Es scheint mehr zwischen grau melierten Schläfen zu passieren, als gemeinhin vermutet wird: Das Gehirn wird leistungsfähiger. Zahlreiche Langzeitstudien belegen, dass sich Wortschatz, verbales Gedächtnis und räumliches Vorstellungsvermögen mit den Jahren verbessern. Zwischen dem vierzigsten und sechsundfünfzigsten Lebensjahr erzielt der Mensch diesbezüglich die besten Ergebnisse. Zwar ist er leichter abzulenken, lernt langsamer und braucht mehr Pausen als früher, aber grundsätzlich optimiert sich vieles. Und neue Stärken entwickeln sich, beispielsweise die Fähigkeit, Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten schneller zu erkennen, das heißt, in kürzester Zeit einen umfassenderen Überblick über Sachverhalte zu bekommen. Das geschieht weitgehend ohne viel Nachdenken, vielmehr stellt sich ein klares Gefühl ein, was zu tun ist: Die Intuition verbessert sich. Interessanterweise werden auch Alarmglocken, die früher in bestimmten Situationen Sturm läuteten, im Alter leiser. Die Amygdala folgt dem Gesamtsystem und ist ebenfalls ruhiger und entspannter, die Stressresistenz nimmt zu. Menschen werden mit den Jahren verträglicher, gewissenhafter und emotional stabiler. Für diesen Reifezustand des Gehirns entwickelte der Schwede Lars Tornstam ein Konzept, Gerotranszendens. Seine kontroverse Theorie geht davon aus, dass die Menschen in eine Art Altersweisheit hineinreifen, die einen inneren Perspektivwechsel mit sich bringt. Der Fokus verschiebt sich vom Materialistischen und Rationellen zum Kosmischen und Spirituellen. Die eigene Identität verändert sich, und eine neue Weltanschauung, die mehr Ruhe und Zufriedenheit ins Leben bringt, manifestiert sich. Gerotranszendenz ist Weisheit, eine kaum greifbare Kombination aus Auffassungsgabe und Erfahrungswerten, Urteilsvermögen und Bildung. Das Resultat des Ganzen ist eine bewusstere Art der Existenz und das sichere Urteilsvermögen darüber, was realistischerweise erwartet und geleistet werden kann und was getrost ignoriert werden darf.
Auch der Sex, der inzwischen längst nicht mehr so wild vonstattengeht wie früher, und die Beziehung verändern sich. Man hat jetzt Zeit - Qualitätszeit, die nach eigenen Vorstellungen mit den angenehmen Dingen des Lebens gefüllt werden kann. Während das eine Paar richtig findet, weiterhin Sex zu haben, hören andere lieber auf. Sinnvoll wäre es allerdings, vernünftig über das Thema zu sprechen, statt alles dem Zufall zu überlassen oder sich mit unausgesprochenen Entscheidungen abzufinden, unter denen einer der Partner leidet. Wie ist es aber überhaupt um den Sex in langjährigen Paarbeziehungen ab einem gewissen Alter bestellt? Ist irgendwann vielleicht einfach Schluss? Das kann in der Tat sein, muss aber nicht - die meisten machen jedenfalls weiter.
HEHR ZEIT - WENIGER LUST?
Ein verliebtes Paar um die sechzig hat mehr Sex als ein gleichaltriges Paar, das schon 20 Jahre Beziehung hinter sich hat. Nicht das Lebensalter, sondern die Dauer der Beziehung scheint den Sex zu bedrohen. Statistiken belegen aber eindeutig, dass entgegen der allgemeinen Überzeugung die meisten Menschen mit 60 Jahren noch Geschlechtsverkehr haben, nur verändert sich etwas. Die meisten Studien zeigen, dass 56- bis 65-Jährige sexuell reger sind als 18- bis 25-Jährige. Generell steigt die sexuelle Aktivität bis sechsundzwanzig, bleibt dann auf einem relativ konstanten Niveau, bevor sie ab fünfundfünfzig kontinuierlich abnimmt. Erst ab fünfundsechzig nimmt die Sexfrequenz deutlich ab. Nun geht es viel mehr um Qualitätssex, um eine ganz persönliche Zufriedenheit; letztere verringert sich im Alter nur leicht. Einige können sexuell nämlich nicht mehr so wie bisher, finden sich mit der Situation jedoch leichter ab als früher. Was aber, wenn sich doch noch der Wunsch nach mehr regt? Kaum jemand kennt sich mit den Veränderungen aus, die das Altern in dieser Hinsicht mit sich bringt. Deswegen werden vorhandene Möglichkeiten zur Problemlösung oft nicht genutzt und viel Potenzial verschenkt.
Die emotionale Qualität der Beziehung und die Sexualität stehen in einer komplexen Wechselwirkung zueinander. Hat ein Paar zum Beispiel eher selten oder nie Sex, obwohl einer der Partner eigentlich häufiger möchte, verschlechtern sich allgemeine Stimmung und Beziehung gleichermaßen, und die Sexfrequenz sinkt noch weiter. Wer dagegen guten Sex hat, ist oft weniger empfindlich, wenn es um die Macken des Partners geht. Die Alltagsstimmung ist leicht, und die Partner sind im Kontakt, körperlich wie emotional. Auch Paare, die sich im beiderseitigen Einvernehmen damit abgefunden haben, keinen Sex mehr zu haben, führen oft ruhigere Beziehungen, weil nicht mehr über die Sexabstinenz diskutiert wird. Streit kann aber auch durch erhöhte Spannung und vergrößerte emotionale Distanz zu mehr Sex führen, »Versöhnungssex« eben. Die Faktoren Gesundheit und Beziehung beeinflussen in hohem Grad die sexuelle Aktivität einer Person. Und wer in einer Partnerschaft lebt, kann sich ohnehin darüber freuen, dass die allgemeine Lebenszufriedenheit mit steigendem Alter ebenfalls zunimmt.
