Das fünfzehnte
Drei Fässer Phlochl und noch mehr
Alle Tische fliegen – hoch!
In der Gewalt von El Jefe
Jonas hockte mißmutig vor den Resten seines Abendessens und sah aus dem Fenster. Diese Gegend war auch nicht interessanter als die Sahara. Bei Spanien hatte er bisher nur an strahlende Sonne und blaues Meer gedacht, ein Urlaubsparadies.
Sonne schien es auch hier mehr als reichlich zu geben. Selbst in der Dämmerung wirkte die Erde ausgedörrt, die Hänge der runden flachen Bergwellen verbrannt, das harte spröde Gras und die durchsichtigen Büsche, mehr Gestrüpp als Gebüsch, ausgelaugt; Bäume hatte Jonas hier gar nicht gesehen und nur zwei Siedlungen, graue staubige Häuschen aus großen, nicht verputzten Feldsteinen – nein, hier wollte er nicht mal begraben sein, wie Oma zu sagen pflegte.
Ein Glück, daß er die Karte „besorgt“ hatte, so hatten sie sich gut zurechtgefunden, konnten sich an den Flüssen und Gebirgen, vor allem aber an den Autostraßen orientieren, nur zweimal mußten sie tiefer gehen, um ein Ortsschild zu entziffern. Fast ohne Umweg hatten sie Almadena gefunden, obwohl sie erst mit dem letzten Tageslicht in der Sierra Morena eingetroffen waren. Zumindest nahm Jonas an, daß die Stadt, deren Lichter durch die dunstige Dämmerung drangen, Almadena war. Sie hatten sie gar nicht erst angeflogen, denn Xindys Gerät schlug aus.
„Quecksilber!“ rief Xindy. „Hier gibt es Quecksilber!“
Das Suchgerät führte sie zu einer ausgedehnten Werksanlage, staubbedeckte Häuser und Hallen und Steinbaracken, zwei Türme mit Förderbändern, das mußte ein Bergwerk sein, und die sichtbar künstlichen, aufgeschütteten Berge rund um das Werk der „Abraum“, von dem Herr Neumann gesprochen hatte, als sie die Kohlegewinnung durchnahmen, das Gestein aus dem Bauch der Erde, mit dem die Kohle – oder hier das Zinnober – zu Tage gefördert wurde. Sie kreisten etwa dreißig Meter über dem Werkgelände und warteten, beobachteten. Es schien schon Feierabend zu sein, nirgends Anzeichen dafür, daß gearbeitet wurde. Jonas bekam plötzlich Sehnsucht nach zu Hause. Tatsächlich, trotz all der aufregenden Erlebnisse, um die jeder ihn beneiden würde, hatte er Heimweh.
„Es ist Angst“, sagte Xindy. „Ich würde dir ja gerne helfen, doch ich weiß nicht, wie. Ich habe eine ganze Menge Medikamente an Bord, aber nur chlmische.“
„Ich halte schon durch“, versicherte Jonas. „Hast du entdeckt, wo sich das Phlochl befindet?“
„Direkt unter uns. Siehst du die drei Fässer mit den breiten gelben Ringen?“
„Ist das alles?“ rief Jonas. „Dafür holen die ganze Berge von Gestein aus der Erde?“
„In dem Schuppen steckt noch mehr“, sagte Xindy, „mein Gerät zeigt es an.“
„Hast du schon einen Plan?“
Quecksilber war offensichtlich auch auf der Erde kostbar. Vor dem Tor des Werkgeländes standen bewaffnete Männer, und uniformierte Doppelstreifen mit umgehängten Maschinenpistolen patrouillierten zwischen den Gebäuden. Vielleicht wurde hier nicht nur Quecksilber gefördert, sondern viel Wertvolleres: Gold oder Platin.
„Wir werden zwischen dem Schuppen und den drei Fässern landen“, sagte Xindy, „der Platz müßte gerade reichen.“
„Und dann?“ Es waren zwar nur Fäßchen, kaum höher und dicker als eine Mülltonne, aber Quecksilber war doch noch schwerer als Eisen, oder? Selbst zu zweit würden sie kaum solch ein Faß ins Haus bringen können.
„Das schaffst du ganz alleine“, sagte Xindy. „Vor der Kammertür liegt ein kleines Gerät für dich. Wenn du das auf ein Faß richtest und auf den roten Knopf drückst, wird das Faß schwerelos. Gewichtslos, verstehst du?“
Jonas hastete die Treppe hinauf. Das Gerät war nicht einmal so groß wie eine Zigarettenschachtel. Er ging in das Schlafzimmer, richtete das Gerät auf das Doppelbett, drückte den roten Knopf, nichts geschah.
„Es funktioniert nicht!“ rief Jonas.
„Tipp mal an das Bett“, sagte Xindy. „Aber vorsichtig!“
Zu spät. Jonas hatte die linke Hand unter die Bettkante gelegt und angehoben. Mit viel zuviel Schwung, das Doppelbett schoß gegen die Decke, prallte zurück, erschrocken ließ Jonas den roten Knopf los, das Bett knallte auf den Boden, das Holz knarrte und krachte.
