Die Revolution ist nicht ­gescheitert!

Es scheint zu offensichtlich, als dass man es übersehen könnte: Die letzten Revolutionäre wurden am 23. Juli 1849 nach einer dreiwöchigen Belagerung durch preußische Truppen unter dem Befehl von Generalleutnant Karl von der Groeben aus der Festung Rastatt vertrieben, und damit war die Revolution an der Übermacht der Revolutionsgegner gescheitert. Die These von der gescheiterten Revolution wird noch dadurch verstärkt, dass neunzehn Todesurteile gegen Revolutionäre vollstreckt wurden und Dutzende in die Schweiz und dann weiter über England in die USA fliehen mussten. Aber dieses scheinbar so offensichtliche Scheitern der Revolution von 1848/49 verstellt den Blick auf die langfristigen Erfolge und Fortschritte, die in den Revolutionsjahren in Deutschland erzielt und nicht wieder rückgängig gemacht worden sind.

Die Deutsche Revolution wurde zwar tatsächlich militärisch niedergeschlagen, und sie hat ihre primären Ziele eines gesamtdeutschen Einheitsstaates und einer konstitutionellen Monarchie auch nicht erreicht. Aber die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849 und mit ihr das »Gesetz betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes« vom 28. Dezember 1848 sind die Basis für die Verfassungen der Weimarer Republik von 1919 und der beiden deutschen Staaten des Jahres 1949. Insofern war die Revolution bahnbrechend und in hohem Maße erfolgreich, denn sie konzipierte das verfassungsrechtliche Gerüst mehrerer deutscher Nachfolgestaaten. Die militärische Übermacht der preußisch-österreichischen Gegenrevolution hat zudem nicht erreichen können, dass die erstmals als »unveräußerlich« erklärten Freiheits- und Grundrechte für Deutsche je zurückgenommen wurden. Nur während der Herrschaft des Unrechts zwischen 1933 und 1945 war von individuellen Freiheiten, von Presse- und Meinungsfreiheit oder dem Recht gegen staatliche Willkür keine Rede. Heute stehen die um einige Rechte erweiterten »Grundrechte des deutschen Volkes« von 1848 als »Grundrechte« in den ersten neunzehn Artikeln des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.

Die Paulskirchenverfassung wollte erreichen, dass ein einheitlicher deutscher Gesamtstaat entsteht, der im Inneren als konstitutionelle Monarchie organisiert sein sollte. Der Kaiser wurde in seiner Macht eingeschränkt und auf die Entscheidungen eines vom Volk gewählten Parlaments verpflichtet. Aber nicht nur dadurch sollten Willkür und Ungerechtigkeit verhindert werden, denn die neue Ordnung sah auch eine Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative vor. Gesetzgebung und Gerichtsverfahren konnten nicht mehr von der Obrigkeit gelenkt oder verhindert werden. Lediglich die Exekutive war beim Kaiser verblieben, aber er war in allen seinen Handlungen an die Geltung der »Grundrechte des Deutschen Volks« gebunden. Diese Form der Gewaltenteilung geht auf den französischen Staatstheoretiker Charles de Montesquieu zurück, der Anfang des 18. Jahrhunderts nach dem Studium der Geschichte des Römischen Reichs zu der Erkenntnis gelangt war, dass nur durch Gewaltenteilung der Willkür Einzelner oder herrschender Gruppen Einhalt geboten werden kann. Neben diesem Rückgriff auf einen frühneuzeitlichen Philosophen wurde auch die Idee der Volkssouveränität Jean-Jacques Rousseaus berücksichtigt. Er hatte etwa zur gleichen Zeit wie Montesquieu eine Theorie entwickelt, dass das Volk in alle Bereiche der Politik einbezogen und an Entscheidungen beteiligt werden müsse, damit die Menschen frei leben können und sich im Einklang mit der Natur fühlen. Die Gewaltenteilung von Montesquieu und die Volkssouveränität von Rousseau sind auch heute noch die hervorstechenden Charakteristika demokratischer Verfassungen.

