standpunkten beschäftigten) Verstand wird es nicht gefallen, dass Sie auch die gegenteiligen Haltungen in sich tragen. Dennoch gilt: Die Wahrheit ist paradox, und nur die Wahrheit funktioniert. Um die Wahrheit als Paradoxie erfassen zu können, müssen Sie in Ihr Leben zurückkehren und Ihr Selbst sein.