Dr. Joseph Goebbels um 1922: Dem erfolglosen Schriftsteller und Gelegenheitsjournalisten blieb der Zugang zur bürgerlichen Intelligenz versperrt. Der von Depressionen Verfolgte begab sich auf die existentialistische Suche nach »Erlösung«, die er schließlich nicht in der Religion oder einem kulturellen Umbruch zu finden meinte, sondern in der Politik der völkischen Bewegung.

2 »Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen.«

Goebbels’ Weg zum Nationalsozialismus

Goebbels’ Tagebücher vom Herbst und Winter 1923/24 vermitteln das Bild eines orientierungslosen, von seinen Mitmenschen isolierten, innerlich zerrissenen, ja verzweifelten Menschen, der versucht, durch die täglichen Eintragungen seine persönliche Krise in den Griff zu bekommen. Das Tagebuch sei sein »bester Freund«, schreibt er, »ihm kann ich alles anvertrauen. Ich habe ja sonst auch niemanden, dem ich dies alles sagen könnte.«1

Den ersten Tagebucheintrag vom 17. Oktober 1923 richtete Goebbels direkt an Else: »Du Liebe, Gute! Du richtest mich auf und gibst mir immer wieder neuen Mut, wenn ich verzweifeln will. Ich kann es nicht ausdenken, wie viel Dank ich dir schuldig bin.« Es folgte eine Art Momentaufnahme von Rheydt, einer Stadt im besetzten Rheinland in jenen Tagen: »Wie trostlos ist heute so ein Gang durch die Straßen der Stadt. An allen Ecken stehen Gruppen von Arbeitslosen und debattieren und spekulieren. Es ist eine Zeit zum Lachen und zum Weinen.« Es habe »den Anschein, als ob der neue Kurs nach rechts ginge«, doch es wäre »grundfalsch, in dieser Wendung nach rechts das non plus ultra der Entwicklung sehen zu wollen«. Man stünde vor großen weltgeschichtlichen Entwicklungen, die aber nicht für jeden zu erkennen seien. Gefragt sei heute »der Dichter […] und nicht der Gelehrte; denn jener schaut, dieser sieht nur. Dieser kennt alle die kleinen Schlafmittel für die Krankheit Europas, jener aber wüsste den Weg zu zeigen, der in die große Entwicklung hineinführt.«

Doch wo waren die Dichter, die dieser Aufgabe gewachsen gewesen wären? »Unsere Poeten sind ja nichts anderes als Nichtskönner, intellectuelle Snobs, geistreichtuende Ästhetizisten und Kaffeehaushelden. […] Keiner findet den Schrei aus der Tiefe der Not, die die Brust des ganzen deutschen Menschen füllt.« Gäbe es doch nur einen, »der noch einmal das ›in tyrannos‹ fände«. Unter den Ländern Europas, so bekannte er, hege er die »tiefste Verehrung« für »das heilige Russland«. Diese geradezu schwärmerische Verehrung für Rußland war vor allem das Ergebnis der intensiven Lektüre russischer Literatur, ganz besonders Dostojewskis, die er in diesen Tagen wieder betrieb. Die russische Gegenwart, schrieb er, »ist nur ein Seifenschaum, die schwere Lauge liegt darunter.«

Nach weiteren düster gehaltenen Betrachtungen stellte er »zehn Gebote« auf, die ihm helfen sollten, sich aus seiner depressiven Stimmung herauszureißen:

»1. Sei gut gegen alle Menschen, besonders gegen Mutter, Vater und Else […].

2. Rede wenig und denke viel.

3. Sei oft allein.

4. Suche mit dem Leben Frieden zu schließen.

5. Stehe um 8h auf und gehe um 10h schlafen.

6. Lese und schreibe dir die Bitterkeit vom Herzen.

7. Gehe oft und weit spazieren, vor allem allein.

8. Vergiß deines Leibes nicht.

9. Suche mit Gott fertig zu werden.

10. Verzweifle nicht.«

Sehnsucht nach »Erlösung«

Wenige Tage nach Abfassung dieses Eintrags wurde seine Heimatstadt Rheydt Schauplatz einer blutigen politischen Auseinandersetzung. Am 21. Oktober unternahmen separatistische Gruppierungen, die sich der Unterstützung der französischen und belgischen Besatzungsmacht erfreuten, einen Putsch, der zur Bildung eines selbständigen Rheinstaates führen sollte.2 In Aachen gelang es bewaffneten Separatisten, das Rathaus zu erstürmen, wo sie die Republik »Freies Rheinland« ausriefen. Auch das Rathaus von Mönchengladbach konnten sie für einige Stunden besetzen.3 Am folgenden Tag erreichten die Unruhen Rheydt. Separatisten sammelten sich in der Stadt, während bewaffnete Bürger sich zur Abwehr des Putsches zusammenfanden.4 Goebbels wurde Zeuge eines Bürgerkriegsszenarios: »Gesindel fährt in gestohlenen Autos durch die Straßen und ruft die freie rheinische Republik aus. In Gladbach gab es viele Tote und Verwundete. In Rheydt bildet sich ein ›Schildbürgerselbstschutz‹ gegen die Separatisten.« Polizei und Bürgerselbstschutz bereiteten sich auf die Verteidigung des Rathauses vor. Angewidert hielt Goebbels fest: »Man mustert die Waffen, prahlt damit herum und denkt sich heroische Kampfszenen aus. Man spricht von Toten, als wenn man von Margarine redete.«5

Am folgenden Tag, der Angriff war abgewehrt, übte der Mob Rache an den Separatisten: »Bei den Sonderbündlern hausen sie wie die Vandalen«, notierte Goebbels und beschrieb die Zerstörung von Mobiliar und Hausrat: »Seelische Hemmungen verspürt niemand. Vox populi – vox diaboli.« Goebbels sah sich als neutralen Beobachter, als Dichter, der in unruhigen Zeiten lebte und die Chance hatte, einmalige Eindrücke literarisch zu verwerten: »Ich komme dazu, alles das nur als Stoff zu betrachten, der mit an meinem inneren Menschen arbeitet. Ich bin der Mittelpunkt und alles dreht sich um mich.«6

Das Verhältnis zu Else empfand er zunehmend als problematisch. Auch sie könne, schrieb er – der in diesen Tagen »oft über die Judenfrage« nachdachte –, ihr »jüdisches Blut« nicht verleugnen, in ihrem Wesen liege etwas »stark Destruktives«, vor allem »im Geistigen«, allerdings nicht allzu »sichtbarlich«, da »das Geistige in ihr nicht bis zur Blüte emporgetrieben« sei. Nicht nur in dieser Beziehung fiel der Vergleich mit Anka wenig günstig für Else aus; so habe Anka ihn weit großzügiger beschenkt, als Else dies tue, »wahllos, bedenkenlos, nur aus reiner Lust am Schenken«.7

Else dachte nicht daran, seinen Mangel an Respekt und Achtung ihr gegenüber stillschweigend zu übergehen, sondern schrieb ihm, sie fühle sich vernachlässigt, und seine Ansichten zur »Rassenfrage« könnten möglicherweise ein »Hindernis für unser weiteres Zusammenleben« darstellen. Sie sei nämlich der »festen Überzeugung, daß Du in dieser Hinsicht ganz entschieden übertrieben denkst und gleich geneigt bist alle Äußerungen daraufhin auszulegen«.8 Daß sie sich bald darauf trennten, war in erheblichem Maße auf ihr mangelndes Vertrauen in eine gemeinsame Partnerschaft zurückzuführen, auch wenn er in seinen Tagebucheinträgen den Eindruck erweckt, vor allem er habe sich mit Zweifeln gequält, ob sie die Richtige für ihn sei. Auf die Trennung folgte jedoch, wie so oft bei Goebbels, bald die Versöhnung.9 Else war eben doch »so lieb und gut, daß ich nicht von ihr lassen kann«, gestand er sich ein.10 Zum Jahresende hielt er fest: »Ich liebe Else und fühle mich tiefer mit ihr verbunden, seit sie sich mir gab.« Aber dann gingen seine Träume und seine Gedanken zurück zu Anka, die, davon war er damals überzeugt, die einzige große Liebe in seinem Leben bleiben würde.11

In dieser Zeit befand sich Goebbels erneut in einer schweren Glaubenskrise. In seinem Tagebuch beklagte er den Verlust »von all dem gewaltigen Glaubensinhalt, der einmal mein Tun und Denken bestimmte«; seit er nicht mehr glaube, sei er »sarkastisch, ironisch, skeptisch und relativitäts-glaubend« geworden, habe »einen ungeheuren Teil meiner Stoßkraft und meiner überzeugenden Stärke« verloren.