Aber die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung haben mit der Verfassung auch das Ende der feudalen Ordnung in den Staaten des Deutschen Bundes eingeläutet: Die Bauern wurden aus der Leibeigenschaft befreit, die Rechte der meist adligen Feudalherren erheblich beschnitten, und sämtliche Privilegien, die ihnen bis dahin ein angenehmes Leben bescherten, wurden kassiert. Nach 1849 hat sich keine Regierung getraut, daran etwas zu ändern. Neben dem Ende der feudalistisch-mittelalterlichen Ordnung bewirkte die Deutsche Revolution aber auch einen Modernisierungsschub in Wirtschaft und Gesellschaft, der den Weg der Deutschen in die Moderne bereitete. Die Binnenzölle wurden abgeschafft, die deutschen Staaten öffneten sich dem freien Markt und führten die Gewerbefreiheit ein. Der schon 1834 gegründete Deutsche Zollverein war dazu Grundlage und Startrampe zugleich. Ähnlich dem heutigen europäischen Binnenmarkt wurde der zwischenstaatliche Handel damit ebenso intensiviert wie die wirtschaftlichen Beziehungen zum benachbarten Ausland. Ohne diese massiven Veränderungen wäre der wirtschaftliche Aufschwung, den erst die deutschen Einzelstaaten und dann ab 1871 das Deutsche Kaiserreich genommen haben, nicht zu erklären.

Die Industrielle Revolution entfaltete nach 1849 in Deutschland ihre volle Dynamik. Im positiven wie im negativen Sinne waren überall die Folgen dieser wirtschaftlichen Umwälzung zu sehen. Die alten Schranken der traditionellen Ständegesellschaft, in der es sich Adel und Landbesitzer gegenüber dem Rest der Gesellschaft gut eingerichtet hatten, wurden durchbrochen. Die Paulskirchenverfassung garantierte Gewerbefreiheit und die Möglichkeit des Grunderwerbs. Damit stieg die soziale Mobilität, die vorher durch kaum überwindbare Ständeschranken blockiert war. Aber mit diesem Wandel stieg auch das Risiko der Verarmung. Die Arbeitssuchenden, die den Verlockungen der industriellen Entwicklung in den rasch wachsenden Städten erlegen waren, standen dort oft vor dem Nichts. Sie hatten ihre Jobs in der Landwirtschaft verloren, ohne sofort eine Alternative in einer der vielen neuen Fabriken zu haben. Die von Karl Marx als »Lumpenproletariat« bezeichneten Arbeitslosen lebten alleingelassen in völliger Armut, weil eine staatliche Sozialpolitik in der Paulskirchenverfassung nicht vorgesehen war.

Diesem Makel stehen große und vor allem nachhaltige Erfolge in der Rechtspolitik gegenüber. Es war eine der zentralen Forderungen des Vormärz, dass durch eine Justizreform die geheime und willkürliche Inquisitionsjustiz der absolutistischen Monarchien abgeschafft und durch öffentliche Strafgerichtsbarkeit ersetzt wird. Also wurden staatliche Verwaltung und Justiz getrennt, jedwede Form eines »privilegierten Gerichtsstands der Personen oder Güter« war fortan verboten, und kein Richter durfte »außer durch Urteil und Recht, von seinem Amt entfernt, oder an Rang und Gehalt beeinträchtigt werden«. Das waren die Eckpunkte einer unabhängigen Justiz, die seither als Grundpfeiler einer funktionierenden demokratischen Gesellschaftsordnung gelten. Diese wegweisende Justizreform wurde flankiert durch die Aufhebung der Pressezensur, mit der die deutschen Staaten während der Restaurationszeit zwischen 1815 und 1848 die nationale Opposition kleinhalten konnten. Das durch die Verfassung garantierte Ende der Pressezensur ließ den Zeitungsmarkt in Deutschland aufblühen. Eine pluralistische Presselandschaft entstand und begleitete von nun an die politische Entwicklung des Landes. Die Einschränkung ihrer Betätigungsmöglichkeiten war ein Gradmesser für den Zustand von Politik und Gesellschaft.