Was ist entscheidend dafür, ob sich jemand wohlfühlt oder nicht - und was ist ein zufriedener Sexpraktiker (ZS)? Ein ZS hat im Laufe der letzten zwölf Monate mehrere sexuelle Berührungen gehabt und lebt in einer Partnerschaft. Körperlich und geistig ist er gesund sowie emotional in der Lage, in der Beziehung eigene Wünsche zu äußern. Er kann lieben, ist aufgeschlossen und vertrauensselig. Personen mit diesen Eigenschaften und Merkmalen erreichen meist freudestrahlend die Lebensziellinie und sehen dabei laut Untersuchungen oft zehn bis zwölf Jahre jünger aus als Gleichaltrige. Der männliche ZS empfindet sich häufig selbst als wenig aufdringlich und verfährt gern nach der Devise »Alles kann so bleiben, wie es ist«. Experimentieren ist nicht seine Sache. Die weibliche ZS erweist sich ihrem Partner gegenüber nicht als übertrieben fürsorglich, aber auch nicht als abweisend oder kalt. Sie besteht in jedem Fall auf emotionaler Nähe, und falls sie diese bei ihrem Partner erlebt, hat sie häufiger Lust, wird schneller feucht und hat mehr Orgasmen.
Nörgel-Koeffizient Mit der durch Studien belegten GottmannTechnik sorgt man in der Beziehung für gute Stimmung, indem man Kritik homöopathisch dosiert. Das perfekte Verhältnis beträgt 5:1, das heißt fünf positive Kommentare pro negative Bemerkung. Nach ein paar Jahrzehnten Beziehung kennt man eigentlich alle Schwächen des Partners, und gerade weibliche Wesen tendieren oft dazu, überkritisch zu werden. Männer reagieren auf ständiges Nörgeln, indem sie den Kontakt vermeiden. Sie haben das Gefühl, den Anforderungen ihrer Frau nicht zu genügen. Sein Rückzug macht sie dann nur noch unzufriedener, und gemeinsam landen sie in einer Negativspirale: Beide Partner bekommen nicht die Liebe und Zuneigung, die sie sich wünschen.
Beim Sex geht es um das Zwischenmenschliche: Nähe und Kontakt spielen eine große Rolle. Und es geht um Kommunikation, am besten auf mehreren Ebenen. In vielen Langzeitbeziehungen aber ist der kommunikative Austausch ins Stocken geraten. Nicht selten kommt es dann zur Beendigung der Sexualität und anderer Zärtlichkeiten.
Zärtlichkeit wird zum wichtigen Klebstoff für die Beziehung. Ein Viertel aller älteren Deutschen lebt laut eigener Aussagen ganz ohne dieses Gefühlselixier. Bei zärtlichen Berührungen wird das »Kuschelhormon« Oxytocin in großen Mengen ausgeschüttet. Dadurch reduziert sich das »Stresshormon« Cortisol. Bei Männern wirken diese Substanzen sogar noch länger nach als bei Frauen: Bis zu 24 Stunden hält der positive Effekt auf Körper und Geist bei ihnen an. Auf Liebkosungen reagieren Nerven, die Informationen für Gefühle an das limbische System senden. Das sanfte Streicheln wird dort als angenehm registriert und als emotional gefärbte Berührung gedeutet. Genau das scheint den wohltuenden Effekt im Körper hervorzurufen: Liebe und Zuneigung eben. Damit der körpereigene Stimmungscocktail spritzig bleibt, können Paare selbst etwas tun, Händchenhalten, gegenseitiges Streicheln und tiefe Blicke in die Augen jagen den Pegel der Wohlfühlhormone immer wieder in die Höhe. Diesbezüglich schickt übrigens auch der Orgasmus ein regelrechtes Feuerwerk an Glücklichmachern durch den Körper. Und nicht nur die Zufriedenheit in einer Beziehung steigt, auch der gesundheitliche Zustand beider Partner verbessert sich nachweislich durch zärtliche Berührungen.
GEFÜHLE ZEIGEN
Gerade für Paare im mittleren Alter kommt es häufig zur Nagelprobe. Bei den einen rappelt es im Karton wie nie zuvor, bei anderen wird um den heißen Brei herumgeschlichen. Statt zueinander hin, entwickeln sich die Partner voneinander weg, aus wir wird immer mehr ein ich, weil das Älterwerden jeden auf sich selbst zurückwirft, notgedrungen besinnt man sich auf das eigene Innenleben.
Die Schweizer Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello, eine der führenden Forscherinnen im Bereich des Älterwerdens von Paaren, ist der Ansicht, dass eine Partnerschaft immer aufs Neue definiert werden muss, vor allem in der Lebensmitte, und zwar wegen der vielen biografischen und familiären Übergänge in dieser Zeit. Immer mehr an Bedeutung gewinnt dabei, von seinem langjährigen Partner so geliebt zu werden, wie man wirklich ist, und als ganzer Mensch angenommen zu werden. Wer sich mit dem Partner weiterentwickelt, den erwartet eine spannende Zeit. Dabei gilt: Wer sich mitteilt, zeigt und in Kontakt tritt, gewinnt. Im Endeffekt geht es darum, wie der Einzelne mit Konflikten und auch mit alltäglichen Gefühls- und Gemütsschwankungen umgeht. Ist er eher schweigsam und zieht sich, sooft es geht, von Auseinandersetzungen zurück, behält das meiste für sich? Oder zeigt er sich mit allem, was ihm wichtig ist? Wer in einen ehrlichen und offenen Kontakt gehen möchte, kommt vorerst nicht drum herum, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Das ist schwierig, weil man dazu nachspüren muss und oft eine ganz andere Routine hat, nämlich Wegschauen. Allein schon der Gedanke daran, was beim Blick ins Innere entdeckt werden könnte, macht nervös. Und dann auch noch darauf reagieren? Das könnte für Wirbel sorgen oder sogar für ein Ende der Beziehung. Viele entscheiden sich dann doch lieber für den oft geprobten Schrecken ohne Ende, der läuft immerhin verhältnismäßig leise und im Verborgenen ab. Gesund ist diese Wahl nicht, warum wird sie wohl trotzdem so häufig getroffen?
