Mittwoch, 20. November
Der Dienstag war gerade in den Mittwoch übergegangen, als Magnus seine Wohnung in der Agentgate aufschloss. Er schaltete die Deckenlampe ein, legte die Laptoptasche aufs Sofa und ging in die Küche. Er hatte Hunger, doch nachdem er auf die Uhr gesehen hatte, ließ er den Gedanken, sich etwas zu essen zu machen, wieder fallen. Seine positiven Gewohnheiten im Hinblick auf Ernährung und Sport hatten sich eine Woche nach seinem Beginn bei der Kripo vor zwei Jahren in Luft aufgelöst. Gemüse und Vollkornreis mit Geflügel, Schwein, Rind oder Fisch waren durch schnell hinuntergeschlungene Kohlenhydrate in der Kantine in Bryn oder im Imbiss irgendeiner Tankstelle zwischen den einzelnen Einsätzen ersetzt worden. Dafür hatten sich die sechs Muskelpartien, die seinen Bauch seit der Teenagerzeit geschmückt hatten, in vier verwandelt. Wenn es in diesem Tempo weiterginge, würde er innerhalb von weiteren zwei Jahren den familientypischen Puddingbauch bekommen.
Magnus mischte einen Proteinshake zusammen und setzte sich zum Trinken auf die Fensterbank. Pulverschnee rieselte vom schwarzen Himmel herab. Zwei Gestalten traten aus dem bereits verdunkelten Restaurant »Heim« und trennten sich. Plötzlich fiel Magnus ein, dass er versprochen hatte, seine Mutter anzurufen. Sie hatte sich bei ihm gemeldet, als er gerade an Cecilie Olins flachem Grab in Skjeberg gestanden hatte. Er sah abermals auf die Uhr und beschloss, morgen früh auf dem Weg zur Arbeit zurückzurufen.
Er nahm sein flüssiges Abendessen mit zum Sofa, legte sich den Laptop auf den Schoß, loggte sich ins System ein und rief den Fall auf.
Cecilie Olin war am Sonntagvormittag um halb elf als vermisst gemeldet worden. Das zuständige Polizeirevier hatte die vom Ehemann erstattete Vermisstenmeldung aufgenommen, mehr war im Laufe des Tages nicht passiert. Abgesehen von der Anfertigung einer kleinen Notiz, die besagte, dass Cecilie Olin nicht vorbestraft war, keine psychiatrische Vorgeschichte hatte und auch nicht im Fahndungsregister der Polizei aufgeführt war. Am Montagnachmittag und -abend war eine Suche in Skjærviken und dem umliegenden Wald durchgeführt worden. Das war das Standardverfahren. Dass eine erwachsene und noch dazu betrunkene Person ein paar Stunden fortblieb, verwandelte sich erst dann in eine offizielle Untersuchung, wenn andere Faktoren ins Bild kamen. Da spielte es keine Rolle, ob der verzweifelte Ehemann, der glaubte, dass seiner Frau etwas zugestoßen war, in der Polizeiwache saß und weinte. Die Erklärung war einfach: Im betrunkenen Zustand machten die Menschen immer wieder irgendwelche dummen Sachen.
Magnus überflog die Vermisstenmeldung und klickte dann eine Audiodatei an. Er drehte die Lautstärke hoch und klickte auf Play.
»Vernehmung von Adele Ferking«, begann eine dunkle, bassartige Stimme. »Es ist Dienstag, der neunzehnte November. Die Uhrzeit ist 14:38. Anwesend sind Kommissar Lars Weberg sowie Adele Ferking. Frau Ferking wurde über ihre Rechte im Zusammenhang mit der Zeugenbefragung aufgeklärt.« Ein schwaches Geräusch war zu hören, als ob das Mikrofon an eine andere Stelle versetzt würde. »Können Sie kurz über Ihre Beziehung zu Cecilie Olin berichten?«
Adele Ferking erwiderte etwas, doch Magnus konnte nicht verstehen, was. Offenbar war es Lars Weberg genauso gegangen, denn er bat sie, lauter zu sprechen und das Gesagte zu wiederholen. Adele Ferking räusperte sich und sagte: »Wir sind Freundinnen. Und wir arbeiten zusammen auf der Kinderstation im Krankenhaus Kalnes.«
»Wie lange kennen Sie einander?«
»Wir haben zusammen studiert, also … zwölf oder dreizehn Jahre.«
»Sie sind also eng befreundet?«
»Ja.«
»So eng, dass man – sofern man diesen Ausdruck im Erwachsenenalter verwenden darf – von Busenfreundinnen sprechen kann?«
»Kann man so sagen, ja.«
Magnus registrierte die Anspannung in ihrer Stimme. Die gleiche, die wohl die meisten verspürten, wenn sie einem Polizisten in einem Vernehmungsraum gegenübersaßen.