An zwei Dinge glaubte er allerdings immer noch: an »den endgültigen Sieg der Wahrheit und an mich selbst«. An diesem Glauben, das schwor er sich, werde er um jeden Preis festhalten, aus ihm werde »ich all meine Kraft und all meine Güte ziehen«. Und dann folgte der bemerkenswerte Satz: »Es ist ja auch gleichgültig, woran wir glauben, wenn wir nur glauben.« Für diese Erkenntnis sollte er alsbald noch andere Formulierungen finden, etwa: »Jeder Gedanke ist richtig, man muß ihn nur schlagend begründen können«, oder: »Jede Zeit hat ihre Idee, und in jeder Zeit ist ihre Idee richtig.«12 Ohne Zweifel war Goebbels auf der drängenden Suche nach einer verbindlichen Weltanschauung, doch es wäre falsch, solche Merksätze dahin gehend auszulegen, daß er sich in dieser Phase seines Lebens jeder Idee verschrieben hätte, dazu war seine geistige Annäherung an den Rechtsradikalismus schon zu weit fortgeschritten – möglicherweise weiter, als er selbst wußte.

In jedem Fall, so räsonierte er im Oktober 1923, müsse er »bald daran gehen, mit meinem Gott auseinander zu kommen«.13 Immer wieder haderte er in diesen Monaten mit seiner Religion, und war dann doch wieder überzeugt, daß der christliche Glaube ihm die »Erlösung«, nach der er so verzweifelt verlangte, nicht versagen werde.14

Anfang November, während der vorübergehenden Trennung von Else, begann er mit den Arbeiten an dem Drama »Prometheus«, einem Stoff, der ihn seit Jahren beschäftigte und den er endlich bewältigen wollte.15 Er schrieb so eifrig,16 daß er das Stück am 12. November »bis auf den letzten Akt« fertiggestellt hatte.17 Am 18. November schenkte er Else das fertige Werk.18 Der Text ist nur in Fragmenten erhalten, doch es ist erkennbar, worum es geht: Prometheus, halb titanischer (also göttlicher), halb menschlicher Herkunft, begehrt gegen die Götter des Olymps auf.19

Versunken in der Arbeit am »Prometheus«, nahm er den Putsch der Münchner Nationalsozialisten nur am Rande, lakonisch und offenbar ohne große Sympathien zur Kenntnis: »In Bayern Nationalistenputsch. Ludendorff ist wieder einmal zufällig spazierengegangen.«20 Nach wie vor stand er einem Rechtsschwenk in der Politik skeptisch gegenüber.21 Doch schon wenige Tage nach dem Putsch schrieb er einen scharfen antisemitischen Kommentar in sein Tagebuch, und zwar im Anschluß an zwei Einakter von Curt Goetz, die er im Rheydter Schauspielhaus gesehen hatte. Über den Abend urteilte er: »Alles in allem jüdische Mache, die den Untergang glossiert«, und fuhr dann verallgemeinernd fort: »Das Judentum ist das Gift, das den europäischen Volkskörper zu Tode bringt.« Hätte ihn jemand darauf aufmerksam gemacht, daß Curt Goetz, an dessen Stücken sich sein Zorn entzündet hatte, kein Jude war – wäre er dann bereit gewesen, sein apodiktisches Urteil über die jüdische Kulturzersetzung abzumildern?

Ein neues literarisches Projekt, das er wiederum binnen kurzem, nämlich zwischen dem 14. und 28. November, abschloß, nannte er »Der Wanderer«.22 Der Plot entsprach seiner depressiven Stimmung und war ein weiterer Versuch, »Erlösung« zu erlangen: »Christus kommt als Wanderer auf die Erde zurück und besucht mit dem Dichter die leidende Menschheit. Eine Art Totentanz.«23 Im »Wanderer«, so schrieb er nach Abschluß des Manuskripts, habe er »versucht, ein Weltbild des heutigen kranken Europa zu geben. Ich habe den einzigen Weg zur Rettung gezeigt und muß mit Schmerz und Bitterkeit einsehen, daß dieser Weg nie beschritten werden wird.«24 Er bot den »Wanderer« dem Kölner Schauspielhaus und den »Prometheus« dem Düsseldorfer Stadttheater an.25 Beide Häuser hatten für seine Werke keine Verwendung; ebenso erfolglos verliefen seine Versuche, sie in Frankfurt und Duisburg unterzubringen.26

Mitte Dezember hörte er einen Vortrag über van Gogh, für ihn ein »tiefer Genuß«. Van Gogh sei, so schrieb er, »einer der modernsten Menschen in der neuen Kunst, ein Gottsucher, ein Christusmensch«. Er sah Parallelen zu Dostojewski und zu seinem »Wanderer«: »Alle modernen Künstler – ich spreche hier nicht von den lauen Snobisten und Nachäffern – sind mehr oder weniger Lehrer, Prediger, Fanatiker, Propheten, sind mehr oder weniger verrückt – die wir alle verrückt sind, wenn wir etwas im Kopfe haben.« Aber: »Wir Jungen werden totgeschwiegen. Vielleicht wird eine spätere Generation aus unseren gebrochenen Herzen Kapital schlagen. Wie namenlos schwer ist die Qual der Seher!«27 Aus diesen Zeilen spricht die Hoffnung, die von ihm mit so großer Inbrunst gesuchte »Erlösung« könne aus einem umfassenden kulturellen Umbruch auf christlich-sozialistischer Grundlage erwachsen – und Goebbels war offenkundig davon überzeugt, daß es ihm bestimmt sei, hierbei als »Prophet«, als »Seher« eine hervorragende Rolle zu spielen. Ja, er ging noch einen Schritt weiter, als er während der Weihnachtsfeiertage notierte: »Ich fühle den Trieb in mir zum Ganzen, zum Menschen und zur Menschheit. Gibt mir der Himmel das Leben dazu, dann werde ich ein Erlöser sein. Ob für mich, für einen, für zwei oder für ein ganzes Volk, das ist im Grunde dasselbe. Ich muß reif werden zur Sendung.«28

Der nach »Erlösung« lechzende Goebbels sah sich nun selbst als Erlöser und spekulierte nicht mehr nur über die Gottähnlichkeit des großen Künstlers,29 sondern wagte die Formulierung: »Hat Gott mich nach seinem Ebenbilde erschaffen, dann bin ich Gott wie er.«30 Ganz offensichtlich vermeinte er einen »göttlichen Funken« in sich zu spüren, und er scheint mit gnostischen Spekulationen (wonach der Mensch sich aus den Fesseln der eigenen Körperlichkeit befreien und sich dem göttlichen Ebenbilde annähern kann) geliebäugelt zu haben; in der völkischen Bewegung, der er sich nun allmählich näherte, stellte er damit keineswegs eine Ausnahme dar.31 Nicht umsonst hatte er sich jahrelang mit seinem, wie er es nannte, »Prometheusproblem« beschäftigt, also mit einer Figur, die – nach seinen Worten »halb Gott, halb Mensch« – gegen den Götterhimmel aufbegehrte.32 Während er solchen Gedankengängen nachhing, hatte er seine Hoffnungen auf eine Erlösung durch die Religion noch nicht aufgegeben: »Ich will ruhig sein und auf den Erlöser warten«, notierte er am 5. Januar 1924.