Der Mensch ist dafür gemacht, Gefühle zu erleben und auszuleben, die wie kurze Signale für Veränderungen funktionieren. Zu unterscheiden, was gut oder schlecht ist, kann lebensnotwendig sein. An Kindern lässt sich gut beobachten, wie einfach das ist: Ein Kind fällt und weint herzzerreißend, hört aber in Sekundenschnelle damit wieder auf, sobald es getröstet wird. Das System arbeitet auch im Todesfall: Wenn ein geliebter Mensch stirbt, hält die Traurigkeit über Wochen und Monate an, aber immer nur für kurze Zeit, bis auf das Signal adäquat reagiert wird. Auf diesen konkreten Fall bezogen muss der Verlust angenommen und losgelassen werden. Erst wenn jemand über längere Zeit traurig ist, und zwar fast dauerhaft, wird von einer ernsthaften Verstimmung oder Depressionen gesprochen. Im gesunden Zustand dauern Gefühle eben nicht lange. Dennoch haben viele Erwachsene offensichtlich große Angst vor ihnen. Der Grundstein dafür wird meist in der Kindheit gelegt. Mädchen wird nach wie vor beigebracht, dass sie sich vornehmlich um andere zu kümmern haben und erst danach, wenn überhaupt, um sich selbst. Ihr Gehirn und die weiblichen Hormone unterstützen diese Erziehung. Jungen bekommen noch immer den alten Spruch »Ein Indianer kennt keinen Schmerz« zu hören. Die Botschaft an beide Geschlechter lautet, sich zusammenzureißen und die Gefühle wegzudrücken. So dauert es nicht lange, bis sie verstanden haben, dass Gefühle Probleme verursachen. Menschen haben ein großes Repertoire an Reaktionen, mit denen sie die Gefühle anderer bewerten und gegebenenfalls ablehnen: Auslachen, Ignoriert- oder Abgewiesenwerden, Liebesentzug als Reaktion auf Wut, Traurigkeit oder sogar Fröhlichkeit, die für manche Menschen nicht auszuhalten ist. Aus den Erfahrungen werden unmerklich Persönlichkeitseigenschaften, die beeinflussen, was wahrgenommen, worauf geachtet und wie etwas bewertet wird. Sie lenken Entscheidungen, Gedanken, Gefühle und Handlungen. Die gelernten Verhaltensmuster zeigen sich dann auch in späteren Beziehungen: lieber den Mund halten, um nicht das Gleiche wie damals erleben zu müssen, nämlich ausgeliefert und abgelehnt zu sein. Das Unterbewusstsein hat sich gut gemerkt, wie es erreicht, dass das Gegenüber positiv reagiert. Wer hiernach lebt und handelt, kann sicher sein, dass er nicht bei sich ist, sondern permanent versucht, es anderen recht zu machen. Leider entsteht dabei das Gefühl, sich auf vertrautem Gelände zu bewegen, weswegen man in jeder Hinsicht die Beziehung erhalten möchte - selbst wenn sie einem nicht guttut. Viele Erwachsene gehen aus Angst davor, verlassen oder nicht gemocht zu werden, über so viele persönliche Grenzen, dass sie psychisch oder körperlich krank werden. Zum Glück ist es nie zu spät für emotionale Autonomie: Jeder kann jederzeit lernen, als unabhängiger und selbständiger Mensch zu agieren und zu reagieren.
PAAR EXCELLENCE
Der renommierte Paar- und Sexualtherapeut David Schnarch, mit fast siebzig selbst ein gereifter Herr, spricht und lehrt seit Jahren von einem Entwicklungsprozess jedes Einzelnen. Er benutzt dafür den Begriff der Differenzierung. In der Partnerschaft geht es dann darum, sich vom anderen zu unterscheiden, indem jeder sich so zeigt, wie er wirklich ist, und nicht, wie der andere einen mutmaßlich haben möchte. Das bedeutet, für sich einzustehen und dadurch mehr in Einklang mit den eigenen Gefühlen und Wünschen zu leben. Dazu gehört es auch, eigene emotionale Reaktionen zu regulieren und sich selbst trösten und beruhigen zu können, das heißt, einen differenzierten Abstand zum Partner zu haben. Er sollte nicht für einen zuständig sein. So entstand der Begriff Versorgungssystem: Viele Paare fühlen einander und die Beziehung unbewusst als automatische Versorgungssysteme, in denen die Erwartungshaltung herrscht, dass der Partner sich um einen kümmern muss. Wenn das System aber zu eng ist, hat das Einfluss auf das sexuelle Verlangen, denn zu nah bedeutet meistens, sich gegenseitig nicht sehen zu können. Wie soll so Lust aufeinander entstehen? Sex ist doch persönlich! Wer sich nicht zeigt, erfährt keine echte Berührung, es entsteht keine Intimität. Vielen bereitet es Schwierigkeiten, sich offen zu zeigen, weil sie dann verletzbar werden - und das verunsichert. Eine der größten Herausforderungen ist daher die Frage: Gehe ich das Risiko ein, abgelehnt oder gar verlassen zu werden?
Von klein auf ist der Mensch auf Bindung aus. Sex ist für Erwachsene die intensivste Form, diese Bindung zu spüren, und gleichzeitig auch die älteste Art, in Kontakt zu treten. Kommunikation liegt den Menschen quasi in den Genen und fand bereits statt, bevor überhaupt Sprachzentren in den Gehirnen existierten. Und heutzutage, da Sex noch nicht einmal mehr für Fortpflanzung nötig ist, könnte diese Begegnung wichtiger sein denn je. Fast alles kann ein Mensch allein, wenn er will, eines aber kann er nicht: sich selbst das Gefühl geben, auch von anderen angenommen zu sein. Dazu bedarf es eines anderen Menschen, besonders eines nahen Lebenspartners. Vielleicht wird dieser deswegen, bewusst und unbewusst, als so überaus wichtig eingestuft, dass der Gedanke, ihn verlieren zu können, wenn man sich in allen Facetten zeigt und er nicht mögen könnte, was er sieht, geradezu angsteinflößend wirkt. Dieses gut funktionierende System möchte man nicht verunsichern. Schnarch rät jedoch dazu, genau das zu tun. Warum das gut und richtig wäre, beschreibt er anhand eines Vergleichs mit dem Reibungspotenzial von Meeresfrüchten: »Die Auster entscheidet ja auch nicht, einfach so eine Perle zu machen! Ihre Ruhe wird von außen gestört. Etwas dringt in sie ein, und durch den Umgang mit diesem Fremdkörper entsteht eine Perle.« Die Schönheit entsteht also durch einen äußeren Reiz.