»Cecilies Ehemann, Fredrik Olin, hat erklärt, dass Sie und seine Frau am Montag einen gemeinsamen Abend bei den Olins zu Hause verbringen wollten. Ist das so richtig? … Die Zeugin nickt. Waren das nur Sie beide?«
»Wir hatten eigentlich einen gemütlichen Abend mit dem einen oder anderen Glas Wein geplant, dann aber habe ich vorgeschlagen, dass wir eine Tour in die Stadt machen könnten. Cecilie wollte eigentlich nicht, kam aber mit, weil sie darauf hoffte, dass ihre Single-Freundin mal einen Fisch an Land ziehen würde, also sind wir dann gegen elf aufgebrochen, kurz nachdem Fredrik nach Hause gekommen war.«
»Die Single-Freundin, das sind Sie?«
»Ja.«
»Und was ist dann passiert?«
Während er zuhörte, nahm Magnus einen großen Schluck von seinem Proteinshake und ließ den Kopf gegen die Rückenlehne sinken.
»Wir sind ins Savoy gefahren.«
»Haben Sie viel getrunken?«
»Wir hatten uns schon fast zwei Flaschen Wein geteilt, ehe wir losgefahren sind, und … Ich weiß nicht mehr, wie viel dann in der Stadt noch dazukam, aber wir waren schon ziemlich blau, alle beide.«
Magnus knöpfte sich das Hemd auf und streifte es ab. Er spähte auf sein Fourpack und beschloss, am nächsten Tag Sport zu machen, auch wenn es mitten in der Nacht sein sollte. Er warf das Hemd über den Tisch hinweg in Richtung Schlafzimmer.
»Und dann sind Sie bis zur Sperrstunde im Savoy geblieben?«
»Cecilie ist kurz vor zwei gefahren.«
»Sie hat Sie allein zurückgelassen?«
»Nein, da war einer, den ich von früher kannte, der hat sich dann zu uns gesetzt.«
»Und sie wollte nach Hause?«
Magnus trank den Rest seines Proteindrinks in einem langen Zug aus und ging in die Küche.
»Das ist ja das Seltsame. Eine Stunde nachdem Cecilie gegangen war, rief sie mich an und sagte, sie sei auf dem Weg nach Hause – zu Fuß. Dass sie jemand mitgenommen, aber an der Borge Schule aus dem Wagen geworfen habe, weil ihr übel geworden sei. Ich habe sie gefragt, wo sie in der Zwischenzeit war, aber damit wollte sie nicht so recht rausrücken. Und da habe ich sie gefragt, ob sie ihn getroffen hätte.«
Magnus spülte die Flasche aus, stellte sie in die Spülmaschine und ging zurück zum Sofa.
»Wen meinen Sie mit ihn ?«
»Bjørn. Das Arschloch, an das sie die zweite Hälfte ihrer zwanziger Jahre verschwendet hat.«
»Bjørn, und weiter?«
»Farsund. Na jedenfalls, da sagte sie bloß Adele. Als wollte sie mich warnen, das Thema überhaupt anzuschneiden.«
»Als Cecilie Sie anrief, da hat sie nicht mehr in dem Wagen gesessen, der sie erst mitgenommen hatte?«
»Richtig. Sie wollte zu Fuß nach Hause gehen. Das sind ja nur anderthalb Kilometer oder so.«
»Okay. Wieso haben Sie sie gefragt, ob sie ihn getroffen hätte?«
»Weil er vor zwei Wochen aus dem Gefängnis entlassen wurde, und weil er sie angerufen hat, während wir bei ihr zu Hause in Skjærviken waren. Ich habe gefragt, ob er sie schon häufiger angerufen hätte, und da sagte sie Nein, allerdings hatte ich das Gefühl, dass das so nicht stimmte.«
Magnus hielt die Aufnahme an, holte Notizblock und Kugelschreiber aus der Jacke im Flur und kehrte zum Sofa zurück. Er blätterte zu einer leeren Seite vor und notierte Bjørn Farsund. Dann ließ er die Tonaufnahme weiterlaufen.