Ganz mit seinen metaphysischen Spekulationen beschäftigt, dachte er verächtlich über die Politik. Im Januar schrieb er in sein Tagebuch: »Politik treiben heißt dem Geist […] Fesseln anlegen, heißt richtig schweigen und richtig reden, heißt lügen für eine größere Sache: O bei Gott, ein scheußliches Geschäft.«33 Er gefiel sich wieder in der Rolle des distanzierten, von den Zeitläuften angeekelten Beobachters: »Durch die Straßen gehen Demonstrationszüge. […] Wer trägt die Schuld an all dem Durcheinander, an all dieser Unkultur? Warum versöhnen wir uns nicht? Warum schließen sich die Kräfte nicht zusammen, wo das Land – ja, ganz Europa Mathäi am letzten ist?«34

Die Tagebucheinträge dieser Monate spiegeln keineswegs vorrangig die politischen Ereignisse der Zeit wider, sondern seine eigene künstlerische und emotionale Entwicklung. Goebbels beschäftigte sich mit tiefgreifenden philosophisch-religiösen Fragen und Kunstbetrachtungen sowie mit Konzerten, die er im Winter 1923/24 regelmäßig besuchte.35 Und er machte sich ausführliche Notizen über das, was er las: die großen russischen Autoren, die ihn begeisterten, allen voran Dostojewski, die »große Seele Rußlands«,36 sodann Tolstoi, dessen Werke Kosaken und Krieg und Frieden ihm besonders imponierten,37 und Gogol, dessen Tote Seelen er allerdings für etwas »westeuropäisch angekränkelt« hielt.38 Daneben beschäftigte er sich vor allem mit skandinavischen Autoren: Bei Selma Lagerlöf hob er ihre volkstümliche Erzählkunst hervor,39 Hamsun, den er in den Jahren zuvor offenbar mit großem Gewinn gelesen hatte, schien ihm beim Lesen des Romans Die Weiber am Brunnen schon sehr gealtert,40 und sein Urteil über Strindberg fiel widersprüchlich aus.41

Naturalistische Theaterstücke wie Halbes Strom oder Hauptmanns Biberpelz fanden seine Zustimmung.42 Mit zeitgenössischer deutscher Literatur konnte er kaum etwas anfangen. Thomas Mann, dessen Buddenbrooks er noch bewundert hatte, erschien ihm nun als »Decadencedichter«,43 den Roman Königliche Hoheit wertete er als »Hundeschnauzenliteratur« ab.44 Georg Kaisers Stück Nebeneinander, das den Übergang des bedeutendsten deutschen expressionistischen Bühnenautors zur »Neuen Sachlichkeit« markiert, verriß er in seinem Tagebuch ausführlich.45 Hermann Hesse sagte ihm dagegen zu. In dessen Romanen Unterm Rad und Peter Camenzind, die beide die Schwierigkeiten von hochbegabten Jugendlichen thematisieren, einen Platz im Leben zu finden, entdeckte er Parallelen zu seiner eigenen Jugend.46

In der darstellenden Kunst, das zeigen seine Tagebücher, war er zeitgenössischen Werken gegenüber etwas offener. In Kunstausstellungen erregte er sich zwar über den Dilettantismus der modernen Kunst, zeigte sich aber unvermindert begeistert über eine Reihe von Expressionisten: Nach wie vor bewunderte er van Gogh, daneben Emil Nolde und Ernst Barlach.47

Die Atmosphäre im elterlichen Haus empfand er zunehmend als bedrückend. Er wolle weg, bekannte er Ende Dezember: »Wüßte ich nur wohin!« Zu Hause sei er »der Schlechte […], der Abtrünnige, der Apostata, der Verfehmte, der Atheist, der Revolutionär«. Er sei »der einzige, der nichts kann, den man nie um Rat fragt, dessen Urteil zu unbedeutend ist, als daß man es anhört. […] Es ist zum Wahnsinnig-werden!«48

Im Februar des neuen Jahres brachte er ein kurzes Porträt der Eltern zu Papier: Seine Mutter charakterisierte er als »offen und gut. Sie kann nicht anders denn lieben. […] Meine Mutter ist eine göttliche Verschwenderin; in allem, vom Gelde angefangen bis zu den lauteren Gütigkeiten des Herzens.« Der »Alte« sei ein »Knicker, aber er meint es gut«, er sei »Pedant, klein im Geist und in der Auffassung«, der »geborene (verstaubte) Jurist«. Immer wieder ging es ums leidige Geld: »Geld ist ihm das Ding an sich. Das Geld macht aus ihm manchmal einen kleinen Haustyrannen. […] Mich versteht er um kein Quentchen. Mutter hat den Instinkt für mich. Wie sollte es auch nicht sein. Habe ich doch mein Bestes von ihr!«49

Die häusliche Enge, die mangelnde Anerkennung, Unzufriedenheit mit der Beziehung zu Else, Hoffnungslosigkeit aufgrund seiner Mißerfolge als Künstler sowie aufgrund der allgemeinen Lebensumstände in der Nachkriegszeit, dazu Glaubenszweifel und die verzweifelte Suche nach »Erlösung«, Depressionen, Einsamkeit – das alles fügt sich in der Tat zu einem bedrückenden Bild.

Am 10. Februar findet sich in seinem Tagebuch der Hinweis auf ein neues Projekt: ein »Roman in Tagebuchblättern«, für den er zunächst den Titel »Stille Flammen« wählt.50 Aus diesen Überlegungen ging schließlich der Tagebuchroman »Michael Voormann« hervor, eine Neubearbeitung des schon 1919 verfaßten autobiographischen Stoffes. Ende Februar 1924 begann er mit der Niederschrift, die er binnen einer Woche abschloß. Er arbeitete so intensiv, daß er gegen seine Gewohnheit nur noch kurze Tagebucheintragungen verfaßte.51

Die Figur des Michael Voormann ist, wie bereits in dem 1919 verfaßten Roman, autobiographisch angelegt, trägt nun aber auch Züge von Goebbels’ verstorbenem Freund Richard Flisges.52 Michael kehrt aus dem Krieg zurück, nimmt ohne großen Ehrgeiz ein Studium auf, verliebt sich in eine Kommilitonin, für die ohne Zweifel Anka das Vorbild lieferte, schreibt ein Stück über Jesus Christus, verliert die Geliebte und findet seine »Erlösung« in harter Arbeit im Bergwerk, wo er bei einem Unglück schließlich ums Leben kommt. Sein Vermächtnis, so die Botschaft, ist die vorbildhaft gelebte Synthese von Hand- und Kopfarbeit, von Bürgertum und Arbeiterklasse, sein Opfertod, seine persönliche Erlösung, ist die Voraussetzung für die kollektive Erlösung, für die Entstehung einer neuen, besseren Welt.53 »Wenn ich mich selbst erlöse, erlöse ich die Menschheit« lautet der Kernsatz des Stückes.54 In dieser Perspektive scheint die Tragik des individuellen Todes des Helden aufgehoben.

Nach der Fertigstellung des Manuskripts am 10. März fühlte Goebbels sich müde und apathisch: »Ich habe zu nichts Lust.«

Hinwendung zur Politik

In der Phase starker Erschöpfung zu Beginn des Jahres 1924 wandte sich Goebbels verstärkt den neuesten politischen Entwicklungen zu. In München hatte am 26. Februar der Prozeß gegen die Putschisten vom 9. November 1923 begonnen. Vor allem der Hauptangeklagte weckte sein Interesse, wie die erste einschlägige Eintragung in seinem Tagebuch unter dem 13. März zeigt: »Ich beschäftige mich mit Hitler und der nationalsozialistischen Bewegung und werde das wohl noch lange tuen müssen. Sozialismus und Christus. Ethische Fundierung. Los vom erstarrten Materialismus. Zurück zur Hingabe und zu Gott!« Daß er auf die Idee verfiel, die Nationalsozialisten seien primär Gottessucher, verdeutlicht, wie sehr er mit religiösen Fragen beschäftigt war, ja, wie sehr diese Fragen sein Verständnis von Politik überlagerten.

