Die Karnevalszeit beschert Venedig einen regelrechten Ausnahmezustand
Der venezianische Karneval ist das absolute Hauptfest der Stadt. Er beginnt am Freitag, zwölf Tage vor dem Aschermittwoch (dem Anfang der österlichen Fastenzeit) und geht in seinen Ursprüngen weit in die Geschichte Venedigs zurück. 1797, im tragischen Jahr der Auflösung der unabhängigen Republik, verbat Napoleon den venezianischen Karneval und nahm der eroberten Stadt damit auch symbolisch die Freiheit. In den 30er-Jahren des 20. Jh. wurde das traditionelle Fest der Masken zaghaft im Rahmen des Theaterfestivals wiederbelebt. Aber als ausgelassenes Straßenfest - wie wir es heute kennen - wird es erst wieder seit 1979 gefeiert. Mittlerweile gehört Venedig zu den internationalen Hochburgen des Karnevals und zieht Heerscharen von Schaulustigen und Karnevalisten aus aller Welt an. Für viele Venezianer ist das überschäumende Kostüm- und Maskenspektakel alljährlich ein Grund zur Flucht aus der Stadt. Touristen, die kein spezifisches Interesse am Karnevalstreiben haben, sollten es ihnen gleichtun und die Stadt meiden.
Karnevalisten aber werden ihre große Freude haben. Sie erwartet in den zehn Festtagen ein überwältigendes Programm mit historischen Umzügen, Maskenbällen, Straßenfesten, Feuerwerken und künstlerischen Darbietungen; ganz zu schweigen von den unzähligen spontanen und privaten Aktivitäten überall in der Stadt. Jedes Jahr steht ein neues Motto im Mittelpunkt des Karnevals, das die Organisatoren und Teilnehmer immer wieder zu neuen Inszenierungen, Dekorationen, Verkleidungen und Masken anregen soll. Im Jahr 2000 stand der Karneval beispielsweise unter dem Motto „Die unsichtbaren Städte“, das von der gleichnamigen Erzählung Italo Calvinos inspiriert war: Auf sieben verschiedenen Plätzen der Stadt wurden sieben märchenhafte Stadtfantasien inszeniert, die auf Marco Polos Gespräche mit dem Mongolenherrscher Kublai Khan anspielten.
Karnevalsinformationen unter www.carnevale.venezia.it.
Historische Masken und Kostüme
Abgesehen von den unzähligen Fantasiemasken, die man zur Karnevalszeit an allen Ecken bestaunen kann, stößt man auch immer wieder auf die traditionellen Verkleidungen. Der Klassiker ist die vornehme Maschera nobile, die im 17. und 18. Jh. getragen wurde. Sie besteht aus der schwarzen Kapuze (Bauta), die das Gesicht freilässt; hinzu kommen ein schwarzer, mit weißen Federn geschmückter Dreispitz (Tricorno) sowie ein langer schwarzer Mantel (Tabarro), während eine weiße Halbmaske (Volto) mit schwarzem Spitzentuch am unteren Rand das Gesicht verdeckt. Getragen wurde die Maschera nobile früher von Männern und Frauen aller Gesellschaftsschichten, und die übliche Anrede für derart Verkleidete lautete „Sior maschera“ (Maskierter Herr), ganz unabhängig von Stand, Alter oder Geschlecht - denn die Maske machte alle gleich.
Aus der Zeit der verheerenden Pestepidemien stammt der Medico della peste (Pestarzt). Charakteristisch für diese Verkleidung sind der tief gezogene Schlapphut und die überlange Schnabelmaske, die mit einem Atemschutz aus Baumwollgewebe gefüllt ist. Nach und nach mischten sich dann auch die beliebten Hauptfiguren aus der Commedia dell’Arte unter das bunte Karnevalsvolk. Am bekanntesten ist wohl der Arlecchino - wer kennt es nicht, das farbenfrohe Harlekinkostüm mit dem Rautenmuster. Dazu gesellten sich der einfallsreiche Diener Brighella, der prahlsüchtige Capitano mit der bunt gestreiften Uniform und die kokette Dienerin Colombina sowie der geizige Kaufmann und unermüdliche Schürzenjäger namens Pantalone. - Und gerade dieser Pantalone, der in der Commedia dell’Arte den Typus des venezianischen Kaufmanns verkörpert, ist es, der am letzten Tag des Karnevals, am Dienstag, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird, bevor um Mitternacht das Concerto delle ceneri (Aschenkonzert) den Karneval endgültig beendet.
Zu Recht gilt der venezianische Karneval als das schönste Maskenfest der Welt, denn das alles beherrschende Utensil ist die Maske, und die Vielfalt in der sie alljährlich zu sehen ist, sprengt alle Vorstellungen. Die Maske symbolisiert den Urwunsch des Menschen, sich zu verwandeln, seine Persönlichkeit abzustreifen, in eine andere Rolle zu schlüpfen und dabei unerkannt zu bleiben - und der Karneval lässt diese Vorstellung für eine kurze Zeit Wirklichkeit werden. Fantasievoll, heiter und zum Teil betörend ist der Aufmarsch der Masken zur Karnevalszeit, und wer dran teilnimmt, sollte seine Maske nicht vergessen, sonst muss er sein wahres Gesicht zeigen.