Wer Unangenehmes zulässt, kann daraus Gewinn ziehen. Es geht nicht darum, einen Streit vom Zaun zu brechen, sondern sich einfach zu trauen, mit einer klaren Meinung an den Partner heranzutreten, selbst wenn davon auszugehen ist, dass keine positive Reaktion folgt. Auf diese Weise entstehen häufig in Augenblicken wundervolle, ehrliche Situationen und Intimität, vor allem, wenn es sich um gefühlsgeladene Angelegenheiten handelt. Die als bedrohlich empfundene Verletzlichkeit gehört zum Leben dazu. Viele denken, es sei schwierig, den Moment zu spüren, in dem sie eigentlich etwas ansprechen und sich zeigen müssten. Dabei stellt sich beim Nachfragen heraus, dass der auslösende Augenblick , in dem die innere Stimmung kippt, genau wahrgenommen wird - es entsteht ein mulmiges Druckgefühl, die Laune verdüstert sich. Man kann auch im Nachhinein Bezug auf den Moment nehmen und mit der Sprache herausrücken. Für viele Menschen ist es eine Herausforderung, Gefühle zu benennen. In diesem Fall kann ein erstes Nachspüren hilfreich sein: Ist es Traurigkeit, Wut, Verletzt- oder Genervtheit? Ist Angst im Spiel? Sofortige Klarheit wird sich kaum einstellen, aber nach und nach wird es einfacher zu erspüren, welches Gefühl dominiert. Danach den Partner mitein- zubeziehen bedeutet nicht, dass ein Lösungsansatz, eine konkrete Fragestellung oder ein definiertes Gefühl benannt werden muss, sondern dass Kontakt zum anderen entsteht. Manchmal wird dabei erst klar, an welcher Stelle der Stachel sitzt. Plötzlich kommt ein Gefühl der Rührung auf, bei bestimmten Worten oder einem Thema steigen einem die Tränen in die Augen. Es tut wohl, das auszusprechen: »Ich spüre gerade, dass das Problem hier liegt...« Die Meldungen aus dem Unterbewusstsein und das eigene Warnsystem zu beachten führt dazu, dass es einem augenblicklich besser geht.
Beziehungshygiene für den Alltag Mit dieser Übung lassen sich ganz einfach intime Gespräche oder Situationen kreieren. Tauscht euch darüber aus, worin für euch jeweils der Höhe- und der Tiefpunkt des Tages bestanden. »Was war heute dein Bestes und dein Schlechtestes? Meins war.« Das Beste kann übrigens von der kleinen Biene beim Kaffeetrinken auf dem Balkon bis zum Kompliment des Partners für den neuen Haarschnitt oder dem gut verlaufenen Bewerbungsgespräch reichen - alles ist möglich. Nicht selten gibt es kleine und große Überraschungen darüber, was für den anderen schön war und was eben nicht. Und keiner zwingt euch aufzuhören, wenn daraus tiefer gehende Gespräche entstehen.
Eine andere Übung könnt ihr bei Verstimmungen und Missverständnissen anwenden. Manchmal hilft Schreiben, um besser reden zu können. Legt euch dazu ein Heft an und nehmt euch, jeder für sich, in Krisensituationen zehn Minuten Zeit, um Gefühle und Gedanken zu Papier zu bringen. Versucht, ganz bei euch zu bleiben und dem anderen keine Vorwürfe zu machen. Formuliert lieber einen Wunsch, dessen Erfüllung euch beim Loslassen des belastenden Moments helfen würde. Dann lest euch vor, was ihr geschrieben habt, ohne einander zu unterbrechen. Auf diese Weise könnt ihr eure Beziehung von Alltagsmief befreien und immer mal wieder frischen Wind ins Versorgungssystem bringen.
Liebe und Intimität unterliegen einer Gummibanddynamik: Es geht auf und ab und bleibt in Bewegung - mal ist mehr und mal weniger davon vorhanden. So wie Lust und Begehren entstehen, wachsen und vergehen auch Liebe und Intimität, und beide sind sie eng mit Stress gekoppelt. Wenn also die Stimmung einmal für ein paar Tage sinkt, bedeutet es nicht gleich, dass die Beziehung gefährdet oder zu Ende ist, sondern es ist schlicht die Art, wie Liebe funktioniert. So ist sie immer spürbar, und die Sehnsucht, mit dem anderen intim zu werden, wächst. Auf Dauer empfiehlt es sich, Energie zu investieren, um dem anderen noch näher zu kommen, und neugierig nachzufragen, worum es ihm wirklich geht, auch wenn man denkt, ihn in- und auswendig zu kennen.
Stimmungswechsel Schreibt euch die folgenden Fragen auf Karteikarten und setzt euch gemütlich einander gegenüber. Gestaltet die Szene wie einen Talkshow-Dialog. Ein Partner hat die Karten und schlüpft als Erster in die Rolle des Moderators, er interviewt seinen Gast. Danach werden die Rollen getauscht, und das Spiel beginnt von vorn. Spürt nach jeder Frage und beim Antworten nach, wie Gefühle und Stimmungen wechseln.
• Welche Stärke bringe ich in unsere Beziehung?
• Wie war der Moment, in dem du wusstest, dass ich diejenige/ derjenige welche(r) bin?
• Gab es eine Phase in unserer Beziehung, in der du den Eindruck hattest, dass wir mehr Aufmerksamkeit und Zeit füreinander gebraucht hätten?