Bei allem Enthusiasmus hatte er doch seine Einwände: »Aber die Münchner wollen Kampf, nicht letzte Versöhnung, vielleicht aus dem Gefühl, dass sie bei der Allversöhnung doch um die Ohren geschlagen werden. Aber ich bin noch nicht darüber gekommen.« In den nächsten Tagen beschäftigte er sich intensiv mit Hitler und dessen »Bewegung«.55 Zunächst überwogen Zweifel: »Vielleicht ist das Ziel richtig, aber die Wege überzeugen mich nicht. Und das Christentum dieser Herren hat doch mit Christus selbst fast nichts mehr zu tuen.« Aber er notierte auch: »Befreiend ist bei Hitler das Einsetzen einer ganzen aufrechten und wahrhaften Persönlichkeit. Das findet man in unserer Welt der Parteiinteressen so selten.«56

Letztlich waren es weniger die Inhalte, die zu dem Entschluß führten, sich Hitler anzuschließen, als dessen Charisma – dem Goebbels schon deshalb erlag, weil er große Übereinstimmungen zwischen Hitler und seiner autobiographischen Romanfigur sah: »Hitler ist ein Idealist, der Begeisterung hat. Ein Mann, der dem deutschen Volke einen neuen Glauben bringt. Ich lese seine Rede und lasse mich von ihm begeistern und zu den Sternen tragen. Vom Hirn zum Herzen geht der Weg. Ich finde das Grundmotiv aus dem Michael Voormann immer wieder. ›Als Christ bin ich nicht verpflichtet, mir das Fell über die Ohren ziehen zu lassen.‹ […] Nationales und soziales Bewußtsein. Los vom Materialismus. Neue Inbrunst, ganze Hingabe an das eine Große, das Vaterland, Deutschland. Wir fragen immer nach dem Weg. Aber hier ist ein Wille. Der findet schon den Weg.«57

Was er an Hitler bewunderte, waren nicht nur »Wille«, Inbrunst«, »Hingabe« und »Glaube«, sondern auch »wunderbarer Elan«, »Verve«, »Begeisterung« und »deutsches Gemüt«; hier waren für Goebbels endlich »wieder einmal Herzenstöne« zu vernehmen.58 Wenn ihn vor allem die Persönlichkeit Hitlers gefangennahm und er die inhaltlichen Vorstellungen des Nationalsozialismus entweder mißverstand oder für zweitrangig erachtete, so war die Hinwendung Goebbels’ zum Nationalsozialismus doch keineswegs das Ergebnis eines bloßen Zufalls oder einer affektiven persönlichen Bewunderung für den Agitator in München.

Goebbels’ nationalistische Einstellung hatte sich in den Jahren zuvor, nicht zuletzt unter dem Eindruck der belgischen und französischen Besatzungspolitik, immer weiter gefestigt. Das Menschheitspathos, das er noch im »Michael«-Manuskript so glühend vertreten hatte, wich allmählich der bedingungslosen Identifikation mit der bedrohten Nation, ein Prozeß, der nicht rationaler politischer Einsicht folgte, sondern vor allem Erlösungs- und Verschmelzungssehnsüchten: »Vaterland! Deutschland!«, schrieb er im April 1924 in sein Tagebuch: »Ich liebe dich wie eine Mutter und Geliebte!«59

Darüber hinaus hatte sich Goebbels antisemitischen Ressentiments verschrieben, mit denen er sich so etwas wie einen negativen Gegenpol zu seinen reichlich verschwommenen nationalen Vorstellungen schuf. Er beklagte den allgemeinen Kulturverfall und konnte andererseits mit der Demokratie und den modernen Strömungen in Kunst und Kultur wenig anfangen. Er war aber nicht bereit, sich mit den vorhandenen sozialen Gegensätzen abzufinden, und zeigte sogar Sympathien für den »Kommunismus«. Seine Begeisterung für Hitler als politischen »Führer« entsprach dem auf der politischen Rechten weitverbreiteten politischen Messianismus (auf den noch einzugehen sein wird). Sein politisches Weltbild wies somit bereits wesentliche Merkmale auf, die typisch waren für die »Neue Rechte« der Nachkriegszeit. Es muß daher als sehr unwahrscheinlich gelten, daß er sich mit der gleichen Begeisterung einem politischen Führer der Linken und dessen Ideen verschrieben hätte, wenn dieser im Frühjahr 1924 zufällig seinen Lebensweg gekreuzt hätte.

In seiner aufkeimenden Begeisterung für den Nationalsozialismus im kleinbürgerlichen Milieu, aus dem er stammte, stand Goebbels nicht allein. Im Hinblick auf die für den 4. Mai angesetzten Reichstagswahlen notierte er: »Alle jungen Leute, die ich kenne, wählen Nationalsozialist.«60 Der Merksatz, den er einige Monate zuvor niedergeschrieben hatte, es sei doch »gleichgültig, woran wir glauben, wenn wir nur glauben«, läßt sich somit nicht als Beleg für einen vollkommenen politischen Relativismus oder Opportunismus von Goebbels lesen.

Während er sich eifrig mit Hitler beschäftigte, wuchs seine kritische Einstellung Else gegenüber: Sie sei ein »Stimmungsmörder«, habe »keinen Stil, keine Rasse, kein System«. Sie sei ein »Menschenklößchen«; er könne sich mit ihr nicht unterhalten und sie wohl auch nicht mit ihm.61 »Else ist gut, aber ich liebe sie nicht mehr. Sie ist meine gute Freundin; mehr nicht.« Man müsse »jetzt mal auseinander«.62 Dann bedauerte er sie, lag über ihr doch der »Fluch des jüdischen Blutes«.63

Nach einem Krach mit Else hoffte er endlich »frei zu werden von allen Rassebindungen. Was hat mich der jüdische Geist in einem Teil von Elsens Wesen oft gequält und bedrückt.« Elses Schwester Trude hielt er für »ein typisches Judenmädchen, das alle körperlichen und geistigen Merkmale ihrer mütterlichen Rasse in konzentrierter Form auf sich vereint«. Für ihn war klar: »Eine verbastadierte Rasse wird steril und muß kaputt gehen. Ich kann nicht mithelfen!!!«64 Wieder schwankte er: »Ich liebe sie doch noch mehr, als ich glaube. Aber immer tiefer setzt sich in mir die Erkenntnis fest, daß wir nicht zusammenkommen dürfen.« Sicher wäre eine »radikale Trennung das einzige Heilmittel«, doch dazu konnte er sich nicht entschließen.65

In diesen Monaten unternahm er verschiedene Anläufe, doch noch im Berufsleben Fuß zu fassen. Im Februar 1924 bewarb er sich bei dem Zeitungsverleger Rudolf Mosse in Berlin. Er gab an, »Moderne Theater- und Pressegeschichte« studiert zu haben und in »meinem eigentlichen Fach, dem Zeitungs- und Verlagswesen, […] eine meinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprechende Position« anzustreben.66 Daß das Verlagshaus Mosse auf der politischen Rechten als »jüdischer« Pressekonzern verhaßt war, störte ihn offenbar nicht. Dann bemühte er sich – ebenso vergeblich – um eine Lehrerstelle an einer Handelsschule in Düsseldorf.67 Aus den folgenden Monaten sind weitere Hinweise auf Bewerbungen erhalten.68

Mit seinem alten Schulfreund Fritz Prang arbeitete er derweil an einem Plan, in Düsseldorf eine »Rheinische Monatsschrift für deutsche Kunst und Kulturpolitik« zu gründen: »Dann geht mein größter Wunsch in Erfüllung: Rede- und Formfreiheit ohne jede Bindung.«69 In seinem Kopf nahm das Projekt schnell Gestalt an: Es sollte ein Blatt »im großdeutschen, antiinternationalen Sinne« werden: »Also etwas nationalsozialistisch unter Vermeidung alles Demagogischen und Radaupatriotischen. Zur nationalen Volksgemeinschaft. Aus dem Sumpf der Partei heraus.«70

