Die Verfassung der Adelsrepublik Venedig
Niemals waren die Venezianer einem westlichen Kaiser untertan gewesen. Wahrscheinlich besaßen sie deshalb jenes unerschütterliche Bewusstsein souveräner Unabhängigkeit, das ihr in sich geschlossenes Gemeinwesen bis zur erzwungenen Selbstauflösung 1797 kennzeichnete. Ein weiterer Wesenszug des venezianischen Stadtstaates war das Misstrauen gegenüber der Macht eines Einzelnen, weshalb schon ab 1032 kein Doge mehr seinen Nachfolger bestimmen konnte. Mit Entschiedenheit wurden aber auch das einfache Volk und die Geistlichkeit von der politischen Verantwortung ausgeschlossen. So waren es vornehmlich Patrizier, die die politische Klasse Venedigs bildeten. Das Libro d’oro (Goldenes Buch) der Stadt, das im 13. Jh. angelegt wurde, verzeichnete sämtliche Nobili, die das Recht auf eine Mitgliedschaft in den zentralen Organen hatten. Diese Nobili, bei denen es sich vorwiegend um den alten byzantinischen Adel sowie reiche Kaufleute handelte, machten weniger als 10 % der Gesamtbevölkerung aus, besaßen aber mehr als 90 % des Gesamtvermögens der Lagunenstadt. Dass der Kaufmannsgeist die Politik der Regierung bestimmte, lag somit auf der Hand. Wirtschaft und Politik waren in Venedig geradezu existenziell miteinander verflochten, ging es dem Handel gut, ging es auch dem Gemeinwesen gut.
Das straffe venezianische Staatswesen, das übrigens keine kodifizierte Verfassung besaß, war im Wesentlichen nach dem hierarchischen Prinzip organisiert. Die Spitze repräsentierte der Doge, dessen Macht allerdings seit dem 13. Jh. so stark beschnitten war, dass der große Humanist Francesco Petrarca den zu seiner Zeit amtierenden Dogen Marino Falier als „geehrten Diener der Republik“ titulierte. In der Tat kann die Handlungsfähigkeit des Dogen mit der eines modernen repräsentierenden Staatsoberhaupts verglichen werden. Zentrales Organ des Staatsapparats war der Große Rat (Maggior Consiglio), in dem alle erwachsenen, männlichen Nobili der Stadt vertreten waren. Er bildete die Basis, und aus seiner Mitte wurde auch der Doge gewählt. Der Große Rat wuchs von anfangs 35 Mitgliedern rasch auf mehrere Hundert an und hatte zur Blütezeit Venedigs ca. 2000 Mitglieder. Neben dem Großen Rat konstituierten sich der Kleine Rat (Signoria) - mithin die eigentliche Regierung -, der Senat (Consiglio dei Pregadi), der Rat der Vierzig (Quarantina) und der Rat der Zehn (Consiglio dei Dieci). Da die venezianische Verfassung noch keine Gewaltenteilung kannte, waren die zentralen Regierungsorgane gemeinsam für sämtliche innen- und außenpolitischen Angelegenheiten zuständig. Der komplexe Staatsapparat war so geschickt, aber auch so kompliziert organisiert, dass sich die verschiedenen Gremien stets gegenseitig kontrollierten, um auf allen Ebenen der Politik einen Missbrauch der Macht zu verhindern. Wie wirkungsvoll das venezianische Staatswesen letztlich funktionierte, zeigte sich nicht zuletzt daran, dass alle Umsturzversuche seitens machtgieriger Dogen rechtzeitig erkannt, aufgedeckt und geahndet wurden.