„Donnerwetter“, sagte Jonas. „Damit räume ich dir den ganzen Schuppen leer.“.
„Stell es dir nicht zu einfach vor“, sagte Xindy. „Für einen Anfänger ist es nicht leicht, schwerelose Dinge richtig zu dirigieren, am besten, du übst erst ein wenig.“
Es war wirklich nicht einfach, obwohl alles leicht wie Luft wurde, sobald Jonas den roten Knopf drückte, manchmal auch etwas, das er gar nicht hatte gewichtslos machen wollen. Als er mit dem Küchentisch hantierte, schwebte plötzlich der Kühlschrank in die Luft. Jonas ließ sofort den roten Knopf los, der Kühlschrank polterte zu Boden und wäre ihm fast auf die Zehen geknallt.
Danach übte Jonas mit dem großen Tisch im Wohnzimmer, schließlich schaffte er es, ihn in der Luft zu drehen, wie er wollte, den sperrigen Tisch in der Luft schwebend und ohne anzustoßen mit der linken Hand durch die Tür zu bugsieren, über den Flur ins Schlafzimmer und wieder zurück, sogar die Bodentreppe hinauf.
„Alle Tische fliegen – hoch!“ rief er. „Das Ding ist Klasse! Das mußt du mir unbedingt schenken. Da wird das Kohleschleppen ja zum Vergnügen.“
Inzwischen war es dunkel geworden, stockdunkle Nacht, kein Mond, kein Stern leuchtete über ihnen, aber unten tauchten grelle Lampen den Zaun um das Bergwerk und das ganze Gelände in helles Licht. Die bewaffneten Patrouillen machten nicht den Eindruck, als würden sie sich irgendwann zur Ruhe begeben.
„Es hilft wohl nichts“, meinte Jonas, „wir müssen es versuchen, sonst hocken wir die ganze Nacht hier.“ Er stoppte; wie oft eine Streife an den Fässern vorbeikam; etwa alle zwanzig Minuten.
„Das muß reichen“, sagte er, „los, runter!“ Das Haus paßte nicht zwischen Schuppen und Fässer. „Auf die andere Seite der Fässer!“ rief Jonas, Xindy hatte selbst schon daran gedacht. Das Haus setzte sanft auf, aber es stand schief, war mit der hinteren Kante auf der Rampe des nächsten Schuppens gelandet.
„Das macht nichts“, meinte Jonas. Da mußte er die Fässer eben nicht im Flur stapeln, sondern in das große Zimmer bringen, damit sie nicht wieder herausrollten. Mit dem Wundergerät war das ja keine Mühe.
„Sobald die nächste Streife vorbei ist, versuche ich mein Glück. Gib mir ein Zeichen, wenn fünfzehn Minuten um sind, damit ich mich verstecken kann, bis die Wachen wieder weg sind, ja?“
Jonas riß die Tür auf, hörte, daß eine Patrouille näher kam. Die Stiefel knirschten auf dem sandigen Boden, die Schritte hallten durch die Stille, kamen näher, die beiden Wachen unterhielten sich, gingen vorbei.
„Warte noch“, sagte Xindy.
Jonas sprang aus dem Haus, die Tür fiel hinter ihm zu. Ich muß sie festklemmen, dachte er, da das Haus schief steht, wird sie sonst immer wieder von alleine ins Schloß fallen. Er richtete das Gerät auf das vorderste Faß, drückte den roten Knopf, legte die linke Hand an das Faß, hob es in Brusthöhe, da fiel ein blendender Lichtstrahl in sein Gesicht.
Die Tür des Schuppens war aufgegangen, zwei Uniformierte standen in der Tür, sahen ihn an, starrten mit aufgerissenen Mündern auf den Jungen, der da wenige Schritte vor ihnen stand und mit der Hand ein Faß voller Quecksilber in die Luft hielt.
Jonas war wie versteinert vor Schreck. Erst als die Männer auf ihn zusprangen, ließ er den roten Knopf los. Das Faß prallte auf den Boden. Es dröhnte so laut, daß Jonas von dem Knall zusammenzuckte. Er drehte sich um, wollte in das Haus springen, suchte die Tür; er hatte die Klinke schon in der Hand, als sich zwei Hände so hart um seine Oberarme klammerten, daß er vor Schmerz laut aufschrie und das Gerät fallen ließ.
Der Mann hob ihn hoch; als Jonas wild mit Armen und Beinen um sich schlug, warf er ihn in die Luft, drehte ihn um und preßte ihn mit dem Gesicht an seine Brust, trug ihn davon. Jonas versuchte, den Kopf zu drehen. Um Luft zu schnappen und um wenigstens mitzubekommen, wohin man ihn schleppte: den Weg zwischen den Schuppen und Baracken entlang.
„Xindy“, schrie Jonas, „Hilfe, Xindy!“ Aber konnte Xindy ihn überhaupt hören?