Anfang April 1924 begann er, sich politisch zu engagieren, und zwar für die von ihm seit kurzem so bewunderten Nationalsozialisten. Der Beginn seines Engagements läßt sich mit Hilfe der vervollständigten Edition seiner Tagebücher nun ganz präzise auf den 4. April 1924 datieren.71 An diesem Tag, so schrieb er in sein Tagebuch, »haben wir eine nationalsozialistische Ortsgruppe gegründet«. Angesichts des Verbots der NSDAP im November 1923 handelte es sich bei der Gründung, an der etwa ein Dutzend meist jüngere Rheydter Bürger beteiligt gewesen sein dürften, um eine illegale Organisation. Zunächst standen interne Positionsklärungen auf der Tagesordnung der kleinen Gruppe, und dabei ging es vor allem um eine Frage, wie Goebbels’ Notizen über die Gründungsversammlung erkennen lassen: »Wir haben uns einmal im wesentlichen über den Antisemitismus unterhalten. […] Die antisemitische Idee ist eine Weltidee. Da treffen sich germanischer und russischer Mensch. Zum kommenden Jahrtausend, wie Michael Voormann sagt.«72

Goebbels beschäftigte sich nun intensiv mit der »Judenfrage«, die er für die »brennendste der Gegenwart« hielt.73 Er las Henry Fords antisemitische Schrift Der internationale Jude, die er als erhellend empfand, auch wenn er nicht alle Gedankengänge des Autors nachvollziehen wollte. Nach wie vor legte er Wert darauf, sich sachlich zu informieren und sich sein kritisches Urteil zu erhalten: »Lenin, Trotzki, Tschitscherin sind Juden. Wie dumm kann man manchmal über politische und wirtschaftliche Vorgänge urteilen, da man das notwendige Material nicht kennt.« Daß Lenin kein Jude war, war seiner Aufmerksamkeit allerdings entgangen.74

Ford brachte ihn auf die Lektüre der »Protokolle der Weisen von Zion«. Zwar kam er zu der zutreffenden Schlußfolgerung, daß es sich bei diesem allzu schönen »Beweis« für den angeblichen Plan zur jüdischen Welteroberung um eine antisemitische Fälschung handeln mußte – doch egal: Er unterstellte die »innere« Wahrheit der Protokolle.75 Schließlich bilanzierte er seine intensive Beschäftigung mit der »Judenfrage« wie folgt: »Ich stehe auf der völkischen Seite: ich hasse den Juden aus Instinkt und aus Verstand. Er ist mir in tiefster Seele verhaßt und zuwider.«76 Und etwas später: »Jedes anti gegen die Juden ist ein pro für die deutsche Volksgemein-schaft.«77 Sein Antisemitismus scheint nicht, wie bei vielen anderen Völkischen, integraler Bestandteil einer ausgearbeiteten rassistischen Weltanschauung gewesen zu sein; sein antisemitisches Ressentiment folgte vielmehr einem ganz einfachen Muster: Je unklarer seine eigenen Vorstellungen von der angestrebten »Volksgemeinschaft« waren, desto klarer war seine Gegnerschaft gegen alles Jüdische. »Die Juden« standen ganz einfach für alle »zersetzenden«, kulturzerstörerischen, internationalistischen Kräfte, die das Zusammenwachsen des Volkes verhinderten. In seinem höchst nebulösen Weltbild gab es nun immerhin einen negativen Fixpunkt.

Bei den Wahlen Anfang Mai – neben dem Reichstag wählten die Rheydter ihr Kommunalparlament – traten die Nationalsozialisten mit einer Liste unter der Bezeichnung Völkisch-Sozialer Block (VSB) an.78 Die Angehörigen der illegalen NS-Ortsgruppe verteilten Flugblätter und betätigten sich nachts als Plakatkleber.79 Am 28. April organisierten sie eine große Wahlversammlung: Als Redner trat ein Rechtsanwalt Borries auf, der sich speziell über die »Judenfrage« äußerte, nach Goebbels’ Ansicht aber »etwas lau«. Im Saal saß ein relativ großer Block von Kommunisten, doch Goebbels, dem die Versammlungsleitung oblag, gelang es, die Veranstaltung über die Runden zu bringen.80

Der Wahlkampf erschöpfte ihn: »Die Niederungen des Wahlkampfes sind doch furchtbar öde und sandig. Aber schließlich steht im Hintergrunde die große Idee des völkischen Europas, in dem das völkische Deutschland einen hervorragenden Platz einnimmt.«81 Am Tag vor der Wahl hielt er vor einem »geladenen Kreis Vortrag über unsere Ziele und die semitische Gefahr«. Zum ersten Mal sprach er frei: »Guter Erfolg. Unsere Idee fängt alle, weil es eine Weltidee ist.«82

Bei den Reichstagswahlen gelang es den Nationalsozialisten – sie traten in den einzelnen Wahlkreisen nicht nur als Teil des Völkisch-Sozialen Blocks, sondern auch unter anderen Bezeichnungen auf –, im Reichsgebiet insgesamt 32 Mandate und 6,6 Prozent der Stimmen zu erobern. Die Ergebnisse für das Rheydter Kommunalparlament fielen demgegenüber deutlich ab: 528 Stimmen oder 2,7 Prozent.Politisch dominierte in der Stadt nach wie vor das Zentrum mit 30,3 Prozent, gefolgt von den Kommunisten mit 20 Prozent, während die bürgerlichen Parteien Deutsche Volkspartei (DVP) und Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 17,5 beziehungsweise 14,6 Prozent der Stimmen erhielten. Immerhin, der Völkisch-Soziale Block konnte einen Abgeordneten in die Stadtverordnetenversammlung entsenden.83

Das politische Engagement gab Goebbels’ Leben wieder Sinn. Er empfand »helle Freude«, daß er »wieder einen Glauben und ein neues Ziel« gefunden hatte. Doch eigentlich sah er sich als Intellektuellen, als Kulturpolitiker. Mit großem Engagement verfolgte er den Plan einer rheinischen, völkisch orientierten Kulturzeitschrift weiter.84 Vorübergehend schien es, als könne ein solches Projekt mit Hilfe der Schillergemeinde, einer völkischen Kulturorganisation mit Hauptsitz in Wien, die auch im Rheinland ihre Aktivitäten entfaltete, Wirklichkeit werden. »Wiedererweckung deutschen Geisteslebens im Sinne und Geiste Schillers« und »Ausscheidung aller jüdisch-internationalen Zersetzung« – solche programmatischen Ziele gefielen Goebbels.85 Aber das war Zukunftsmusik und die graue Realität der alltäglichen Parteiarbeit höchst unbefriedigend: »Die Kleinarbeit in der völkischen Sache hängt mir zum Halse heraus. Ich muß mich wieder auf das Prinzipielle und Geistige zurückziehen.«86 Hinzu kam, daß viele seiner Parteigänger ihm nicht behagten, handelte es sich doch zu einem erheblichen Teil um »ein wüstes Gesindel von ehemaligen Sträflingen, Maulhelden, Dummköpfen und Spitzeln«.87 In der Ortsgruppe seien »Stänkereien« an der Tagesordnung.88

Mitte Mai 1924, etwa zwei Wochen nach den Wahlen, zog er eine ernüchternde Bilanz. Sein »rücksichtsloses Eintreten für den völkischen Gedanken« habe ihm »auch den letzten Weg in die Presse oder ins Theater verbaut«, und bei den Zentrumsleuten in Rheydt habe er ohnehin »ausgeschissen«. Andererseits keimte Hoffnung auf: »Aus der Verzweiflung und der niederdrückenden Skepsis der letzten Jahre habe ich wieder den Glauben an die Nation und an den deutschen Geist gefunden. Nun bin ich stark und warte sehnlicher denn je auf Erlösung.« Ließ sich diese sehnsüchtige Suche nicht schriftstellerisch nutzen? »Ich müßte meinen geistigen Weg von Toller bis Hitler dichterisch darstellen. Etwas davon steht schon im ›Michael Voormann‹ […]. Ich will mich selbst erlösen. Wenn ein Buch oder Drama meine Erlösung fördert, dann hat es genug getan. Dann mag es im Schreibtisch vermodern.«89

Das politische Engagement auf der äußersten Rechten forderte schon bald seinen Tribut: Im Juni wurde er von mehreren Männern überfallen, er vermutete die »verdammten Semiten« als Auftraggeber. Er hatte den Eindruck, gegen sechs bis acht Männer um sein Leben gerungen zu haben, blieb aber offensichtlich unverletzt.90 Er erhielt Drohbriefe (deren Absender sich jedoch bald als harmlos herausstellen sollte), es fanden Hausdurchsuchungen statt, er befürchtete eine Verhaftung.91 Schließlich hatte er das Gefühl, sich kaum noch auf die Straße wagen zu können.92