175 Jahre nach dem Beginn der Deutschen Revolution und der Durchsetzung der individuellen Freiheitsrechte erlebt die Welt in vielen Staaten, dass die Einschränkung dieser Rechte am Anfang einer Entwicklung zu Autokratie und Diktatur steht. Die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung handelten weitsichtig und klug, als sie die Presse-, Glaubens-, Versammlungs- und Gewerbefreiheit festschrieben und sowohl die staatliche Verwaltung als auch die Judikative und die Legislative unauflöslich mit diesen Grundrechten verknüpften. Sie schufen damit die entscheidende Grundlage demokratischer Rechtsstaaten, die sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Ländern der Europäischen Union nach und nach gebildet haben. In der Zeit des Vormärz waren restriktive Gesellschaftsordnungen und Zensur zwei Seiten einer Medaille. Nach der Deutschen Revolution von 1848/49 entstand eine pluralistische Presselandschaft. Neue Zeitungen von links bis rechts nahmen Einfluss auf das politische Zeitgeschehen. Sie kommentierten und karikierten Entscheidungen und Politiker und trugen so dazu bei, Politik transparent und kontrollierbar zu machen.

In der 1848 eingesetzten Frankfurter Nationalversammlung tagte erstmals in Deutschland ein vom Volk gewähltes Parlament. Vorher hatte es eine solche nationale und allgemeine Männerwahl nur im September 1792 während der Französischen Revolution und 1831 bei der Wahl zum belgischen Nationalkongress gegeben. Mit der dritten Wahl zu einem nationalen Parlament auf dem Kontinent reihten sich die Deutschen 1848 in eine europäische Entwicklung ein, die auf die Gründung von Nationalstaaten mit einer konstitutionellen Monarchie abzielte. Wie vorher in Frankreich und Belgien sollte auch in Deutschland die Macht der Fürsten geschwächt und durch gewählte Abgeordnete aus verschiedenen politischen Richtungen ersetzt werden. Damit war auch der Startschuss für die Gründung von Parteien, Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Interessenvertretungen von gesellschaftlichen Gruppen gefallen. Sie alle wollten und sollten die politischen Entscheidungsprozesse begleiten und an ihnen teilhaben. Während des Vormärz hatten sich Liberale, Demokraten, Konservative, Katholiken und Linke als politische Interessenvertreter in eigenen Gruppierungen zusammengeschlossen. Nach dem Ende der Deutschen Revolution waren die liberale Deutsche Fortschrittspartei, der sozialistische Allgemeine Deutsche Arbeiterverein oder die katholische Zentrumspartei aus der politischen Landschaft nicht mehr wegzudenken. Sie wurden zwischen 1860 und 1870 gegründet und sind die Vorläufer von FDP, SPD und CDU. Die Frauenbewegung etablierte sich ebenso wie verschiedene andere Reformbewegungen als gesellschaftliche Kräfte, die an den politischen Entscheidungen partizipieren. All das geht auf die 1848er Revolution zurück und hat Deutschland bis heute spürbar verändert.

Der Zufall wollte es, dass genau 100 Jahre nach dem Ende der Revolution die Deutschen auf beiden Seiten der als Ergebnis des Zweiten Weltkriegs entstandenen Demarkationslinie über eine neue Verfassung nachdachten. Die Delegierten waren vor allem geprägt von den Erfahrungen einer zwölfjährigen NS-Herrschaft, in der alles missachtet wurde, was einen parlamentarisch-demokratischen Staat ausmachen sollte. Deshalb war ein Rückgriff auf die Zeit zwischen 1933 und 1945 ausgeschlossen. Bei der »doppelten Staatsgründung« standen also die Verfassungen der Weimarer Republik von 1919 und der Frankfurter Nationalversammlung von 1848 zur Verfügung. So erlebten wesentliche Teile der Revolutionsverfassung 100 Jahre nach ihrer Niederschrift eine politische Wiederauferstehung. Die Väter und Mütter der Verfassungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik haben sich 1949 bei den Vorarbeiten der Mitglieder des Verfassungsausschusses von 1848 bedient und zwei Verfassungen erarbeitet, die bis zur Deutschen Einheit 1990 Bestand hatten. Insofern sollten wir aufhören, von einer 1849 »gescheiterten« Revolution zu sprechen. Im Gegenteil: Die Parlamentarier der Nationalversammlung legten die Grundsteine für den Weg der Deutschen in eine moderne Demokratie.