Mittwoch, 20. November
Polizeistudentin Melissa Harm überlegte einen Moment lang, ob sie vielleicht einem Mörder gegenüberstand. Nicht, weil der Mann vor ihr mit Blut beschmiert war oder so wirkte, als hätte er gerade jemanden getötet, sondern weil sie sich an eine Vorlesung an der Polizeihochschule vor einem Jahr erinnerte, wo darüber gesprochen worden war, dass weltweit vierzig Prozent aller ermordeten Frauen häuslicher Gewalt zum Opfer fielen. Vierzig Prozent. Also beinahe die Hälfte. Sie hätte eine Münze werfen können, und die Wahrscheinlichkeit, dass es Zahl gewesen wäre, war fast so groß, wie die Chance, dass der Mann ihr gegenüber seine Frau ermordet und die Leiche an einem unbekannten Ort entsorgt hatte. Wie sie wusste, wurden in Norwegen jährlich etwa zweitausend Menschen als vermisst gemeldet. Die meisten tauchten schnell wieder auf. Tatsächlich waren neunzig bis fünfundneunzig Prozent nach einem oder zwei Tagen wieder da, wie einer der Dozenten im Frühjahr erzählt hatte. Denn oft war es bloß ein seniler alter Mann, der auf der Suche nach seinem Elternhaus aus dem Pflegeheim entwischt war. Oder ein Teenager, der aus einer Einrichtung der Jugendfürsorge abgehauen war.
Doch der Mann, der in der Polizeiwache hinter der Glasscheibe stand und Melissa Harm aufgelöst anblickte, war nicht gekommen, weil er in einer Einrichtung arbeitete und einer der Bewohner ausgerückt war. Elias Ness war gekommen, um seine Frau als vermisst zu melden. Er sprach leise, als ob er nicht wollte, dass die anderen, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, etwas hörten. Seine eingesunkenen Augen lagen unter markanten Brauen, er hatte einen glatt rasierten Schädel, war irgendwas zwischen vierzig und fünfundvierzig und somit fünfzehn Jahre zu alt für sie, aber dennoch attraktiv.
»Nur einen Augenblick«, sagte Melissa und nahm den Telefonhörer ab.
Sie blickte auf einen Zettel mit den internen Nummern der verschiedenen Abteilungen in der Polizeistation Moss und suchte nach der Durchwahl für die Fahndungsabteilung. Sie fand die Nummer und bedachte Elias Ness mit einem aufmunternden Lächeln, während die Verbindung hergestellt wurde. Nach anderthalb Klingeltönen meldete sich eine Frauenstimme. Melissa erläuterte kurz, worum es ging, und legte wieder auf.
»So«, sagte Melissa. »Es kommt bald jemand, um mit Ihnen zu reden.« Mit flacher Hand deutete sie auf die Sitzgruppe. »Setzen Sie sich doch so lange.«
»Nein!«, entgegnete er laut und schlug mit der Faust auf den Tresen. »Ich habe keine Zeit zu warten.«
Sechs paar Augen richteten sich gleichzeitig auf sie.
»Okay, hören Sie, wenn nicht innerhalb von fünf Minuten jemand kommt, kümmere ich mich selbst darum.«
Der Mann sagte nichts, doch Melissa glaubte, ein bestätigendes Nicken zu sehen. Kaum hatte er sich umgedreht, kam auch schon die nächste Person aus dem Wartebereich und trat auf sie zu. Es war eine dunkelhäutige, üppige Frau mit Hijab. Sie trug eine Tasche über der Schulter. In der Hand hielt sie eine Geldbörse.
»Hallo«, sagte Melissa. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Die Frau legte die Geldbörse auf den Tresen und schob sie wortlos unter der Glasscheibe hindurch, die die Frauen trennte. Melissa nahm die Geldbörse und öffnete sie. Als Erstes sah sie den Mopedführerschein eines gewissen Roger Zachariassen, darauf das Foto eines männlichen Teenagers, der nach ihrer Berechnung sechzehn Jahre und drei Monate alt war und somit unmöglich ein Abkömmling der Frau sein konnte.
»Ness?« Die Stimme der Frau an der Tür zum Treppenhaus war deutlich zu hören. Es war die gleiche, die Melissas Anruf entgegengenommen hatte. Elias Ness erhob sich, ging hinüber zu der Ermittlerin, die, wie Melissa wusste, Kristin hieß und acht oder zehn Jahre älter war als sie selbst. Die beiden begrüßten sich mit Handschlag und entfernten sich.
»Haben Sie die gefunden?«, fragte Melissa. Keine Antwort. »Did you find this?«
»Yes.«
Melissa bedankte sich und versprach, den Besitzer zu kontaktieren. Die Frau bewegte sich auf den Ausgang zu. Im selben Moment, als sie hinausging, kam ein junges Paar herein und nahm in der Wartezone Platz. Melissa legte Roger Zachariassens Geldbörse beiseite und lächelte die Frau Mitte zwanzig, die sich an den Tresen gestellt hatte, entgegenkommend an.
