Der Mensch
Stellen schon die Besiedlung und die partielle Urbarmachung einen zerstörerischen Eingriff in das Gleichgewicht der Lagune dar, so ziehen sich parallel dazu die kleinen und großen Umweltsünden wie ein roter Faden durch die Geschichte Venedigs. Schon früher beschränkte sich die Verschmutzung der Lagune keineswegs auf das bedenkenlose Einleiten von Abwässern. Damals verunreinigten beispielsweise die giftigen Substanzen der zahlreichen Färbereien das Wasser, und die Lagunenbauern verursachten durch die Landgewinnung innerhalb der Lagune einen gefährlichen Anstieg des Wasserspiegels.
Zu einer ernsthaften Bedrohung Venedigs kam es jedoch erst durch die Industrieansiedlung, für die Anfang des 20. Jh. große Flächen der Lagune trocken gelegt werden mussten. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich dieses Industriegebiet am Lagunenrand zur drittgrößten Industriestadt Italiens: Porto Marghera - ein gigantischer Industriemoloch. Seitdem sind die ökonomischen Interessen und der Schutz der Lagune unvereinbar geworden. Schon ein Blick auf die rauchenden Schlote von Porto Marghera lässt Böses ahnen. Dort ist alles versammelt, was die Luft verpestet. 1468 Fabrikschlote sollen es in den besten Wirtschaftswunderjahren gewesen sein, die 179 verschiedene giftige Substanzen ausstießen. Und weiterhin nebeln stinkende Abgase die Lagunenstadt ein, während der saure Niederschlag ihre Substanz zerfrisst, da der Schadstoffausstoß bis heute nicht drastisch genug verringert worden ist.
Außerdem pumpte die Industrie jahrelang große Mengen Grundwasser aus dem Untergrund der Lagune. Infolgedessen sackte der Lagunenboden bedrohlich ab und der Senkungsbetrag Venedigs, der früher bei 0,5 mm pro Jahr lang, erhöhte sich auf 4-6 mm. Erst als die Grundwasserentnahme in den 1960er-Jahren strikt verboten und eine Fernwasserleitung gelegt wurde, normalisierte sich die Absenkung wieder.
Heute stellen vor allem die veralteten Chemiefabriken von Porto Marghera ein enormes Gefährdungspotential dar. Sie leiten seit Jahrzehnten hochgiftige Abwässer in die Lagune, und zwar mehrere Millionen Kubikmeter jährlich. Der Boden des südlichen Teils der Lagune ist bereits weiträumig mit verseuchten Ablagerungen (Sedimenti) bedeckt, die jegliche Bodenfauna und -flora abgetötet haben. Schlickanalysen ergaben, dass sich auch Blei, Kupfer, Zink, Quecksilber, Arsen, Asbest, ja, sogar Dioxin und radioaktive Substanzen im Lagunengrund befinden. Diese Giftstoffe gelangen obendrein in die Nahrungskette und nagen unerbittlich an den Fundamenten der Stadt. Da klingt es vergleichsweise harmlos, wenn man hört, dass die mit Reinigungsmitteln belasteten Abwässer Venedigs immer noch unzureichend geklärt in die Lagune fließen.
Im Sommer 1998 hatte es der italienische Staatsanwalt Felice Casson riskiert, die veralteten Chemiefabriken von Porto Marghera, die u. a. Monovinylchlorid, den hochgiftigen Ausgangsstoff für PVC produzieren, durch eine gerichtliche Verfügung stillzulegen. Aber Massenproteste der Chemiearbeiter und die Interventionen der Eigentümer haben ein Obergericht bereits nach drei Tagen veranlasst, die rigorose Verfügung wieder auszusetzen. Daraufhin begann ein nicht enden wollender Mammutprozess gegen die Giftfabriken von Porto Marghera, der sich auf eine 500 Aktenordner umfassende Untersuchung stützte, die den Titel „Im Namen des vergifteten Volkes“ trug. Das war nicht übertrieben, denn zu diesem Zeitpunkt waren bereits über 150 Werksangehörige an den giftigen Monovinylchlorid-Dämpfen gestorben. Erst 2006 endete der Prozess mit einem Teilerfolg für die Ankläger um Felice Casson. Die Familien der verstorbenen Chemiearbeiter wurden entschädigt, aber die Umweltverbrechen der Chemiekonzerne blieben ohne gerichtliche Konsequenzen.
Zurück bleibt die Tatsache, dass die Giftansammlungen in der Lagune eine ebenso große Bedrohung darstellen wie das Hochwasser; beide Probleme sind eng miteinander verschränkt und können nicht getrennt voneinander gelöst werden.