Suche nach Orientierung

Ende Juni nahm er an einer Tagung in Elberfeld teil, zu der politische Gesinnungsgenossen aus dem gesamten besetzten Gebiet zusammengekommen waren. Goebbels war tief enttäuscht von den Führern der völkischen Bewegung im besetzten Gebiet: »Ihr Juden und ihr Herren Franzosen und Belgier, ihr braucht keine Angst zu haben. Vor denen seid ihr sicher. Ich habe selten eine Versammlung mitgemacht, in der so viel geschimpft wurde, wie in der gestrigen. Und dabei am meisten gegen die eigenen Kameraden.«

Im nicht besetzten Gebiet, so stellte er fest, war der von ihm schon seit langem erwartete Kampf zwischen den beiden Organisationen entbrannt, die um die Führungsrolle im rechtsradikalen Lager stritten, also »zwischen völkischer Freiheitspartei und nationalsozialistischer Arbeiterpartei«. Beide, so konstatierte er nüchtern, gehörten »ja auch gar nicht zusammen. Die ersten wollen den preußischen Protestantismus (sie nennen es deutsche Kirche), die anderen den großdeutschen Ausgleich – etwa wohl mit katholischem Einschlag. München und Berlin stehen im Kampf. Man kann auch sagen: Hitler und Ludendorff.« Seine Präferenz war eindeutig: »Ich muß viel eher nach München, denn nach Berlin. Wenn Hitler doch frei wäre!«

Die Einsicht, daß sich in der real existierenden völkischen Bewegung keine »tüchtigen, fleißigen und edlen Führer« fanden, beschäftigte ihn. Wenige Tage später formulierte er seine Sehnsucht nach einem Führer noch drastischer: »Deutschland sehnt sich nach dem Einen, dem Mann, wie die Erde im Sommer nach Regen.« Und dann folgte ein wahrer Aufschrei: »Herr, zeig dem deutschen Volke ein Wunder! Ein Wunder!! Einen Mann!!! Bismarck, sta up!«93

Der Ruf nach einem Führer, einem politischen Messias, den Goebbels hier so exaltiert vorbrachte, war in jenen Nachkriegsjahren geistiges Gemeingut der politischen Rechten. Daß Goebbels sich die nationale Rettergestalt als einen neuen Bismarck vorstellte, entsprach einem weitverbreiteten Bild; die Hoffnungen richteten sich aber auch auf das Wiedererscheinen eines Kaiser Friedrich oder eines Arminius. In der Literatur, der Publizistik, in der Jugendbewegung, der protestantischen Kirche, aber auch in den Geisteswissenschaften waren unzählige Stimmen zu vernehmen, die die Hoffnung, ja die Gewißheit zum Ausdruck brachten, es werde diese große Persönlichkeit, der »Eine«, erscheinen und die Nation aus der Niederlage heraus zurück zu Ehre und Selbstachtung führen. Solche nationalistischen Rettungsvisionen waren hochgradig religiös und pseudoreligiös aufgeladen: Der künftige Führer war ein Gottgesandter, ausgestattet mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.94

Man kann davon ausgehen, daß Goebbels den Ruf nach dem großen Mann – allerdings voller Zweifel – damals vor allem auch auf sich bezog: »Bin ich ein Faulenzer oder ein Geschickter, der auf das Wort Gottes wartet? Aus tiefster Verzweiflung rettet sich immer wieder das eine strahlende Licht: der Glaube an die eigene Reinheit und daran, daß einmal doch meine große Stunde kommen muß.«95

Das wachsende politische Engagement führte dazu, daß er sich eine Zeitlang intensiv mit Schriften führender Vertreter der sozialistischen Bewegung auseinandersetzte. Zunächst las er in Karl Marx’ Kapital. Er war beeindruckt von dessen Schilderung der Arbeitsverhältnisse in England, fand den Stil aber »trocken« und »schrecklich herzlos«.96 Einige Wochen später machte er sich an Rosa Luxemburgs Briefe aus dem Gefängnis. Zunächst empfand er durchaus Sympathien für »Rosa«, wie er sie in seinem Tagebuch nannte, wurde bei der Lektüre aber zunehmend kritischer, was nach seiner eigenen Einschätzung aber auch mit seiner »etwas einseitigen« antisemitischen Einstellung zu tun haben konnte.97 Dann las er die Erinnerungen des abtrünnigen, mittlerweile nach rechts abgewanderten Sozialdemokraten Gustav Noske Von Kiel bis Kapp, die bei ihm einen Haßausbruch gegen das »Judenpack« auslösten.98

Schließlich nahm er sich August Bebels Memoiren vor. Bebel habe »sympathische Züge« und einen »aufrechten, geraden Charakter«, aber ihn störte dessen »Halbbildung«.99 Der »Bebelsche Sozialismus«, so Goebbels’ Fazit nach der Lektüre, war an sich eine »gesunde Entwicklung gegen den damals allmächtigen Liberalismus«, anfänglich »durchaus vaterländisch gesinnt«, später jedoch »jüdisch verseucht«.100 Der biedere Arbeiterführer Bebel war, so sah Goebbels es, ein Werkzeug der international gesinnten jüdischen Linksintellektuellen und hilflos deren »Phrasenbrei« ausgeliefert.101 Wenn er selbst sich in den nächsten Jahren als Anhänger einer »sozialistischen« Politik innerhalb der NS-Bewegung profilierte, dann ging es weniger um den sozioökonomischen Umbau der Gesellschaft als vielmehr um die Herstellung einer rassisch homogenen »Volksgemeinschaft«.

In Rheydt bildete sich ein fester Kreis von politischen Gesinnungsgenossen, von ihm spöttisch »Bund der Unentwegten« genannt. Man traf sich zum Gedankenaustausch über Themen jenseits der Tagespolitik, mehrfach auch im Hause Goebbels.102 Die politische Radikalisierung hatte zur Folge, daß der Kontakt zu alten Freunden verlorenging. Er distanzierte sich allmählich vom »Typ des deutschen Kleinstadtbürgers«, den er personifiziert sah in diesen »schauderhaften Phrasenbengels«, die sich auszeichneten durch eine »faule, seichte Gemütlichkeit«, »Schweine im Gentlemenaufzug«, »Nachwuchs für die Bourgeoisie«.103

Seine Beziehung zu Else, die im April 1924 durch eine schwere Krise gegangen war, hatte sich wieder gefestigt. Der Makel ihres »jüdischen Blutes« schien ihn jetzt weniger zu stören: »Mit Else manche süße Schäferstunde«, schrieb er im Mai.104 Für ihn mag die Beziehung vor allem eines gewesen sein: bequem. »Else ist ein liebes, gutes Kind. Ein wenig langweilig. Aber ein treues arbeitsames Dienerchen. Man kann sich auf sie verlassen und sie tut einem jeden nur möglichen Gefallen.«105 Im Juli schrieb er, er sei »den Frauen gegenüber ein heilloser Egoist. Ich gebe? Nein ich nehme, so viel ich nehmen kann. […] Ich schäme mich oft vor mir selbst. Könnte ich dich heiraten, Else, dann wäre manches gelöst.« Aber heiraten konnte er Else aus »rassischen« Gründen eben nicht.106

Neben Else stand nach wie vor das Bild von Anka, von der er nicht loskam. Mehrfach vertraute er seinem Tagebuch an, daß ihm seine große Liebe, um die er sich betrogen fühlte, in seinen Träumen erschien. Die unerfüllte Sehnsucht nach Anka war der Beziehung zum anderen Geschlecht höchst abträglich:107 »Heute bin ich den Frauen gegenüber nur ein Halber. Es fehlt mir das Beste und Tröstendste: die Achtung, der Abstand, der Respekt.« Und er schloß: »Warum ist der Eros meine Qual, warum kann er nicht meine Freude und meine Kraft sein? Anka, du böse, liebe Frau!«108

