Kapitel 1

Dienstag, 19. November

Nora waren viele Gedanken durch den Kopf geschossen, als sie aufwachte. Gedanken an das heiße Wasser, in dem sie gelegen hatte. An die verzweifelten Schreie ihres Vaters, als er ihren nackten Körper aus dem rot gefärbten Badewasser zog. An die Rettungssanitäter, die beruhigend mit ihr sprachen, während sie von den Bodenfliesen aufgehoben und auf die Trage gelegt wurde. An das junge Paar aus der Nachbarschaft, das zusah, wie sie in den Rettungswagen geschoben wurde, ehe der mit kreischender Sirene davonfuhr. Doch das Erste, woran sie gedacht hatte, als sie aufwachte, war genau das: Sie war aufgewacht.

Nora lag in Embryonalstellung mit dem Gesicht zur Wand, die Augen halb geöffnet. Die Unterarme waren vom Handgelenk bis zum Ellbogen bandagiert. Sie ballte die Fäuste, erwartete, das pulsierende Klopfen in den Armen zu spüren, aber es war nicht da. Sie konnte nicht das Geringste spüren.

Aus einem der Zimmer nebenan hörte sie einen lauten Schrei, auf den schnelle, schwere Schritte folgten, das Hämmern an eine Tür. Dann noch einmal. Ein weiterer Schrei, etwas leiser jetzt. Er klang eher nach Verzweiflung als nach Schmerz. Nora drehte sich auf die andere Seite und streckte das eine Bein aus. Sie hatten ihr eines dieser Krankenhaushemden angezogen.

»Wie fühlen Sie sich?«, erklang die Stimme eines Mannes.

Nora zuckte zusammen. Sie war nicht allein, jetzt spürte sie auch seine Anwesenheit. Ruhig blieb sie liegen und starrte an die Wand.

»Wissen Sie, wo Sie sind?«, fuhr er fort.

»Ja«, erwiderte Nora und setzte sich auf. Ihr Hals war wie zugeschnürt, Zunge und Mundhöhle so staubtrocken, als ob ein Schwamm darin läge und alles aufgesogen hätte. »Ich bin im Krankenhaus.«

Der Mann saß in einem tiefen Sessel neben der Tür und hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Nora sah geschlossene Augen. Sofern der Bart nicht täuschte, schien er Mitte fünfzig zu sein.

Sie griff nach einem Becher Wasser auf dem Nachttisch, und während sie den Fremden ansah, goss sie die Hälfte der Flüssigkeit in sich hinein. Sie zog die Decke zurecht, sodass nur ihre Beine bedeckt waren. Der Mann an der Tür hob ein Augenlid und sah zu ihr herüber, ehe er das Auge wieder schloss.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er.

Sie sah zum Fenster. Die Vorhänge waren fast zugezogen, doch ein kleiner Spalt verriet, dass der Regen, der früher am Tag eingesetzt hatte, in Schnee übergegangen war.

»Ich möchte allein sein.«

»Sie sind hier in der psychiatrischen Notaufnahme und werden entsprechend überwacht, was bedeutet, dass die ganze Zeit jemand bei Ihnen sein muss.«

»Wo ist mein Handy?«

»Das weiß ich nicht.«

Nora ließ sich wieder in die Kissen fallen, legte sich auf die Seite und starrte an die Wand. Ein leichter Pulsschlag machte sich in ihren Armen bemerkbar. Bestimmt hatten sie ihr eimerweise Schmerzpillen und lokale Betäubungsmittel gegeben, die gerade ihre Wirkung verloren. Oder hatte sie eine Narkose bekommen? War sie deshalb so benebelt?

»Ich will mein verdammtes Handy haben«, sagte sie zur Wand. »Ich habe ein Recht darauf.«

»Ich werde mich darum kümmern, aber davon abgesehen wäre es gut, wenn Sie erst mit Ihrer Ärztin reden, ehe Sie sich wieder über Handy oder soziale Medien erreichbar machen.«

Vielleicht arbeitete er gar nicht hier, sondern war eingewiesen so wie sie? Vielleicht hatte er sich in ihr Zimmer geschlichen, während diejenigen, die tatsächlich hier arbeiteten, mit anderen beschäftigt waren? Wie die Person, die vorhin geschrien hatte? Und Sie werden entsprechend überwacht ? Das hatte sie nie zuvor gehört. Niemand hatte von Überwachung gesprochen, als sie sich das letzte Mal geritzt hatte. Doch dieses Mal hatte sie tiefer geschnitten. Tief genug, hatte sie geglaubt. Jedenfalls hatte sie es gehofft. Und psychiatrische Notaufnahme?