»Cecilie war ihm gegenüber ganz abweisend und kurz angebunden«, fügte Adele Ferking hinzu, »aber dieser Typ lässt einfach nicht locker. Er weigert sich geradezu, sie in Ruhe zu lassen.«
»Wissen Sie, weswegen er gesessen hat?«
»Ja …« Es dauerte etwa zwei Sekunden, ehe sie fortfuhr. »Er hat sie geschlagen. Beim letzten Mal hat sie sich ins Badezimmer eingeschlossen und mich angerufen. Ich konnte im Hintergrund hören, wie Bjørn gegen die Tür trat und hämmerte. Cecilie schrie und schrie …« Adele Ferkings Stimme wurde schwächer. »Ich … Ich habe mich sofort ins Auto gesetzt und bin zu ihr gefahren, während ich gleichzeitig den Notruf gewählt habe. Die Polizei und ich kamen gleichzeitig an. Da hatte er die Badezimmertür schon zu Kleinholz gemacht. Kein Witz: Da waren nur noch ein paar Streben übrig. Cecilie lag bewusstlos in einer Blutlache auf dem Fußboden. Ich war sicher, dass sie tot war.«
»Und deswegen wurde er verurteilt?«
»Ja, aber nicht, weil Cecilie ihn angezeigt hat, das wollte sie nämlich nicht. Das hat Ihre Behörde ja dann gemacht. Der eine Polizist meinte, in solchen Fällen häuslicher Gewalt würde automatisch eine Anzeige erfolgen.«
»Das ist richtig«, sagte Lars Weberg. »War denn nach dieser Episode Schluss zwischen den beiden?«
»Ja, aber sie hat sich geweigert, gegen ihn auszusagen. Kaum auszudenken, nachdem sie fast hätte dran glauben müssen. Das sagt ja einiges darüber, wie sehr er sie unter Kontrolle hatte. Glücklicherweise wurde er verurteilt und hat achtzehn Monate gesessen. Hätten achtzehn Jahre sein sollen, wenn Sie mich fragen. An dem Freitag, als er im Gefängnis Halden seine Haft antreten sollte, sind wir nach Oslo gefahren, Cecilie, ich und zwei andere Freundinnen. Und da, in der Warteschlange vor der Kneipe, hat sie Fredrik kennengelernt. Seitdem sind die beiden unzertrennlich.«
»Es war also Liebe auf den ersten Blick?«
»Da können Sie drauf wetten. Aber Bjørn hat immer wieder aus dem Gefängnis angerufen, hat gesagt, dass er sie liebt, dass es für immer und ewig nur sie beide gäbe. Deshalb hat sie dann Fredrik auch so schnell geheiratet. Cecilie wollte Bjørn klar und deutlich vermitteln, dass sie weitergegangen war. Ich glaube, Fredrik und Cecilie haben sich kaum eine Woche gedatet, da waren sie schon ein Paar. Vier Monate später waren sie verlobt, und im Sommer danach haben sie geheiratet.«
»Die Beziehung zwischen den beiden läuft gut?«
»Zwischen Fredrik und Cecilie? Meine Güte, ja. Er mag vielleicht etwas langweilig sein, aber es gibt nichts, was er nicht für sie täte. Außerdem glaube ich, Cecilie hat eingesehen, dass etwas langweilig genau das ist, was sie braucht. Sie hat immer eine Schwäche für die bösen Jungs gehabt. Im ersten Jahr an der Uni hat sie sich doch tatsächlich in einen Drogenabhängigen verliebt. Nicht so einer mit Spritzen, aber einer, der sich massenweise Pulver und Pillen reingestopft hat. Es war ziemlich turbulent, aber Cecilie wollte nicht aufgeben. Sie hat allen Ernstes geglaubt, dass sie ihn retten könnte.«
»Und ist es gut gegangen?«
»Nicht wirklich. Nach etwa einem Jahr hat sie kapiert, dass sie für ihn niemals so wichtig sein würde wie der Rausch. Als wir dann im Praktikum waren, hat sie sich in einen der Krankenträger verknallt. Das war durchaus verständlich, den hätte ich auch nicht abgewiesen, wenn Cecilie mir nicht zuvorgekommen wäre.« Adele Ferking kicherte. Als hätte sie für einen Augenblick vergessen, weswegen sie im Vernehmungsraum saß. Dann fuhr sie voller Ernst fort: »Brad war sowohl sexy als auch lustig, hat aber ständig Medikamente geklaut, die er dann weiterverkauft hat.«
»Brad?«
»Er hieß eigentlich Rino Bjarne Solberg, aber er sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Brad Pitt. Alle haben ihn Brad genannt.«
»Das hat er bestimmt vorgezogen«, sagte Lars Weberg und kicherte.