Bedrängende Enge und völkische Euphorie

Goebbels versank wieder in einer Depression. Er fühlte sich im Sommer 1924 »mutlos dem täglichen Leben gegenüber« und kam einfach »nicht aus dem Kaff heraus«.109 Und: »Keine Anregung, keine Begeisterung, kein Glaube. Warten! Warten!! Wüßte ich noch worauf. Aus Selbstbetrug schicke ich meinen Michael von einem Verleger zum anderen. Keiner nimmt ihn. Verwunderlich?«110

Im August notierte er: »Viele versoffene Abende.«111 Wenige Tage zuvor schilderte er einen Angsttraum: »Ein Bulgare wirft mit einem Messer nach mir. Er trifft mit der Spitze auf meinen Kopf. Ich verblute. Die Kraft geht mir aus. Angst. Schauder. Ich fühle den Tod. Dann erwache ich. Der Mann hieß Bolgorowkow.«112

Eine persönliche Bilanz ließ wenig Raum für Hoffnung: »Mein Ideal: schreiben können und davon leben. Aber niemand bezahlt mir etwas für meinen Mist.«113 Er verfaßte die »Erinnerungsblätter«, kurze autobiographische Skizzen als Ergänzung der im Oktober 1923 begonnenen Tagebücher.114 Beim Stöbern durch die alte Korrespondenz mit Anka kam ihm die Idee zu einem neuen Projekt: ein Liebesroman in Briefen.115

Die Erinnerung an Anka und der Schmerz über ihren Verlust wurden fast übermächtig. Else war alleine in den Schwarzwald gefahren; ihm fehlte das Geld, sie zu begleiten.116 Er entwarf einen wehmütigen Brief an Anka, in dem er die Trennung beklagte.117 »Alle Menschen, die ich liebe und noch einmal in meinem Leben lieben werde, müssen sich damit zufrieden geben, daß sie das weniger bekommen an Liebe, was ich einmal an Anka Stalherm verschwendete.«118 Andererseits wuchs in ihm das Verlangen nach Else: »Ich habe Sehnsucht nach ihrem weißen Leib.«119 Es gab für ihn etwas, das die Frauen miteinander verband. In beiden fand er seine Mutter wieder: »So etwas Mütterliches lag in ihrer Liebe«,120 schrieb er über Anka, und über Else heißt es, sie sei »meine junge Mutter und Geliebte. Ich denke manchmal an sie als Mutter.«121 »Mutter ist gut zu mir«, schrieb er am selben Tag. »Ihr verdanke ich fast alles, was ich bin.« Seinen Vater brandmarkte er als »Unikum an Stillosigkeit«, »Biertischstratege«,122 »Mauzer«, er sei ein »launischer, aber im Innern herzensguter Mensch«,123 ein »biertrinkender Pedant«. Als Pedanten und Tyrannen hatte er den Vater schon zu Jahresbeginn charakterisiert. »Ich kann nicht verstehen, aus welchem Grunde Mutter den alten Knicker geheiratet hat.«124

Immer lustloser beteiligte er sich an den Aktivitäten der Völkischen in Rheydt. »Ich eigne mich nur für Politik auf weite Sicht, wie ich überhaupt nur auf weite Sicht arbeiten kann. Tagesarbeit ist mir zuwider.«125 Sein Freund Fritz Prang dagegen war mit Eifer bei der Sache. Für Goebbels war er ein umtriebiger Phantast, ein »idealistischer Ideologe« mit zu wenig Sinn für Realpolitik, der ihm in seinem Haus »für jede Woche alles mögliche Gesindel auf den Hals« lade.126 Immerhin ließ Goebbels sich überreden, Prang nach Weimar zu begleiten,127 wo vom 15. bis 17. August 1924 eine Tagung von Deutschvölkischen und Nationalsozialisten stattfand, die dort ein fragiles Bündnis schlossen: die Nationalsozialistische Freiheitsbewegung Großdeutschlands.128

Die geplante Reise drohte ins Wasser zu fallen, da Prang das Reisegeld zunächst nicht beschaffen konnte. Goebbels verspürte ohnehin »keine Lust mehr« auf den Parteikongreß, aber als das Geld doch noch eintraf, brach er am Nachmittag des 15. August dennoch auf.129 Die Reise sollte ihn zutiefst beeindrucken.

Nach einer strapaziösen Nachtfahrt traf er am nächsten Morgen in Weimar ein. Es war sein erster Besuch in der Stadt der deutschen Klassik. Die nächsten Tage erlebte er in einer fast permanenten Hochstimmung: Er fühlte sich unter seinesgleichen, unter Menschen, die seiner Auffassung nach ohne Zweifel Angehörige »einer gewissen Elite« waren. Er sah sich als Mitglied einer festlich gestimmten, verschworenen Gemeinschaft, die sich deutlich vom normalen Volk abhob: »Das Herz geht mir auf! Oh, unsere gesegnete Jugend! Wir Begeisterten! Wir Fanatiker! Heilige Flamme glüh’!«

Die Anhänger der »Bewegung« tagten im Nationaltheater, wo er Erich Ludendorff leibhaftig gegenüberstand: »Er mustert mich einmal scharf. Auf Herz und Nieren. Er scheint nicht unzufrieden.« In Weimar sah er auch erstmals die übrige Prominenz der extremen Rechten: Albert von Graefe, den Führer der Deutschvölkischen Freiheitspartei, nach Goebbels’ Einschätzung der »geborene Aristokrat«, der ihn an ein »rassiges Rennpferd« erinnerte; Gregor Straßer (»der gemütliche Apotheker aus Bayern«), Gottfried Feder (»Korpsstudent«), Wilhelm Kube, der ihm durch eine »laute und pomphafte« Rede auffiel, Ernst von Reventlow, der »gescheite, sarkastische Graf, der Weltpolitiker der Bewegung«, und Julius Streicher, der »Fanatiker mit den eingekniffenen Lippen«, der ihm »etwas pathologisch« vorkam. Mit Theodor Fritsch, seit Jahrzehnten einer der führenden antisemitischen Publizisten Deutschlands, der ihm wie ein »lieber alter Onkel« erschien, unterhielt er sich eine ganze Stunde lang.

Zwei Tage ließ sich Goebbels im Trubel des Parteitags treiben. Er ergötzte sich an den Aufmärschen und feierlichen Appellen, den pathetischen Reden, dem gemeinsamen Singen von patriotischen Liedern und zog durch die Lokale der Stadt, die von den Nationalsozialisten okkupiert worden waren.130 Darüber hinaus fand er Zeit, das Goethe- und das Schillerhaus zu besuchen. Bei seinem Besuch im Schillerhaus, ganz in national-pathetischer Hochstimmung, hatte er ein eigenartiges Erlebnis: Vor einem Schiller-Bildnis stehend, meinte er, Ähnlichkeiten in der Physiognomie zwischen sich und dem Dichter feststellen zu können. Da er sich stark mit diesem identifizierte und dazu tendierte, in seiner Phantasie mit dem jeweils Größeren, Bedeutenderen und Unerreichbaren zu verschmelzen, war eine solche Beobachtung an und für sich nicht überraschend. Die gerade abgeschlossene Lektüre der Autobiographie Richard Wagners hatte ihn ebenfalls veranlaßt, über Ähnlichkeiten zwischen sich und diesem nachzudenken.131 Bemerkenswert ist jedoch, daß, wie er festhielt, eine neben ihm stehende Dame die Ähnlichkeit gleichfalls bemerkte und »ganz verwundert und so etwas wie entsetzt« reagierte. Claus-Ekkehard Bärsch hat anhand dieser Szene darauf aufmerksam gemacht, daß für Goebbels die selbstverliebte Widerspiegelung im Porträt des Höherstehenden nur dann einen Wert hatte, wenn sie eine Bestätigung durch Dritte erfuhr. Goebbels wollte groß wie Schiller sein, er wollte aber vor allem, daß er diese Erhöhung in den Augen der anderen erfuhr.132

Das »ganze Herz voll von unvergeßlichen Eindrücken«,133 kehrte er nach Rheydt zurück. In seiner Wahrnehmung verschwammen die Zeugnisse der deutschen Klassik mit der völkischen Aufbruchstimmung: »Die völkische Frage verknüpft sich mit allen Fragen des Geistes und der Religion. Ich fange an, völkisch zu denken. Das hat nichts mehr mit Politik zu tuen. Das ist Weltanschauung. Ich fange an, Untergrund zu finden. Boden, auf dem man stehen kann.«134