Landete man dort nicht, wenn man völlig durchgedreht war? Wenn man in einem Einkaufszentrum mit einem Messer Amok lief und wahllos auf andere einstach? Doch, das hatte sie gelesen. Dann wurde man hier untergebracht, bis der Prozess begann, und man von sich sagen konnte, dass man zum Zeitpunkt der Tat verrückt gewesen war. Dann konnte man die Strafe an einem Ort wie diesem absitzen, bis ein Arzt sagte, es bestehe keine Gefahr mehr, dass man abermals mit einem Messer Amok lief – oder sonst irgendetwas Verrücktes tat –, und man freigelassen wurde.

Hinter sich hörte sie ein schweres Seufzen. Als ob der Typ es schon völlig leid wäre, dort zu sitzen und auf sie aufzupassen. Nora schob die Decke zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. Sie senkte die Fußsohlen auf den kühlen Boden.

»Wieso werde ich überwacht?«, fragte sie nach einer Weile.

»Das dürfen Sie mich nicht fragen«, sagte er zur Zimmerdecke. »Ich vermute allerdings, Sie werden deshalb überwacht, weil die Ärztin fürchtet, dass Sie erneut versuchen könnten, sich selbst zu verletzen. In den Unterlagen habe ich gesehen, dass Sie vor sieben Monaten schon einmal hier waren. Also nicht hier, aber in der Jugendpsychiatrie.«

»Sie denken wohl, dass ich es beim zweiten Versuch hätte hinkriegen sollen, oder?«

»Nein, ich bin froh, dass dem nicht so ist.«

»Das würde Sie doch einen Scheißdreck kümmern, solange sie nicht dafür bezahlt würden, sich Sorgen zu machen. Oder jedenfalls so zu tun als ob.«

»Etwas früh, mit siebzehn einfach Schluss zu machen, finden Sie nicht?«

»Nein.«

»So schlimm ist es also?« Er versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. »Das Leben?«

Sie antwortete bloß mit einem kurzen Nicken, wollte ihm nicht mehr von sich offenbaren. Vielleicht war er ja Arzt und das Ganze hier ein Teil irgendeiner Behandlung.

Er richtete sich im Sessel auf, klopfte ungeduldig mit den Fingern auf die Armlehnen, schob die Hand in die Tasche und zog ein Handy heraus. Der Bildschirm erhellte sein Gesicht. Die Augen wirkten resigniert und erschöpft.

»Wie lange arbeiten Sie hier eigentlich schon?«

»Lange genug«, erwiderte er, ohne aufzublicken.

»Und das heißt?«

»Zwei Monate.«

Sie konnte sehen, dass seine Lippen ein Scheiße in Richtung Bildschirm formten.

»Dann sollten Sie eigentlich wissen, dass Sie als Mitarbeiter Ihr Handy während der Arbeitszeit nicht benutzen dürfen. Wenn Sie jetzt mal nach meinem sehen könnten, verrate ich auch nichts.«

Langsam hob er das Kinn und zog eine Augenbraue hoch. Zum ersten Mal sah er sie richtig an, betrachtete die bandagierten Unterarme, die Oberarme, die aussahen, als hätte sich ein Dreijähriger mit rotem Filzstift über sie hergemacht. Verschieden große Narben zogen sich von den Ellbogen bis zu den Schultern hinauf. Der Mann schien etwas sagen zu wollen, stopfte stattdessen aber nur sein Handy in die Tasche. Dann folgte erneutes ungeduldiges Fingerklopfen.

Nora ging ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und hielt die Hände unter den schwachen Strahl. Sie rieb sich das Gesicht, während sie in einen Spiegel blickte, der dort gar nicht hing.

»Sind Sie Arzt?«, fragte sie, während das Wasser lief.