Von allen Seiten stürzten Uniformierte herbei, begleiteten ihre beiden Kameraden und den wild zappelnden Jonas zu einem hellerleuchteten Haus, brachten ihn in ein spärlich möbliertes Zimmer. Jonas wurde auf einen Stuhl gedrückt, Handschellen schlossen sich um seine Gelenke, fesselten seine Arme an die hinteren Stuhlbeine. Jonas weinte. Vor Schmerz, vor Wut, vor Verzweiflung. Dicke Tränenströme rannen über seine Wangen.
„Xindy“, jammerte er, „Xindy, hilf mir!“
Ein Mann in Zivil kam herein, schickte alle hinaus bis auf die beiden, die Jonas gefangengenommen hatten, ließ sich kurz berichten, dann hockte er sich vor Jonas auf den Tisch, blickte ihn mit finsterer Miene an.
„¿Quién eres? ¡Habla ya!“ Er holte mit der Hand aus, und als Jonas nicht antwortete, schlug er ihm ins Gesicht.
„¿Quién eres?“– Ohrfeige –„¿Comó llegaste aquí?“– Ohrfeige –„¿Qué quieres aquí?“– Ohrfeige –„¡Abrete la boca ya!“ 3
„Ich verstehe nicht, ich bin Deutscher“, stammelte Jonas und bekam erneut eine Ohrfeige, seine Wangen brannten wie Feuer. „Deutscher“, schrie er noch einmal. Was, um Himmels willen, hieß das auf spanisch? „German“, stieß er hervor, „Nemetzki, Alleman.“ Einer der beiden Uniformierten sagte etwas zu dem Zivilisten. Er redete ihn mit „El Jefe“ an, war das der Name des Zivilisten? El Jefe nickte, der Uniformierte stellte sich neben ihn, sah Jonas an.
„Ich verstehe deutsch“, sagte er, „ich habe in Deutschland gearbeitet, aber ich spreche deine Sprache nicht gut, verstehst du?“
„Ja“, sagte Jonas. Er war heilfroh, daß ihn einer wenigstens verstand. Und daß der Mann nicht jeden Satz mit einer Ohrfeige unterstrich wie der andere.
„Das ist El Jefe“, sagte der Uniformierte, „der Chef. Und ich bin Ramirez, Soldat, verstehst du?“
„Soldat?“ fragte Jonas. „Ist das hier nicht ein Bergwerk?“
„Ja, Bergwerk“, sagte Ramirez. „Streik, verstehst du? Wir bewachen das Bergwerk. Streikende wollen…“ Er suchte nach dem deutschen Wort, „besitzen“.
„Wegnehmen?“ sagte Jonas. „Enteignen?“ Ramirez lachte.
„Nein, nicht besitzen, besetzen.“
Jetzt war alles klar. Streikende, das wußte Jonas, besetzten oft die Betriebe, um die Eigentümer zu zwingen, ihre Forderungen zu erfüllen. Ramirez übersetzte seinem Chef, was er Jonas erklärt hatte.
„El Jefe will wissen, wo du herkommst. Wie du auf das Werkgelände gekommen bist. Was du hier willst.“
Wie sollte er das erklären! Die Wahrheit würde keiner glauben, El Jefe, der ihn mit finsterer Miene anstarrte, schon gar nicht.
„Ob Sie es glauben oder nicht“, sagte Jonas, „ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin.“
Ramirez übersetzte, El Jefe lachte laut auf und schlug Jonas mit beiden Händen zugleich auf die Ohren. Ein entsetzlicher Schmerz durchzuckte ihn, sein Schädel dröhnte, als wolle er zerspringen. El Jefe schrie etwas, Ramirez übersetzte es mit versteinertem Gesicht, leise, kaum zu hören, es schien, als verabscheue er die Brutalität seines Chefs, aber das half Jonas nichts.
„So, das weißt du nicht?“ übersetzte Ramirez, und wieder schlug El Jefe Jonas auf die Ohren. Er schrie laut auf, zerrte an den Handschellen, versuchte, den schon wieder erhobenen Händen auszuweichen.
„Nicht“, jammerte er, „bitte, bitte nicht. Bitte…“
„Sag es doch, sprich, hör auf mich“, redete Ramirez auf ihn ein. „Er schlägt dich kaputt, er ist ein brutaler Mensch, alle nennen ihn nur El Maton, den Raufbold.“ El Jefe grinste über das ganze Gesicht, als er seinen Spitznamen hörte.
„Ich weiß es doch nicht“, sagte Jonas. „Ihr müßt mir glauben, ich weiß es wirklich nicht, ich…“ Ein brennender Schmerz fuhr durch seinen Körper, Jonas bekam nicht einmal mit, woher. Er hatte sich noch nicht von dem Schmerz erholt, da durchzuckte ihn erneut dieses entsetzliche Brennen, Stechen. Immer wieder. Jonas schrie nur noch, er hörte nicht mehr, was Ramirez sagte, dann schwanden ihm die Sinne.