Kapitel 3

Dienstag, 19. November

»Du siehst grauenhaft aus«, sagte Magnus Torp.

Er hatte sich Anton gegenüber an einen Tisch in der Eingangshalle des Krankenhauses gesetzt. Cafeteria und Kiosk waren bereits dunkel, sie würden erst am nächsten Morgen wieder öffnen. Abgesehen von einem frischgebackenen Elternpaar, das etwas abseits saß und einander die Hände streichelte, während beide verträumt auf den kleinen Körper in dem Plastikkorb auf Rädern starrten, waren Magnus und Anton allein.

Es war vier Monate her, dass Magnus Anton zufällig im Zentrum von Fredrikstad getroffen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatten Antons Haare noch vage an eine Frisur erinnert, und der Bart hatte einigermaßen gepflegt gewirkt. Jetzt erinnerte Anton eher an jemanden, der den Verfall bewusst willkommen hieß. Er blickte von der Tischplatte auf und sah Magnus an. Seine Augen waren rot und geschwollen, als ob er seit zwei Tagen nicht geschlafen hätte.

»Mein Vater sagt das auch.« Er fuhr sich mit der Hand durch den Bart. »Ich sollte ihn vielleicht ein wenig stutzen lassen.«

»Gefällt’s dir hier nicht?«

»Ist völlig in Ordnung. Ich arbeite im Großen und Ganzen nachts, plus ein paar Extraschichten tagsüber, falls Bedarf ist.«

»Als ich dich das letzte Mal traf, hast du in einem Kindergarten gearbeitet. Da hast du wesentlich besser ausgesehen als jetzt. Und hast du nicht immer damit angegeben, wie gut du mit Kindern umgehen könntest? Aber vielleicht ist es nicht mehr ganz so einfach, wenn man es acht Stunden hintereinander mit einer Armada von Kindern zu tun hat?«

»Du bist auf der richtigen Spur.«

»Wieso hast du da gekündigt?«

»Ola.«

»Wer ist das?«

»Ein fünf Jahre alter Rotzjunge. Und mit Rotzjunge meine ich genau das. Permanenter Blubber in einem der Nasenlöcher, wann immer er ausgeatmet hat, und dann hat er sich am liebsten an mir abgewischt. Das gefiel ihm am besten. Ich konnte mit ’nem Papiertaschentuch kommen, aber stattdessen hat er sich meinen Ärmel geschnappt und sich damit die Nase geputzt. Fünf Jahre alt und schon ein Psychopath. Er wird in ein paar Jahren vermutlich an Armen und Beinen hier reingezerrt.« Anton deutete mit dem Kopf auf die psychiatrische Notaufnahme. »Typisches Montagskind. Stell dir mal vor, du kriegst so eins!«

Magnus grinste.

»Damals hast du gesagt, dass es dir gefällt.«

»Für eine Weile ist es gut gegangen. Der Umgang mit den Kindern hat in der Regel Spaß gemacht, und die Kollegen waren im Großen und Ganzen nett. Aber dann kam Ola in meine Gruppe. Als ob er es geahnt hätte, dass ich neu im Geschäft war. Hat ständig die Grenzen ausgetestet. Es ist total eskaliert. Ein bisschen Rotz vertrage ich ja schon. Oder ein Stück Apfel in der Fresse. Dasselbe gilt für schmutzige Nägel, die mir in die Haut gepresst werden. Aber als er anfing zu beißen, wurde es mir zu viel. Meine Kollegen waren ja Pädagogen, und du weißt, wie solche Leute sein können. Mit Kindern darf nicht mehr diskutiert werden. Allein die Stimme zu erheben, ist jetzt in etwa das Gleiche, wie ihnen den nackten Hintern zu versohlen. Und ehe ich ihn im Sandkasten verbuddelt hätte, habe ich dann gekündigt.«

»Hättest du nicht versuchen können, mit ihm zu reden?«

»Ich verhandele nicht mit Terroristen.«

Magnus lachte und lehnte sich zurück. Er warf einen Blick auf das verliebte frischgebackene Elternpaar, ehe er Anton wieder ansah.

»Ich sollte mal zurück zur Arbeit.«

»Warte mal einen Moment«, bat Magnus. »Nimm dir fünf Minuten Zeit.«

»Hab ich gerade getan.«

Anton stand auf, und Magnus sah ihn kritisch an.