Es war kurz vor acht Uhr am Morgen, und schon herrschte reger Besucherverkehr.
*
Kristin Mayer betrachtete Elias Ness. Er saß vornübergebeugt vor ihrem Schreibtisch. Das Kinn ruhte auf zwei gefalteten Händen. Sein Blick hatte sich in die Tischplatte gebohrt.
»Und dann denkt man natürlich gleich an die Frau unten in Fredrikstad«, sagte er. »Die vermisste Krankenschwester.« Er sah auf. »Seit wann ist sie jetzt verschwunden? Seit vier oder fünf Tagen? Das ist schließlich gerade mal eine halbe Autostunde entfernt.«
Während der Morgenbesprechung hatte Kristin Mayer erfahren, dass die vermisste Cecilie Olin aus Fredrikstad am Abend zuvor gefunden worden war, allerdings hatte sie nicht die Absicht, Elias Ness davon in Kenntnis zu setzen.
»Es ist völlig normal, so zu denken. Man denkt ja immer an das Schlimmste. Also«, sie blickte auf das Formular, das sie am Computerbildschirm ausgefüllt hatte, »als Sie heute Morgen wach geworden sind, da war Lisette verschwunden, und zuletzt gesehen haben Sie sie gestern Abend gegen Viertel vor zehn, als sie einen Spaziergang machen wollte.«
»Ja.«
Elias Ness richtete sich auf und sah mit in die Ferne gerichtetem Blick in den Schneeregen, der vor dem Fenster vom Himmel fiel. Kristin Mayer blickte erneut auf ihren Bildschirm.
»Und dann haben Sie sich hingelegt«, sagte sie. Eine Antwort blieb aus. Sie wiederholte ihre Frage.
»Mhm.«
Es schien so, als hätte er draußen etwas entdeckt. Kristin blickte in dieselbe Richtung, konnte aber nichts anderes sehen als unfreundliche graue Wolken.
»Ist das normal, dass sie abends so spät noch rausgeht?«
»Ja. Sie macht jeden Abend einen Spaziergang.«
»Um die gleiche Zeit?«
»Das kann etwas variieren, aber oft ist es um diese Zeit.« Er wandte endlich den Blick vom Fenster ab und rieb sich mit den Handflächen über das Gesicht. »Aber was passiert denn jetzt? Was machen wir?«
»Wir werden jetzt erst mal das hier erledigen, und danach schicke ich zwei Streifen raus, die Straßen und Wege absuchen sowie Befragungen in der Nachbarschaft durchführen werden. Ist sie immer dieselbe Strecke gegangen?«
»Ja. Aber können Sie das denn nicht zuerst machen? Die Streifen losschicken, und dann machen wir hinterher hier weiter?«
»Wir sind gleich fertig.« Sie überflog die kurze Erklärung, die er abgegeben hatte. Er nahm wieder die Position des Denkers ein, flocht die Finger ineinander und legte die Hände zusammen, beugte sich vor und ließ den Kopf auf den Händen ruhen. »Also, kurz nachdem Lisette gegangen war, haben Sie sich hingelegt und sind schnell eingeschlafen.« Kristin Mayer sprach in Richtung Bildschirm. »Dann sind Sie um zehn nach sechs aufgewacht und haben entdeckt, dass sie nicht im Bett lag, und nach einer Runde durchs Haus wurde Ihnen klar, dass sie seit Verlassen der Wohnung gestern Abend gar nicht mehr zu Hause gewesen ist. Gehen Sie immer so früh ins Bett?«
»Ja, ich hatte Frühschicht.«
»Okay. Und was arbeiten Sie?«
»Ich bin leitender Nachrichtenredakteur bei Aftenposten .«
»Sie arbeiten in Oslo?«
»Ja. Ich fahre um zehn vor sieben von zu Hause los. Und deshalb muss ich früh schlafen gehen.«
»Haben Sie versucht, sie anzurufen?«
»Selbstverständlich. Ihr Handy ist ausgeschaltet.«
»Was ist mit Freunden, Kollegen, Familie?«
Er nickte, ohne sie anzusehen.
»Ich habe alle angerufen. Niemand hat was von ihr gehört.«
»Okay.« Kristin Mayer lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wie ist die Beziehung zwischen Ihnen?«
Erneut richtete er sich auf, holte tief Luft und hielt den Atem an. Als ob er versuchte, sich zu beherrschen.