Völkischer Journalist

Noch ganz unter dem Eindruck der Weimarer Erlebnisse gründete Goebbels gemeinsam mit Fritz Prang am 21. August 1924 in Mönchengladbach eine Ortsgruppe der – im besetzten Gebiet verbotenen – Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung Großdeutschlands. Angeblich meldeten sich umgehend zwanzig Mitglieder, nachdem Goebbels »in anderthalbstündigen Ausführungen die grundlegenden Probleme der völkischen Weltanschauung erörtert« hatte. Prang habe anschließend anerkennend geäußert, er sei »der geborene Redner«.135

Goebbels hielt nun im engeren Umkreis seines Wohnorts regelmäßig Vorträge. Am 3. September sprach er in Wickrath vor einem bürgerlichen Publikum, am 10. in Mönchengladbach, am 17. wieder in Wickrath, diesmal allerdings vor Bauern, am 18. vor Arbeitern in Mönchengladbach, am 25. in Rheydt, am 27. September in Neuß.136 »Aus dem Stegreif sprechen ist nicht halb so schwer, wie ich gedacht hätte«, stellte er in seinem Tagebuch fest, »aber man muss davor, wie zu allem, Übung haben. Und die hole ich mir jetzt in diesen kleinen Anhängerversammlungen.«137

Im Vordergrund seiner politischen Arbeit stand für ihn nun das Projekt einer völkischen Zeitung, die in Elberfeld erscheinen sollte. Das Vorhaben, auf das sich in seinem Tagebuch ein erster Hinweis bereits im Juli findet,138 nahm langsam Gestalt an und ersetzte die ältere Idee einer kulturpolitischen Zeitschrift für das besetzte Rheinland. Er sollte, so die Absprache mit dem Herausgeber Friedrich Wiegershaus, dem Führer des Gaus Rheinland-Nord der Freiheitsbewegung, »jede Woche einen kulturpolitischen Aufsatz, eine politische Wochenschau, ein Glossarium und etliche Kleinigkeiten« liefern. »Bezahlt wird vorläufig nur mit Idealismus und Undank.« Völkische Freiheit hieß das Blatt.139

Die erste Nummer der Wochenzeitung erschien Anfang September.140 An der dritten Ausgabe, so hielt er stolz fest, habe er selbst zu drei Vierteln mitgeschrieben.141 Zwar war die Zeitung, wie er einräumen mußte, »noch ein kleines Käseblatt«, aber er fühlte sich »jung und wagemutig« genug, um sie zum Erfolg zu führen.142

Goebbels schrieb längere Abhandlungen, zeichnete für das »Politische Tagebuch« verantwortlich, schrieb als »Ulex« Glossen in der Rubrik »Streiflicht« und verwertete Reste in der Spalte »Aus meiner Tagesmappe«. In der zweiten Nummer versuchte er sich unter dem Titel »National und sozial« an einer Synthese der beiden Begriffe:143 »National empfinden« heiße, »allem Tun und Handeln, Denken und Fühlen das Veranwortungsbewußtsein dem Staate als Volksgemeinschaft gegenüber zu Grunde legen«. Und weiter schrieb er: »Soziales Gefühl ist gesteigertes Familiengefühl. Es steigt also aus dem Herzen ins Hirn. Es ist das Gefühl der schicksalhaften, rassischen Gebundenheit innerhalb des staatlichen Gefüges. […] Das letzte Ziel des nationalen Sozialismus ist ein starkes, gesundes Volk in einem starken, gesundeten Staate.« In einem anderen Beitrag äußerte er, ganz offensichtlich unter dem Eindruck der Lektüre von Spenglers Preußentum und Sozialismus: »Nationaler Sozialismus ist nichts anders als friderizianisches Staatsgefühl, nichts anderes als Kantscher Imperativ.«144

Versucht man, solchen Äußerungen irgendeinen Sinn abzugewinnen, so zeigt sich, daß Goebbels’ Sozialismus herzlich wenig zu tun hatte mit den zeitgenössischen Debatten um Vergesellschaftung der Produktionsmittel oder Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und nicht die Verwirklichung einer egalitären und gerechten Gesellschaftsordnung zum Ziel hatte. Der »nationale Sozialismus« lief vielmehr auf die totale Einordnung des einzelnen in eine durchorganisierte Volksgemeinschaft hinaus. Da in einer solchen rassisch homogenen und ganz auf die Durchsetzung nationaler Ziele ausgerichteten Volksgemeinschaft soziale Unterschiede zweitrangig waren, war aus Goebbels’ Sicht auch die »soziale Frage« gelöst, herrschte eben »nationaler Sozialismus«.

Goebbels, der in den Jahren 1925/26 einer der heftigsten Befürworter einer »sozialistischen« Ausrichtung der Politik der NSDAP war, hat nie den Versuch unternommen, einmal darzulegen, welche wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Konsequenzen die Einführung des »nationalen Sozialismus« gehabt hätte. An den Debatten, die auf dem »linken« Flügel der NSDAP über eine künftige Wirtschaftsordnung unter einem nationalsozialistischen Regime geführt wurden, hat er sich nur am Rande beteiligt.145 Seinen Gauleiter Axel Ripke kritisierte er zwar im April 1925, weil er der Arbeiterschaft nur eine Eigentumsbeteiligung von 49 Prozent zugestehen wollte, was Goebbels als »reformierten Kapitalismus« ablehnte.146 Doch wie er selbst sich die Beteiligung vorstellte, ließ er offen. Ihm kam es vor allem darauf an, sich bei der Propagierung des »nationalen Sozialismus« als möglichst radikal und jugendlich-kompromißlos, als Hauptvertreter eines innerparteilichen Oppositionskurses zu profilieren. Die »sozialistische« Haltung war eine Pose, in der er sich gefiel.

In den Beiträgen für die Völkische Freiheit äußerte sich Goebbels vorzugsweise auch zu kulturpolitischen Problemen. In dem Aufsatz »Völkische Kulturfragen« vom Oktober 1924 verbreitete er sich über den »neuen Menschen«, wobei ohne Zweifel sein »Michael« Pate stand: »Drei große Faktoren haben an diesem Menschen mitgearbeitet. […] Der Krieg weckte ihn aus tiefem Schlaf; er brachte ihn zu Bewußtsein. Der Geist quälte ihn und trieb ihn zur Katastrophe; er zeigte ihm Tiefe und Höhe. Die Arbeit löste ihn; sie machte ihn stolz und frei.«147

Unter der Überschrift »Nationale Intelligenz« stimmte er eine Woche später ein Loblied auf das »Werkstudententum« an, in dem er ein »Symbol der neugerichteten jungen deutschen Geisteselite« sah.148 Unübersehbar ist wiederum der Rückgriff auf Motive im »Michael« im Loblied auf »jene heldenmütigen Studenten«, die sich »als Arbeiter und Beamte in den Bergwerken, den Fabriken und den Banken« ihren Lebensunterhalt verdienten.

Innerhalb der Partei wurde Goebbels allmählich bekannter. Am 13. September nahm er in Elberfeld an einer Tannenbergfeier teil. Viel Parteiprominenz war angereist, und er hatte Gelegenheit, unter anderem mit Ludendorff, Graefe, Straßer, Röhm und Kube zu sprechen.149 »Mein Ruf als Redner und politisch-kultureller Schriftsteller geht durch die Reihen der Anhänger des nationalsozialistischen Gedankens im ganzen Rheinland. Auch eine Befriedigung!«, hielt er Ende des Monats stolz in seinem Tagebuch fest.150

Anfang Oktober übernahm er offiziell die Schriftleitung der Völkischen Freiheit, was bedeutete, daß er zwei Tage in der Woche nach Elberfeld mußte. Die übrigen Tage saß er zu Hause und schrieb Artikel für das Blatt, wenn er nicht für die völkische Sache unterwegs war.151 Goebbels, so scheint es, hatte endlich eine Aufgabe gefunden, die seinen Interessen und Fähigkeiten entsprach.