»Im Ernst, Anton. Setz dich. Ich bin nicht hergekommen, um mir von Ola berichten zu lassen.«

»Weswegen bist du dann gekommen?«

»Kannst du dich bitte hinsetzen?«

Anton atmete seufzend aus und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken. Die beiden Elternteile erhoben sich gleichzeitig vom Sofa, beugten sich über den Plastikkorb mit dem Neugeborenen, murmelten mit Babystimme etwas Unverständliches und zogen von dannen.

»Weshalb bist du so gestresst?«, fragte Magnus.

»Gestresst? Ich bin bei der Arbeit. Und die zu verlieren, kann ich mir nicht leisten. Sag einfach, was du sagen möchtest.«

»Ich …«, setzte Magnus an. »Ich verstehe einfach nicht, wieso die Dinge nicht so sein können wie früher.«

»Sind die Dinge nicht wie früher?«

»Jetzt komm schon, Anton. Du gehst nicht ans Telefon, beantwortest keine SMS , und wenn ich bei dir anklingele, hast du nicht mal Bock, die Tür zu öffnen.«

»Tagsüber schlafe ich oft, weil ich meist nachts arbeite.«

»Anton. Ich hab dich durchs Fenster gesehen. Sobald mein Finger auf dem Klingelknopf landet, drehst du die Lautstärke am Fernseher runter. Ich weiß, dass du zu Hause gewesen bist, als ich da war. Jedenfalls zweimal. Und ich habe den Verdacht, dass du das auch an deinem Geburtstag warst. Das Licht war nämlich an. Also nein, die Dinge sind nicht wie früher. Ich hab dich jetzt seit vier – vier – Monaten nicht gesehen, und wenn nicht ein alter Kollege von der Streifenpolizei in Fredrikstad gesagt hätte, dass er dich gestern Abend im Zusammenhang mit einer Einweisung in der psychiatrischen Notaufnahme gesehen hätte, dann hätte ich nicht mal gewusst, dass du hier arbeitest. Wir kennen uns seit zehn Jahren, dann passiert dieser Scheiß – der übrigens nicht mein Fehler war –, und du pfeifst einfach drauf? Wischst meinen Namen einfach von der Tafel? Ich habe den Mund gehalten. Ich habe nicht ein einziges Wort gesagt, obwohl das alles so verrückt war – und ist –, wie nur irgendwas verrückt sein kann. Und es steht in absolutem Widerspruch zu allem, woran ich glaube.«

»Dafür habe ich mich bei dir bedankt.«

»Und warum können wir dann das Ganze nicht einfach vergessen? Das ist es, was ich nicht kapiere.«

»Okay …« Anton starrte in die leere Eingangshalle.

»Da du es etwas knapp hältst, kommt hier die Kurzversion: Du hast deine eigene Fernsehsendung bekommen und ich ’nen Tritt in den Arsch. Zufrieden?«

»Du hast keinen Tritt in den Arsch bekommen. Du hast gekündigt.«

»Was glaubst du wohl, wäre passiert, wenn ich nicht gekündigt hätte?«

Magnus gab keine Antwort.

»Genau«, sagte Anton. »Ich hatte keine Wahl.«

Die Türen am Haupteingang glitten auf. Zwei Wachleute kamen herein, spähten in die Cafeteria und marschierten in verschiedene Richtungen davon, nachdem sie sich vergewissert hatten, dass weder Anton noch Magnus eine Gefahr darstellten.

»Außerdem habe ich überhaupt keine eigene Sendung bekommen. Ich glaube, ich soll jetzt insgesamt siebenundzwanzig Minuten dabei sein, verteilt auf acht Episoden. Jedenfalls war das die letzte Information, die ich bekommen habe.«

»Torp?«

»Ja?«

»Schön, dass wir uns mal wieder gesehen haben.«

»Das meinst du jetzt nicht ernst.«

»Doch, das meine ich. Das hier ist nicht dein Problem. Es ist meins, und so und nicht anders muss es für mich jetzt eine Weile sein.«

»Es sind vierzehn Monate vergangen. Wie viel Zeit wirst du denn noch brauchen?«

»Ich rufe an, wenn’s so weit ist.« Und damit wollte Anton aufstehen.

»Kannst du bitte noch einen Augenblick warten?«

Anton blieb sitzen.

»Kann ich nicht morgen vorbeikommen? Ich bringe was zu essen mit, dann können wir …«

»Ich arbeite bis zehn«, unterbrach Anton.

