Das Ende der Adelsrepublik
Die Königin der Adria hatte abgedankt und war zur Zuschauerin der Weltpolitik geworden. Die Adelsrepublik hatte endgültig aufgehört, eine Großmacht zu sein. Aber es herrschte Frieden, und zwar der längste, den die Stadtgeschichte zu verzeichnen hatte, er reichte von 1718 bis 1797. In dieser Zeit führte Venedig gewissermaßen ein Doppelleben: Einerseits driftete das Leben in der Lagunenstadt aufgrund des nach wie vor gewaltigen Reichtums in einen Zustand dekadenter Sorglosigkeit ab; andererseits hielt der Stadtadel aber hartnäckig an den alten politischen und wirtschaftlichen Traditionen fest und versuchte, mit allen Mitteln einen Zerfall der Republik zu verhindern.
Venedig zählte im 18. Jh. ungefähr 140.000 Einwohner und verfügte noch über stattliche Besitzungen auf dem Festland, in Venetien, wo über 2 Millionen Menschen lebten. Eine gute Grundlage also für eine Konsolidierung des Stadtstaates. Zunächst kurbelten die Stadtväter die Landwirtschaft auf dem Festland an und förderten die traditionsreichen städtischen Industrien (z. B. Textilerzeugung und Glasherstellung). Und wichtiger noch, nach gründlichen Reformen erholten sich auch der Seehandel und der Schiffbau wieder. Auf neuen Schiffen betätigten sich venezianische Händler vor allem in der Adria, wo z. B. Olivenöl aus Apulien und Schwefel aus den Marken lukrative Güter waren. Aber es verkehrten auch venezianische Schiffe nach London, Sankt Petersburg und über Lissabon nach Amerika. Sogar der Osthandel knüpfte an frühere Jahrhunderte an, denn verstärkt importierte man die beliebt gewordene Handelsware Kaffee aus dem Vorderen Orient.
Doch der typische venezianische Kaufmann war längst nicht mehr der alte. Zahlreiche Adelsfamilien hatten die Lagunenstadt bereits im 17. Jh. in Richtung Festland verlassen, wo sie sich luxuriöse Landsitze errichteten und in Grundbesitz investierten. Die Stadtflucht des angestammten Adels hinterließ im 18. Jh. eine derart klaffende Lücke, dass die Regierungsorgane und der Beamtenapparat kaum noch standesgemäß besetzt werden konnten. Nur durch eine Lockerung der strengen Zuzugsbedingungen gegenüber reichen und angesehenen Bürgern aus norditalienischen Städten und anderen Landesteilen, war Venedig in Lage, den Kreis des privilegierten Stadtadels einigermaßen standesgemäß zu erweitern und die alte Ordnung zu erhalten. Auch die unteren Schichten der Stadtbevölkerung hatten sich durch Zuzug verändert. Die Kapitäne und Seeleute kamen jetzt zumeist aus Dalmatien, und die Schiffseigner waren jetzt zu einem Großteil eingewanderte Juden.
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Allen Veränderungen zum Trotz war die Atmosphäre im 18. Jh. ausgelassen. Die zahlreichen Theater- und Opern-bühnen, Spielsalons und Kaffeehäuser waren die eigentlichen Zentren des gesellschaftlichen Lebens. Venedig frönte dem heiteren Leben. Eine karnevaleske Stimmung legte sich über die „Hauptstadt des Rokoko“. Es war die Zeit Carlo Goldonis und Giacomo Casanovas. Venedig hatte einen radikalen Imagewechsel vollzogen, die brave Kaufmannsstadt hatte sich zur Kultur- und Amüsierstadt gewandelt. Angezogen von den enormen Kunstschätzen, den spektakulären Opernereignissen, den populären Stegreifkomödien, dem Karneval und nicht zuletzt von der legendären Sittenlosigkeit, strömten immer mehr Fremde in die Lagunenstadt. Venedig erlebte - vielleicht früher als alle anderen europäischen Städte - die Geburtsstunde des Tourismus.
Dann brachen weltpolitische Ereignisse über Venedig herein. 1789, im Jahr der Französischen Revolution, wurde in Venedig mit Lodovico Manin der letzte Doge gewählt. Es dauerte keine zehn Jahre, bis französische Truppen in die widerstandslose Lagunenstadt einmarschierten. Am 12. Mai 1797 trat der Große Rat der alten Republik ein letztes Mal zusammen und beschloss seine Auflösung. Respektlos plünderte der Feldherr Napoleon Venedig und trat die gedemütigte Stadt im Frieden von Campoformio (1797) an Österreich ab. Nach dem Sieg von Austerlitz (1805) fiel Venedig ans napoleonische Königreich Italien, bis der Wiener Kongress (1815) es als habsburgisches Königreich Lombardo-Venetien erneut den Österreichern zusprach.