Magnus lachte ebenfalls.
»Tja … das hat er. Er wurde natürlich angezeigt und entlassen, als herauskam, was er da trieb. Jede andere wäre in die entgegengesetzte Richtung geflüchtet, aber nein, nicht Cecilie. Sie war davon überzeugt, dass sie ihn wieder auf die richtige Bahn bringen könnte.«
»Aber es erwies sich als schwierig, ihn retten zu wollen?«
»Schlichtweg unmöglich. Glücklicherweise hat er sie fallen lassen und ist nach Dänemark gezogen. Danach war sie eine Weile Single. Dann kam Bjørn. Gepflegt. Ordentlich. Verflucht gut aussehend. Lustig. Nicht arm.« Schnell fügte Adele Ferking hinzu: »Also nicht, dass das jetzt was mit der Sache zu tun hätte, aber sie haben immer irgendwelche tollen Sachen zusammen gemacht. Es gab keinen Erdenwinkel, den sie in den gemeinsamen Jahren nicht besucht haben. An jedem Wochenende, das sie beide freihatten, war was los. Er hat sie mit teuren Geschenken überhäuft. Auch wenn Cecilie nicht so ein Typ Frau ist, so … Na ja, war jedenfalls kein Wunder, dass sie sich erst mal bezaubern ließ.«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete Lars Weberg. »Es dauert immer ein bisschen, bis solche Typen ihr wirkliches Gesicht zeigen.«
»Ja, er war sozusagen das totale Gegenteil von denen, die ihr zuvor begegnet waren. Auch wir anderen waren davon überzeugt, bis sich dann zeigte, dass er ein richtiger Teufel war und schlimmer als die beiden anderen zusammen. Die waren ja einfach nur Loser, aber Bjørn war böse.«
»Was macht Bjørn Farsund beruflich?«
»Er ist Arzt.«
»Die beiden haben sich im Krankenhaus kennengelernt?«
»Ja, er hat in der Notaufnahme gearbeitet.«
»In Ordnung«, sagte Lars Weberg langsam, als ob er dabei etwas aufschrieb. »Ich gehe davon aus, dass er jetzt nicht mehr dort arbeitet.«
»Das kann ich Ihnen versprechen. Den Job hat er verloren. Und wissen Sie was? Das freut mich tatsächlich mehr, als dass er sitzen musste. Er kann niemals zurück in die Notaufnahme in Kalnes. Auch auf keine andere Station bei denen.«
»Aber seine Approbation hat er nicht verloren?«
»Nein, aber er hat sein Gesicht verloren, und das bedeutet ihm weitaus mehr. Da gibt’s keinen Arzt und keine Krankenschwester, die nicht wissen, was er getan hat, und dessen ist er sich absolut bewusst. Und so was verbreitet sich auch von einem Krankenhaus zum nächsten. Nicht mehr viel Prinz übrig unter der glänzenden Rüstung.«
»Für Cecilie verwandelte sich die Zeit zwischen den Schichten im Krankenhaus also von einem Leben in Saus und Braus in ein eher normales Dasein?«
»Ja. Ich mache ja immer meine Scherze mit ihr und sage, dass sie an jenem Abend zweimal erwacht ist. Erstens aus der Bewusstlosigkeit, und zweitens aus dem Nebel, in dem sie seit ihrer Jugendzeit gewandelt ist. Schließlich hat sie dann begriffen, dass es Ruhe und Sicherheit sind, nach denen man streben sollte. Und beides fand sie bei Fredrik.«
»Und, Adele, Sie haben niemals irgendwelche Probleme zwischen den beiden erlebt?«
»Nein, nie. Oder ja, mein Gott, ich habe natürlich schon mal mitbekommen, dass sie sich über bestimmte Dinge nicht einigen konnten, aber sie hat nie erzählt, dass sie sich gestritten hätten oder so etwas. In der Zeit mit Bjørn hatte man ihr immer ansehen können, wenn der Haussegen schief hing.«
»Inwiefern?«
»Sonnenbrille nach Sonnenuntergang, Rollkragenpullover, im Sommer Blusen mit langen Ärmeln. Solche Sachen. Wir anderen Freundinnen haben es ja erst viel später kapiert, aber da war’s auch offenkundig.«
»Was denkt denn Fredrik über Bjørn Farsund? Das kann doch nicht sehr angenehm sein, zu wissen, dass er irgendwo herumschleicht, ob jetzt am Telefon oder im Garten?«
»Soweit ich weiß, hat Bjørn sie nie zu Hause aufgesucht. Ich hoffe auch nicht, dass das geschieht, denn Fredrik weiß nicht mal, dass Bjørn existiert. Cecilie hat sich so sehr geschämt, dass sie ihm nichts davon erzählen wollte.«
»Sie schämt sich?«
»Ja, weil sie sich nicht früher von ihm getrennt hat. Dass sie sich fast fünf Jahre hat wie Dreck behandeln lassen. An dem Tag, als Bjørn seine Strafe antrat, hat Cecilie gleichsam ein neues Kapitel aufgeschlagen. Jetzt fängt mein Leben an, hat sie damals gesagt, jetzt kann ich wieder leben.«
*
Vom Bett aus spähte Nora durch den Schlitz zwischen den Vorhängen. Auf den Schnee, der im Hintergrund schweigend vom Himmel fiel. Auf den Wald, den sie nicht sehen konnte, der aber da war, wie sie wusste.