• Wie zufrieden bist du mit der Menge an Zeit, die wir miteinander jetzt verbringen?
• Wie könnten wir in deinen Augen ein besseres Paar werden?
• Was macht dir im Hinblick auf unsere Zukunft am meisten Angst?
• Was haben wir früher gemacht, was dir jetzt fehlt?
ZU ZWEIT VEREINT
Intimität und Differenzierung haben mit Nähe und Distanz zu tun. Häufig sind es emotional sehr enge Beziehungen, in denen die gemeinsame Sexualität leidet oder ganz einschläft. Solche Paare erklären oft, dass sie alles zusammen machen und sich über alles lieben: »Wir sind ein Herz und eine Seele!« Es sind Partner, die in ihrer emotionalen Befindlichkeit geradezu eine Abhängigkeit voneinander zeigen. Sie brauchen stets positive Rückmeldungen anderer, besonders des Partners, um sich wohlzufühlen. Anfänglich können diese Nähe und Fürsorge mächtige Aphrodisiaka sein. Nach einiger Zeit wird daraus allerdings oft ein klammerndes »Ich brauche dich!« - und das ist nicht besonders sexy! Aus einem gegenseitigen Sich-Brauchen freizukommen ist schmerzhaft, ist aber nötig, vor allem, wenn man die sexuelle Energie innerhalb einer Beziehung erhalten möchte. Ganz konkret bedeutet es also, das Verschiedensein auszuhalten.
Die Sehnsucht nach Nähe, Liebe und Geborgenheit und den gleichzeitigen Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit kennt fast jeder. Paare bewegen sich entlang einer Skala dazwischen: Einerseits Symbiose und Bindung, also Beziehungen, deren Partner anhänglich und im schlechtesten Fall zu wenig bei sich selbst sind, und andererseits Beziehungen oder Affären, in denen Differenzierung und Selbstbestimmung vorhanden sind, aber vielleicht manchmal zu großer Abstand herrscht und zu wenig Interesse am anderen. Es ist für jeden eine alltägliche Gratwanderung, eine gesunde Balance zwischen den beiden Bedürfnisenden zu finden, besonders wenn ab einem bestimmten Alter beide Partner den ganzen Tag zu Hause sind. Wem es gelingt, gut auf die neue Situation zu reagieren, der klebt weder am Partner, noch flieht er oder sie vor intimen beziehungsweise intensiven Paar-Momenten oder Gesprächen. Wenn Abstand sowohl in emotionaler als auch räumlicher Hinsicht für ein Paar nicht zu Unsicherheit und Angst führt, kann er für das eigene Verlangen genutzt werden. Gab es beispielsweise Streit, einer der Partner ist beruflich unterwegs oder allein im Urlaub, dann träumt jemand, der gut mit Distanz umgehen kann, entspannt von dem, was alles passieren wird, wenn man wieder zusammenkommt. Und geht es einem der Partner schlecht, kann der positiv Distanzierte mitfühlend sein, verinnerlicht jedoch die Gefühle des anderen nicht, sondern bleibt emotional unabhängig. Sexuelle Anziehung und Begierde werden überhaupt nur möglich, wenn sich zwei Individuen aus einer gewissen Distanz in ihrer Einzigartigkeit begegnen. Es lohnt sich auf einmal, den anderen zu verführen, ihn näher kommen zu lassen.
Was ist dran am Mythos der Verführung? Das ist der Stoff, aus dem Hollywood Träume webt: attraktive Hauptfiguren, die in idealer Szenerie aufeinandertreffen, beneidenswerte Körper, die erotisch aufs Vorteilhafteste verhüllt sind. Kerzenschein, Luxushotel, Strand, Vollmond, Designermöbel und Musik - immer der passende Soundtrack, die Protagonisten können es kaum erwarten, übereinander herzufallen, um dann stundenlang hemmungslosen Sex miteinander zu haben. Danach sind alle verliebt - auch die Zuschauer, und zwar vor allem in das Konzept des vollkommenen Glücks. Im wirklichen Leben dagegen warten Leute darauf, dass das Gegenüber anfängt oder etwas von alleine passiert, wie beim Kennenlernen. Nach einer gewissen Zeit des Zusammenseins muss dabei aber nachgeholfen werden. Die Vielfalt der verführerischen Momente ist groß, doch nicht selten wird Verführung mit Manipulation gleichgesetzt. Auch lässt sich die Angst vor der möglichen Ablehnung nicht so einfach abschütteln, niemand möchte gern bloßgestellt werden.
Erotische Verführung ist eine Kunst, die gelernt sein will. Deswegen wird auch von klein auf trainiert. Wer kennt nicht die großen runden Kinderkulleraugen in den strahlenden, erwartungsvollen Ge- sichtchen, die ein »Bitte, bitte« so hinreißend untermalen und so lange nicht lockerlassen, bis nachgegeben wird und die kleinen Biester bekommen, was sie wollen? Genau das ist perfekte Verführung. Diese Fähigkeit ist unentbehrlich, will man Erotik in einer langjährigen Beziehung lebendig halten. Jeder sollte sich täglich selbst fragen, auf welche Art er oder sie sich liebenswert, attraktiv und sexuell begehrenswert zeigen kann. Bedürfnisse und Wünsche lassen sich mittels bewusst verführerischer oder auch ganz normaler Kommunikation mitteilen, nicht nur durch Worte, sondern auch mit Gesten, Emotionen und Verhalten. Verführung bedeutet, genau zu wissen, was man will, aber auch die Bedürfnisse des Partners zu erkennen und zu berücksichtigen. Denn der Partner soll ja gerne mitmachen. Halbherzigkeit wird häufig zum Verhängnis. Wer zum Beispiel zu früh wieder aufgibt, weil er sich nicht traut, zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen, er sich sowieso vorher keine Gedanken gemacht hat oder erwartet, dass der andere sie auch unausgesprochen lesen kann, reagiert aus Enttäuschung oft mit Antiverführung. Dabei ist die unwillkürliche Reaktion auf die gefühlte Ablehnung genau die, die sie nicht sein sollte. Für den Partner endet die Antiverführung nicht selten damit, dass er zwar mitmacht, aber nicht von Herzen, sondern widerwillig, was mit der Zeit meist zur Ablehnung seinerseits führt, mitunter sogar zur Aversion.