»Ich dachte, du arbeitest meist nachts?«

»Eigentlich habe ich ab morgen früh frei, aber ich übernehme noch eine Schicht extra.«

»Und übermorgen?«

»Da bin ich nicht zu Hause.«

»Hörst du dir eigentlich selbst zu?«, rief Magnus. »Leck mich-Da-bin-ich-nicht-zu Hause -am Arsch.«

»Dann komm eben vorbei.«

»Fein! Dann mach ich das.«

»Aber ich bin dann nicht zu Hause. Morgen nach der Arbeit fahre ich mit dem Zug nach Göteborg.«

Anton zog sein Handy hervor. Drei Frauen unterhielten sich und lachten, als sie an den beiden vorbeigingen. Eine von ihnen warf einen Blick auf den einzigen besetzten Tisch in der Eingangshalle, ehe das Trio nach draußen in den fallenden Schnee trat.

»Göteborg?«

»Eine relativ große Stadt in Schweden, zwei Stunden südlich der norwegischen Grenze. Kennt man am ehesten wegen seines Freizeitparks Liseberg.«

»Ach, du bist so witzig. Hysterisch witzig, geradezu. Ich bin kurz davor, mich totzulachen. Du willst also ins Casino Cosmopol, ja? Bist du deswegen seit Monaten im totalen Lockdown? Weil du nur noch Poker spielst?«

Anstatt Magnus anzusehen, starrte Anton auf sein Handy.

»Machst du das jetzt auch gerade?«

»Gibt abends und nachts nicht viel mehr zu tun, wenn die Verrückten schlafen.«

»Jetzt hast du aber gerade Besuch von mir.«

Anton zog die Augenbrauen hoch und sah Magnus kurz an, ehe sein Blick sich wieder auf das Display richtete.

»Zwei Asse. Anscheinend hast du mir etwas Glück gebracht.«

Magnus seufzte und schüttelte den Kopf.

»Hat gereicht«, sagte Anton nach einer Weile. »1200 Kronen. Direkt ins Körbchen. Sehr schön. Aber jetzt muss ich wirklich mal zurück auf meine Station.«

»Eins noch.«

»Was denn?«, fragte Anton in Richtung Display.

»Cecilie Olin.«

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor …«, erwiderte Anton leicht entrückt.

»Deine vermisste Kollegin, die seit Sonntagabend sämtliche Onlineausgaben ziert.«

»Aah.« Anton tippte auf dem Handy herum. »Na, was man so Kollegin nennt. Wir arbeiten im selben Gebäude – genau wie fünftausend andere auch.«

»Wir sind seit heute involviert.«

»Wir?«, sagte Anton und runzelte die Stirn, während er langsam den Kopf hob und Magnus ansah.

»Dann eben die Kripo . Skulstad hat mir den Fall übertragen.«

»Schön.« Anton zwang sich zu einem Lächeln. »Dann hast du im letzten Jahr alles richtig gemacht. Ich bin stolz auf dich – und das meine ich ganz ernst – aber Mord und ein unbekannter Täter … das ist immer eine Herausforderung. Viel Glück.«

»Du glaubst, dass sie tot ist?«

»Klar ist sie tot. Die Kripo würde bei einem reinen Vermisstenfall ja nach … wie lange … achtundvierzig Stunden? … nicht hinzugezogen werden.«

»Im Polizeidistrikt Øst wurde ein Ermittlerteam zusammengestellt, mit einem gewissen Lars Weberg als Leiter.«

»Nie gehört. Weißt du, was ich sonst noch glaube?«

»Nein.«

»Dass sie heute Abend gefunden wurde. Du bist hier nämlich ein kleines bisschen zu spät, um nur zu sehen, wie es mir so geht. Wenn du bloß deswegen neugierig wärst, würdest du draußen auf dem Parkplatz in deinem Sportwagen sitzen und darauf warten, dass ich mit meiner Arbeit anfange.«

»Es ist ja völlig in Ordnung, dass du die fünfzig überschritten hast, aber sag bitte nicht Sportwagen

»Ich dachte, das wäre ein Sportwagen?«

»Das ist ein Porsche.«

»Torp?«

»Ja?«

»Fahr schön vorsichtig nach Hause mit deinem Sportwagen.« Anton stand auf und spähte hinaus. Der Boden war von einer feinen Schneeschicht bedeckt. »Könnte nämlich glatt sein.«

Magnus blickte umher, um sich zu vergewissern, dass außer ihnen niemand in der Nähe war, und sagte: »Du hast recht. Es ist nicht länger ein Vermisstenfall. Sie wurde heute Abend von einem Spaziergänger und seinem Hund in Skjeberg im Wald gefunden.«

Anton seufzte, während er auf sein Handy blickte.