»Nein.«

»Was sind Sie dann?«

»Sozialarbeiter.«

»Aber Sie sind hier, um mich zu beobachten?«

»Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass es Ihnen gut geht.«

Nora drehte das Wasser ab, ging zurück und ließ sich auf der Bettkante nieder. Von da aus rutschte sie weiter in die Bettmitte, rollte die Decke zusammen und stopfte sie zwischen Rücken und Wand. Dann legte sie sich das Kopfkissen auf den Schoß und ließ die bandagierten Arme darauf ruhen.

»Bin ich zwangseingewiesen?«

»Ich weiß nicht mehr, als dass Sie hier entsprechend überwacht werden sollen, jedenfalls bis morgen.«

»Dann bin ich also zwangseingewiesen?«

»Tja … Sind Sie dann wohl. Aber klären Sie das mit der Ärztin. Ich schätze, sie ist gegen Mitternacht hier.«

»Und wie spät ist es jetzt?«

»Paar Minuten nach elf.«

»Ist hier so verdammt viel zu tun, dass sie erst in einer Stunde kommen kann?«

»Jepp.«

Er gähnte, versuchte erst gar nicht mehr, es zu verbergen. Er schob die Hand in die Tasche, als ob er sein Handy wieder hervorholen wollte, besann sich dann aber, und die Hand kam leer wieder zum Vorschein.

»Machen Sie ruhig«, sagte Nora. »Ich werde Sie nicht verpfeifen.«

Er ließ es in der Tasche.

»Wollen Sie mich nichts fragen?«, erkundigte sie sich nach einer Weile.

Seine Lippen bewegten sich. Er befeuchtete sie und musterte Nora. Sein Blick war intensiv, als ob er durch sie hindurch und direkt in das Chaos in ihrem Inneren sähe.

»Hatte ich eigentlich nicht vor. Was soll ich Sie denn fragen? Warum Sie sich ritzen?«

Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Wär doch nicht so abwegig? Wird mich die Ärztin doch vermutlich auch fragen.«

»Ich kenne die Antwort.«

»Ach, ja?«

»Ich schätze mal, als Sie anfingen sich zu ritzen, hatten Sie nicht den Wunsch zu sterben. Sie machen das nämlich schon lange, stimmt’s? Seit Sie ein kleines Mädchen waren? Angefangen mit so kleinen Papierschnitten?«

Er blickte auf ihre vernarbten Oberarme. »Es geht darum, den psychischen Schmerz auf etwas zu verlagern, das körperlich wehtut, damit der Fokus von den inneren Schmerzen umgelenkt wird. Aber …« Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien ab. »Und es ist nicht so, dass ich es nicht verstünde, wenn man im Inneren so schreckliche Schmerzen verspürt, aber wenn es nur darum geht, den Schmerz zu verlagern … Wäre es da nicht einfacher, sich die Zehen an der Türschwelle zu stoßen? Das ist mir nämlich gestern passiert, und es tut immer noch weh. Ich wollte am liebsten sterben, genau wie Sie.«

Nora fing an zu lachen. Sein buschiger Bart formte sich zu einem Lächeln. Dann sagte er: »Ich habe Sie eben gefragt, ob das Leben so schlimm sei, und Sie haben genickt. Jetzt lachen Sie. Es wird schon alles gut werden, Mona.«

»Nora.«

»Wie?«

»Ich heiße Nora. Nicht Mona.«

Er schob die Finger in die Tasche, zog ein Blatt Papier hervor und las, was darauf stand, ehe er es wieder in die Tasche steckte.

»Sie haben bestimmt recht«, sagte er und schloss halbwegs die Augen. »No-ra.«

Er war jedenfalls kein Arzt. Dessen war sie sich sicher.

Jemand klopfte an die Tür und öffnete sie gleichzeitig. Eine Frau kam ins Zimmer. In der Hand trug sie einen Teller mit zwei Knäckebrotscheiben.

»Roomservice«, sagte der Sozialarbeiter und blickte auf den Teller. »Schwitziger Gouda auf müdem Knäckebrot? Also ehrlich, Jeanette, was Langweiligeres hast du wohl nicht finden können?«

»In der Schleuse wartet Besuch auf dich«, entgegnete die Frau und überhörte die Kritik an ihrem Brotbelag. »Ich vertrete dich hier so lange.«

»Besuch für mich

Der Sozialarbeiter sah sie erstaunt an.

»Ja«, sagte Jeanette und stellte den Teller auf den Nachttisch. »Er hat jedenfalls nach Anton Brekke gefragt.«