Antiverführung Eiseskälte verbreiten, Bestrafung, Beschimpfung, Vorwürfe, Provokation, Beleidigtsein, dem Partner ein schlechtes Gewissen machen, Hysterie, Betteln, Kletten, Forderungen stellen, den anderen analysieren, Zickereien, Ungeduld, Sex- oder Liebesentzug, Rückzug, Ablehnung, Geben, was man eigentlich selbst bekommen möchte, nächtelange Diskussionen, Infragestellung der Männlichkeit beziehungsweise der Weiblichkeit des Partners, Erziehen wollen, Schweigen, Kritisieren, Erklärungen verlangen und in Zweifel ziehen - und, und, und...
In Beziehungen wird Antiverführung zur Negativspirale, es sei denn, einer der beiden Partner durchbricht den Teufelskreis. Natürlich denkt in so einer Atmosphäre kaum jemand an Erotik. Konstruktiver wäre es, sich durchgehend von einer liebevollen Seite zu zeigen, auch wenn es schwerfällt. Ist die Grundstimmung zwischen den Partnern gut, wird spielerisch schon bald ein neuer Versuch erfolgen, schließlich war das, was gerade abgelehnt wurde, ein »gutes Angebot«. Der gute Verführer rechnet immer damit, dass es auch nicht gelingen könnte - und weiß, dass er damit leben könnte.
Im wirklichen Leben hat das Initiieren von Sex in einer Partnerschaft viele Gesichter: »Ich mache die Tür zu, das tut sonst er!« oder »Ich trage das ganz bestimmte T-Shirt... oder eben keins!« »Ich gehe zuerst ins Bett und bin dann noch wach, wenn er kommt, manchmal dauert das sehr lange« oder: »Sie geht dann immer vor mir ins Bett, ich räume dann in der Küche rum, bis sie fest eingeschlafen ist - das dauert manchmal ganz schön lange!« Auch direkte Verführungsvarianten gibt es: »Er fasst sofort an die Brustwarzen«, oder sie sagt ohne Umschweife: »Wir müssten eigentlich auch mal wieder Sex haben!« Es geht unendlich weiter: » .weil sie sich länger im Bad aufhält als sonst« oder »weil sie sofort das Licht ausmacht, dann will sie heute schon mal lieber mich als den Krimi!« Lässt sie dagegen das Licht an und holt das Buch aus dem Nachtschrank, weiß er, dass heute nichts mehr geht. Offensichtlich hat jedes Paar seinen eigenen Sprach- und Verhaltenscode, um dem anderen mitzuteilen, dass er oder sie Lust hat, mit ihm zu schlafen - oder eben nicht.
Zunächst wäre es gut, ein paar Reizpunkte zu setzen. Es geht darum, eine erotische Stimmung aufzubauen, ein Signal zu geben, dass man den anderen gerade nicht nur als besten Freund oder Freundin wahrnimmt, sondern auch als sexuelles Wesen. Dabei muss es überhaupt nicht gleich zum Sex kommen. Im Gegenteil, für viele Paare ist es sogar besser, wenn sie üben, Reizpunkte zu setzen, die nicht gleich zum Sex führen. Dadurch verringert sich der (Erwartungs-) Druck, denn nicht wenige haben längst aufgehört, den Partner zu umarmen, zu küssen und anzufassen, weil sie meinen, dass er dann gleich mehr will, frei nach dem Prinzip »Kleiner Finger, ganze Hand«. Wer oft abgelehnt wurde, hofft natürlich auf mehr, wenn die Stimmung zur Abwechslung mal sexuell wird. Deswegen kann es für beide Partner wichtig sein, die reizende Situation klar abzugrenzen. Dazu reicht die Vereinbarung, dass es nicht gleich weitergehen darf. Der Sex folgt erst später oder eben nicht, damit müssen beide dann leben - oder bei sich selbst Hand anlegen. In der Zwischenzeit kann die sexuelle Energie, die entsteht, schlummern und vor sich hin glühen - und ganz bald anheizend wirken. Wirkungsvolle Reizpunkte könnten innige Umarmungen sein, bei denen man ganz leicht, fast unauffällig, das eigene Geschlecht gegen den anderen drückt, oder man lässt die Hände langsam zum Po gleiten, spannt kurz an, um den Körper des anderen etwas näher zu sich heranzuholen. Auch ein Kuss in den Nacken, ein Finger, der zärtlich den Hals hinabfährt, oder kleine Seufzer, während am anderen geschnuppert wird, können reizend wirken, ebenso wie ein Kompliment darüber, wie er gerade auf sie wirkt. Oder man legt beim Aufwachen ganz behutsam eine Hand auf das Geschlecht des Partners. Dieses Repertoire lässt sich beliebig von jedem selbst ausprobieren und erweitern.
In länger dauernden Beziehungen gehen diese Dinge oft verloren. Viele haben kein Bewusstsein dafür, verführt zu werden oder selbst zu verführen. Zum Glück ist es jederzeit möglich, das Einerlei mit einer Prise Erotik zu würzen. Das können auch Menschen, die noch nicht gelernt haben, sexuelle Wünsche und Bedürfnisse zu artikulieren, weder durch Körpersprache noch mit Worten. Es beginnt im Kleinen mit dem simplen Versuch, den anderen auf sich aufmerksam zu machen und im weiteren Verlauf erotisch zu verführen.
EROTIK: HUHN ODER FEDER?