»Bauer-zwei. Neun-vier. Dame-sechs. Das sind die letzten drei Blätter, die ich bekommen habe, Torp. Vergiss, was ich gesagt habe von wegen Glück bringen.«

»Das letzte Lebenszeichen hat sie in der Nacht auf Sonntag um 02:58 Uhr von sich gegeben, da rief sie ihren Mann an und sagte, sie sei in der Kurve hinter der Borge Schule. Zu Fuß auf dem Heimweg nach Skjærviken. Von dort bis zum Fundort sind es über zwanzig Kilometer. Sie war vollständig angezogen, als man sie fand, aber was zwischen ihrem Verschwinden und dem Auffinden der Leiche passiert ist, darüber wissen wir nichts. Hoffentlich bekomme ich morgen ein paar Antworten von der Rechtsmedizin. Ich habe einen frühen Termin mit dem Dänen, bevor der Ehemann vernommen werden soll.«

Anton legte das Handy weg und sah Magnus an.

»Warum erzählst du mir das alles?«

»Ich weiß nicht genau. Die Pressekonferenz findet«, Magnus sah auf die Uhr, »in circa fünfzehn Stunden statt. Ich dachte, du würdest das lieber von mir hören, als es irgendwo im Internet zu lesen, falls du dich für den Fall interessierst.«

Anton setzte sich in Bewegung und sagte: »Das tue ich nicht.«

*

Anton nahm im Schwesternzimmer auf einem Stuhl Platz und sah zu dem Wachmann hinüber, der an der Ecke der L-förmigen Station saß. Er dachte daran, was Torp gesagt hatte. Warum die Dinge nicht mehr wie früher sein konnten. Er erinnerte sich, wie Magnus ihn in der Eingangshalle angesehen hatte. Es war der gleiche Blick, den er unzählige Male selbst aufgesetzt hatte, wenn er auf einen Drogenabhängigen traf, der nach jahrelanger Abstinenz rückfällig geworden war. Zu Beginn seiner Karriere, als er in Oslo Streife gefahren war, hatte er die Rückfälligen immer gefragt, wie es sein konnte, dass sie sich wieder auf diesen Weg begaben, obwohl sie doch wussten, was sie dort erwartete. Und nicht zuletzt: Obwohl sie doch wussten, welche Langzeitfolter damit auf ihre Familie wartete. Niemand hatte ihm eine befriedigende Antwort geben können. Nicht ein einziges Mal. Bloß ein schlappes Schulterzucken und der Blick aus zwei Augen, der – wenn sie nicht schon ins Jenseits sahen – manchmal einen Hauch von Scham oder Reue erkennen ließ. Seine Ex-Frau hatte mehrmals gesagt, dass das Glücksspiel sein Heroin sei. Tatsächlich war das eines der letzten Dinge gewesen, die sie ihm ins Gesicht gebrüllt hatte, als sie noch unter einem Dach lebten.

Didrik Ryde sagte etwas vom Sofa her. Er lag in der Waagerechten und sah fern, die Augen halb geschlossen. Trotz der Tatsache, dass er fachlich nicht sonderlich fähig war, mochte Anton ihn. Das Wenige, was er im Laufe der zwei Monate, die sie zusammenarbeiteten, aus ihm herausbekommen hatte, war, dass er seine Freizeit überwiegend mit Primus-Kocher und Schlafsack im Wald verbrachte. Didrik Ryde passte gut zur psychiatrischen Notaufnahme; er gehörte zu der Sorte Mensch, die das Leben als unkompliziert betrachtete; im scharfen Gegensatz zu denen, die sich sonst noch auf dieser Station aufhielten.

»Hm?«, fragte Anton.

»Ich sagte: Wer war denn der affektierte Typ, der vorhin nach dir gefragt hat?«

»Ein alter Kollege.«

»Uuh.« Didrik Ryde setzte ein dümmliches Grinsen auf. »Wo hattet ihr euer Büro? Paris oder Mailand?«

»Wovon redest du?«

»Ich wusste gar nicht, dass du Model gewesen bist.«

Er lachte kurz. Anton sah ihn verständnislos an.

»Der Anzug hat nicht gerade billig ausgesehen«, fuhr Didrik Ryde fort. »Und eine Panerai am Handgelenk, wie ich gesehen habe. Feiner Pinkel. Tja, reicher Schutzmann hätte man werden sollen.«

Der Alarm ging los. Anton beugte sich vor und blickte auf den Computerbildschirm. Es blinkte in dem Kästchen für Zimmer F007.

»Das ist Halvorsen«, sagte Anton. »Siehst du mal nach, wie sehr es wieder mit ihm durchgeht?«

»Kannst du das nicht machen?«

»Nee«, sagte Anton und trat auf die Tür zu. »Ich muss zurück zu meinem Teenager.«