Ein Geräusch hatte sie geweckt. Erst glaubte sie, es wäre wieder dieser Mann gewesen. Der, der ihr erzählt hatte, dass er sich den Zeh gestoßen hatte. Aber als sie sich umdrehte und in den dunklen Raum sah, merkte sie, dass in dem Sessel an der Tür niemand saß. Nora setzte sich auf und erhob sich dann vom Bett. Sie schlich zur Tür hinüber und lauschte. Auch draußen war alles still.
Was bedeutet, dass die ganze Zeit jemand bei Ihnen sein muss.
Sie blickte auf den leeren Sessel. Den Wächtersessel. Den Beweis dafür, dass die Mädchen in der Klasse recht hatten: Sie war verrückt. Aber jetzt war niemand bei ihr. Draußen war auch niemand. Nicht einmal ferne, undeutliche Stimmen waren zu hören.
Geräuschlos ergriff sie die Türklinke.
Sie zuckte zusammen, als sie hörte, wie eine Tür geöffnet wurde. Aber nicht die Klinke, die sie in der Hand hielt, wurde heruntergedrückt. Es war die Badezimmertür hinter ihr, die aufging. Ein gelber Lichtstreifen ergoss sich über sie und den Boden.
»Wo wollen Sie denn hin?«
Es war nicht der mit dem Bart und dem gestoßenen Zeh. Diese Stimme war schärfer und spitzer. Nora ließ die Klinke los und drehte sich um. Ein Mann stand in der offenen Tür zum Badezimmer.
»Legen Sie sich wieder hin«, sagte er und trat einen Schritt vor. »Es ist mitten in der Nacht.«
»Wie spät ist es?«
»Halb vier.« Er setzte eine Art dümmliches Kneipengrinsen auf. Als ob er irgendwo an einer Theke stünde und die Aufmerksamkeit einer Frau zu erhaschen versuchte. Sein Arm deutete auf das Bett. Sie schleppte sich hinüber und legte sich hin, beobachtete, wie er die Tür fast ganz schloss, ehe er sich in den Sessel sinken ließ. Der schmale Lichtstreifen aus dem Badezimmer lag als schwacher Schimmer über seinem halben Gesicht. Er starrte sie an.
»Was glotzen Sie so?«
»Ich glotze nicht«, erwiderte er. »Versuchen Sie jetzt ein bisschen zu schlafen.«
»Wie spät ist es?«
»Immer noch halb vier.«
»Wie heißen Sie?«
»Didrik.«
»Wo ist der andere?«
»Wer?«
»Der Lustige mit dem Bart.«
»Das ist Anton. Er ist gerade mit einem anderen Patienten beschäftigt.«
Da war es wieder, dieses schmierige Kneipengrinsen. Ziemlich schräg. Als ob er versuchen wollte, ein Foto von sich für irgendeine Dating-App aufzunehmen. Nora drehte sich auf die andere Seite, wandte sich von ihm ab.
»Ich kann auch lustig sein«, sagte der Typ hinter ihr.
Die Zimmerluft berührte den Streifen nackter Haut an Rücken und Hintern, der von dem Patientenhemd nicht völlig bedeckt wurde. Nora konnte den Blick des Typen spüren und warf sich die Decke über.