Laut Duden ist Erotik »den geistig-psychischen Bereich einbeziehende Liebe; Liebes-Geschlechtsleben«. So faktisch, wie der deutsche Sprachwächter klingt, so plastisch wirkt die Beobachtungsgabe einer dänischen Autorin: »Erotik ist, wenn man mit einer Feder streichelt, Porno, wenn man das ganze Huhn nimmt.« In jedem Fall wird sie durch Subtilität gekennzeichnet. Je feiner, versteckter und vorsichtiger, desto auf- und erregender kann die Wirkung sein, besonders im Zwiegespräch. Erotik entsteht manchmal durch Blicke, Bewegungen oder einfach über eine bestimmte Art der Berührung. Sie entwickelt sich vielleicht über ein kleines Spiel oder eine Interaktion, die sexuelle Energien aufkommen lässt. Bemerkenswert ist, dass dieselbe Berührung einmal als angenehm erotisierend und ein anderes Mal als abtörnend erfahren wird. Ob etwas als erotisch erlebt wird, hängt nämlich nicht nur davon ab, was gerade gemacht wird, sondern davon, wie diese Handlung bewertet wird. Einfühlungsvermögen macht dabei einen großen Unterschied. Wenn beim Streicheln das Gefühl entsteht, dass eher unbeteiligt oder zufällig herumgefummelt, Routine abgespult oder nur getestet wird, ob eventuell noch mehr geht, fällt bei vielen der Vorhang. Wenn dagegen ein Gefühl für den anderen spürbar ist, eine körperliche Kommunikation entsteht und wirkliche Berührung stattfindet, wird es spannend.
Im Grunde ist es eine Frage von Aktion und Reaktion. Und immer wieder sollte man in sich hineinspüren. Mit dem geduldigen Spiel der Hände, mit Blicken und Atem sowie wechselnder Muskelspannung, Bewegungen und Rhythmik wird der Körper des anderen wachgeküsst, umarmt und berührt. Die unterschiedlichen Wege, sich dem Partner erotisch zu nähern, haben jeweils eine eigene Wirkung auf das Liebesspiel. Erotisch ist es allemal auch, sich dem anderen als sexuelles Wesen zu zeigen. Vielen ist aber nicht klar, was sie tun müssten, um eine erotische Wirkung zu entfalten. Sie wissen auch nicht, wie sie Intimität herstellen oder den Partner ohne Worte dazu einladen können, eine persönliche Nähe aufkommen zu lassen, in der sexuelle Energien entstehen können. Dabei gibt es dafür unzählige Möglichkeiten und auch Lernschritte, die oft gar nicht mit dem Thema in Zusammenhang gebracht werden. Es ist zunächst von Belang, dass man sich im eigenen Körper wohlfühlt. Wer sich als erotisches Wesen präsentieren möchte, braucht eine Idee davon, dass das, was er zeigt, auch beim Gegenüber Gefallen findet, damit der andere überhaupt gern in Kontakt treten möchte. Oft spielen Grübeleien, Unwissenheit und Vorurteile eine Rolle, wenn es darum geht, auf jemanden erotisch wirken zu wollen. Deswegen bleibt das Licht im Schlafzimmer häufig aus. Außerhalb des Bettes entsteht dafür ein umso klarerer Eindruck davon, ob sich jemand begehrenswert fühlt. An der Art des Gehens, Stehens und Bewegens wird sichtbar, ob ein Mensch zufrieden mit sich ist und weiß, was er Tolles zu bieten hat, auch sexuell. Das ist erotische Anziehungskraft. Er oder sie zeigt sich gern und lässt sich anschauen.
Ein anderer Begriff, der häufig in einem Atemzug mit Erotik und Verführung genannt wird, ist das sexuelle Begehren. Bevor jemand wirkliche Begierde spüren kann, hat er in der Regel die vier folgenden Aspekte gelernt:
• das bloße Spüren von Erregung,
• das eigene Geschlecht lustvoll willkommen zu heißen,
• das Gefühl, vom Partner und dessen Geschlechtsteil angezogen zu werden,
• sehnsuchtsvolle Distanz.
Auch das Gespür an sich gehört zur Begierde. Wer wenig spürt, wird in jeder Hinsicht weniger wollen. Das Empfinden von genitaler Lust bei Männern - also mit dem Penis wirklich zu fühlen, wie er Millimeter für Millimeter eindringt oder wie er intensiver bewegt wird - kann für einen älteren Mann und den Erhalt seiner Erektion sehr wichtig werden. Mehr Erregung, das heißt mehr Gefühl, ist nötig, um den Penis über längere Zeit aufrecht zu halten. Wer weniger imstande ist wahrzunehmen, wird vielleicht mechanisch und krampfhaft versuchen, den Orgasmus mit schnellen Bewegungen zu erjagen, doch der ist mit steigendem Alter des Mannes immer schwieriger einholbar. Apropos schnelles Bewegen: Für Frauen bedeutet es, dass sie weniger empfinden, wenn ein Mann erst einmal eingedrungen ist und sich mechanisch bewegt. Sie kann es als Leidenschaft verbuchen, dass es so zugeht, aber die Zellen in ihrer Vagina reagieren bekanntermaßen größtenteils auf langsamere Bewegungen. Vielleicht liegt hier die Antwort darauf, warum Frauen in diversen Untersuchungen immer wieder äußern, dass sie sich eher Zärtlichkeit oder andere sexuelle Praktiken als Geschlechtsverkehr wünschen. Wie bereits erwähnt, begehrt man nichts, was einem nicht besonders gefällt. Tatsache ist aber, dass Frauen, die gelernt haben, sich über eigene Bewegungen vaginal zu erregen, auch mit einem rammelnden Mann ihr Vergnügen haben können.