»Jetzt hören Sie zu. Ich habe ihnen erzählt, dass etwas passiert ist. Man verschwindet nicht einfach so ohne Weiteres. Jedenfalls nicht Lisette. Sie ist ständig unterwegs, gibt aber immer Bescheid, wenn sie später nach Hause kommt.« Er nahm einen neuen tiefen Atemzug, schloss kurz die Augen und fuhr dann fort: »Also was muss man machen, um hier ernst genommen zu werden?«
»Ich nehme Sie durchaus ernst – in höchstem Maße. Ich versuche lediglich, mir ein Bild von Lisette und Ihnen und der ganzen Situation zu machen. Vergessen Sie bitte nicht, dass ich nicht mehr weiß als das, was Sie mir eben geschildert haben, aber je mehr die Polizei weiß, desto leichter ist es, zu klären, wo man mit der Suche anfangen soll. Wie lange sind Sie schon verheiratet?«
»Sechs Jahre«, erwiderte er. »Nein, sieben. Jetzt im Sommer waren es sieben.«
Sein Blick driftete wieder zum Fenster ab. Kristin Mayer dachte an einen Artikel, den sie vor einigen Jahren gelesen hatte. Darüber, dass das Glück in einer Paarbeziehung oft nach sieben Jahren nachließ. Ein schwedischer Psychologe hatte auf dem Gebiet geforscht und konnte dokumentieren, dass das berühmte verflixte siebte Jahr in der Realität tatsächlich existierte. Neuere Forschungen hatten etwas später ergeben, dass man einander inzwischen sogar schon viel schneller leid wurde. Das verflixte siebte Jahr war zum verflixten fünften Jahr geworden. Kristin fragte sich, wie diese Krise wohl heute genannt wurde. Zwei ihrer Freundinnen hatten vor drei Jahren geheiratet. Beide waren gerade wieder Single geworden.
»Und alles läuft gut?«, fragte sie sanft.
Er nickte. »Wir sind seit … wie viele Jahre sind das jetzt? … seit dreizehn oder vierzehn Jahren zusammen.«
Kristin Mayer erhob sich und sagte: »Ich möchte, dass Sie jetzt nach Hause fahren, damit jemand da ist, falls Lisette auftauchen sollte. Und vermutlich wäre es schlau, wenn Sie jemanden anriefen, der vorbeikommen und Ihnen Gesellschaft leisten könnte.«
*
Der morgendliche Besucheransturm war vorüber. Melissa Harm betrat den Bereitschaftsraum und wechselte ein paar Worte mit zwei Kollegen der Schutzpolizei, die die Füße auf den Tisch gelegt hatten und darauf warteten, von der Zentrale zu einem Einsatz abkommandiert zu werden. Sie nahm eine zuckerfreie Coca-Cola aus dem Kühlschrank und kehrte zurück an den Besuchertresen. Dort ließ sie sich auf den Stuhl fallen, zog das Handy aus der Hosentasche und rief Instagram auf. Dreizehn Kommentare und siebenundfünfzig neue Herzchen für das Foto, das sie geschossen hatte, nachdem sie am Morgen in der Garderobe in ihre Uniform geschlüpft war. Es war kein aufgesetztes Sieh-mich-an-Foto. Nur ein Lächeln im Spiegel und der Text: »Bereit für die Frühschicht«, gefolgt von einem Emoji, das eine Polizistin darstellen sollte. Sie las sich die Kommentare durch, sieben davon beantwortete sie.
Eine Tür wurde geöffnet, und Melissa blickte auf. Der Typ, der seine Frau vermisste, kam aus dem Treppenhaus. Er durchquerte den Raum mit schnellen Schritten und blickte starr zu Boden. Sie wusste in etwa, was die Ermittlerin zu ihm gesagt hatte. Dass er nach Hause fahren sollte; dass seine Frau aller Erfahrung nach wieder auftauchen würde, und das sogar schon bald. Andererseits – und das hatte Kristin Mayer ihm natürlich nicht gesagt – konnte es natürlich sein, dass seine Frau zu den Prozent gehörte, auf die das nicht zutraf. Melissa erschauderte bei dem Gedanken, während Mister Kopf-oder-Zahl auf den Hauptausgang zusteuerte.
Die Geldbörse! Der sechzehn Jahre und drei Monate alte Roger Zachariassen!
Melissa legte ihr Handy weg und blickte umher, konnte die Geldbörse aber nicht entdecken. Sie sah auf dem Fußboden nach, nichts, suchte hinter zwei Aktenordnern, die sie eigentlich hätte wegräumen sollen, ehe sie gestern Nachmittag nach Hause gegangen war. Sie stellte sie ins Regal, warf einen erneuten Blick auf den Boden und hob ein paar lose Blätter auf, die in einer Ecke verstreut lagen. Da, unter einer Anzeige wegen eines gestohlenen Fahrrads, lag sie. Sie öffnete die Geldbörse. Neben dem Mopedführerschein enthielt sie zwei Hundert-Kronen-Scheine, ein Kondom, ein paar Quittungen und einen Geschenkgutschein von Steen & Strøm im Einkaufszentrum Mosseporten. Sie zog den Reißverschluss auf. In dem einen Fach lagen ein Hausschlüssel und ein paar Münzen. Melissa suchte die Telefonnummer von Roger Zachariassen heraus, wählte und ließ es klingeln, während sie sich eine Fünf-Kronen-Münze auf den Daumen legte und sie in die Luft schnipste. Sie fing die Münze auf und knallte sie auf den Tresen.
»Hallo?«
»Hallo, mit wem spreche ich, bitte?«, fragte Melissa.
»Ääh … Roger Zachariassen.«
»Hier ist Melissa Harm von der Polizei. Vermissen Sie etwas?«
Sie nahm die Hand weg und blickte auf die Münze.