Aufgrund des schamvollen Umgangs vieler Frauen mit ihrem eigenen Geschlecht wird es für sie schwierig, sich dem Partner stolz mit gespreizten Beinen zu zeigen oder ihn womöglich noch näher herankommen zu lassen. Sie fühlen sich selbst nicht wohl mit ihrem Geschlechtsorgan und haben gerade für die Vagina kein Bewusstsein - sie ist nicht bewohnt. Es will gelernt sein, Genuss damit zu verbinden, jemanden in sich zu begrüßen, ihn aufzunehmen und penetriert zu werden. Und wem das zu passiv klingt, dem sei versichert, dass eine aktive Vagina den Penis sogar förmlich anziehen und kraftvoll rannehmen kann. Spürdefizite betreffen aber nicht nur Frauen, auch Männer können bezüglich des eigenen Geschlechts oft dazulernen. Nicht wenige finden ihren Penis zu klein, zu kurz, zu dünn oder bemängeln einen Knick. Dabei haben sie keine Ahnung, ob ihre Kritik tatsächlich angebracht ist, weil ihre Messlatte aus Pornostreifen stammt. Dazu kommt, dass Männer sich oft jahrelang auf die hormonelle Automatikfunktion ihres Glieds verlassen und keinen Gedanken auf ihr bestes Stück verwenden. Das eigene Geschlecht bewusst zu genießen, intensiv zu spüren und liebevoll zu behandeln kann auch für Männer eine ausgesprochen neue und unerwartete Erfahrung sein, ebenso wie das bewusste Eindringen mit Genuss. Nicht wenige verbinden das kraftvolle Nehmen, das Penetrieren, mit etwas Negativem oder Unerlaubtem, weil sie annehmen, dass es zu viel oder zu heftig für die Partnerin sein oder als Macho-Gehabe empfunden werden könnte. Um als aktiver Mann wohlwollend, intensiv und genussvoll zu penetrieren, bedarf es einiges mehr, als nur seinen Penis irgendwo reinzustecken. Sexuelle Intensität an sich selbst anzunehmen und auch daran zu glauben, dass der Partner genau das erleben möchte, wird erst mit der Zeit gelernt.
Nicht nur das Erotisieren des eigenen Körpers prägt sich über die Jahre allmählich aus, auch das lustvolle Empfinden einer anderen Person, der Merkmale ihres Körpers oder ihrer Persönlichkeit, muss gelernt werden. Natürlich beginnt das meist in der Pubertät, aber was sexuell anziehend oder erregend für den Einzelnen ist, unterliegt einem stetigen Wandel, gerade im Alter. Die Vorlieben ändern sich, die eigenen Erregungsauslöser müssen fortlaufend angepasst werden. Zugegebenerweise fällt es manchem schwer, eine wohlwollende Einstellung dem alternden Körper gegenüber zu finden, aber auch an Falten, Gewicht und graue Haare kann man sich gewöhnen - oder sie sogar erotisieren, also mit Lust verbinden. Aus der Nähe betrachtet haben sie Spuren des Lebens gezeichnet - Wein- oder Lachfalten, die einen berühren, weil sie auf einen Erfahrungsschatz schließen lassen, der Vertrauen schafft und Intimität vielleicht erst möglich macht. Oder es sind schön gewellte Haare, die silbergrau immer noch genau so herrlich duften und am Hals kitzeln wie zuvor. Es sind innige Umarmungen, im Laufe der Jahre verfeinert, bei denen ein Bein oder ein Knie bewusst gegen den Körper des anderen gepresst wird, oder Küsse, die aufkommendes Begehren kommunizieren. Und es sind lustvolle Körper, die einander bekannt sind, regelrecht aufeinander eingespielt, auch genital. Längst geht es nicht mehr nur um die Optik, sondern neben schönen Augen-Blicken auch um innige, wahrhaftige Momente, in denen ein knackiger Hintern nicht mehr die Hauptrolle spielt.
Sexuelles Begehren hat in jedem Fall etwas mit einer angenehmen gedanklichen Assoziation im Vorwege eines Geschehens zu tun. Man erwartet etwas, was im Moment nicht da ist. Vielleicht träumt man von einer sexuellen Begegnung später am Tag mit sich selbst oder mit einem Partner. Oder man denkt an das Wochenende, an dem mehr Zeit füreinander sein wird. Es wird ein Minimum an Distanz gebraucht, um Begehrlichkeit zu wecken. Erst wenn man sich Sex lustvoll vorstellen kann, entsteht Begierde. Die meisten haben nie darüber nachgedacht, was genau sie am und mit dem Partner begehren, warum sie überhaupt mit ihm Sex haben wollen. Prinzipiell gibt es eine ganze Reihe von Begehrenswertem: Liebe, Nähe, Kinderwunsch, Verschmelzung, das Spüren von einfacher Lust oder den Genuss an einem Orgasmus beziehungsweise die Entspannung danach. Es kann sehr aufschlussreich sein herauszufinden, welches Bedürfnis bei einem selbst im Vordergrund steht. Geht es vielleicht auch um die Bestätigung der eigenen Weiblich- oder Männlichkeit, der Beziehung selbst oder um die Befriedigung anderer emotionaler Bedürfnisse?
Es gibt Menschen, die überhaupt kein sexuelles Begehren empfinden und denen auch nichts fehlt. Bei anderen löst der Gedanke an Sex sogar Ablehnung, Ekel oder Aversionen aus. Gründe dafür könnten beispielsweise jede Art von Grenzüberschreitung sein. Es braucht also einiges mehr als einen angeborenen Erregungsreflex, um Erotik lebendig zu halten, nämlich viele Lernschritte, die manchmal wie von selbst passieren, oft aber, schambehaftet, über Jahre erarbeitet werden müssen. Auch ist jedes sexuelle System individuell und fortwährend in einen dynamischen Prozess eingebunden. Für ein langjähriges Paar bedeutet das, sich dessen bewusst zu werden und das Repertoire andauernd zu erweitern beziehungsweise zu verändern. Glücklicherweise haben die meisten Menschen längst noch nicht alles ausgelebt. Dazu lohnt es sich, auf die eigenen Wünsche zu hören und den Partner anzusprechen. Konkret auf den Sex bezogen hieße das, klare Fragen zu stellen und auch Antworten für sich selbst zu finden: »Was magst du denn lieber? Was turnt dich ab? Ich werde geil, wenn...« Niemand weiß, wann, wo und wie der sexuelle Lernweg enden wird. Einzelne Etappen brauchen vielleicht etwas länger, dafür kann die eine oder andere Station eventuell übersprungen werden. Es geht um Entwicklung und Dazulernen, damit alles irgendwann einen Sinn ergibt, das Leben selbst führt einen dabei.