Mittwoch, 20. November
Magnus bewegte sich mit schnellen Schritten durch den Gang im Keller des Rikshospital, während er an seinem Frühstück knabberte: ein Krabbenbaguette vom Imbiss im Erdgeschoss.
Nachdem er in der Nacht endlich eingeschlafen war, hatte es nicht einmal drei Stunden gedauert, bis ihm das Handy signalisierte, dass es an der Zeit war, wieder aufzustehen. Nicht der Gedanke, dass er die Kripo zum ersten Mal allein repräsentieren würde, hatte ihn wach gehalten, sondern der Gedanke an denjenigen, dem er am Abend zuvor begegnet war. Denn Anton hatte Magnus an seinen eigenen Vater erinnert. Der hatte den gleichen leeren Blick gehabt, wann immer er die ausgetretenen Bahnen verließ und sich zuerst glücklich soff, und dann, wenn das nicht reichte – was immer der Fall war –, in die nächste Phase eintrat, die darin bestand, dass er Magnus’ Mutter verfluchte und sich so lange aufregte, bis er umkippte. Wenn er wieder erwachte, kamen die Entschuldigungen und die Versprechen, dass sich das niemals wiederholen würde. Ein paarmal hatte es nur Tage gedauert, einige Male auch Monate. Aber es passierte immer wieder. Immer. Das endgültig letzte Mal war der Vater auf die Mutter losgegangen, während Magnus auf Socken zu den Nachbarn hinübergelaufen war. Wenige Minuten später war die Straße von zuckenden Blaulichtern erhellt worden. Der Vater war nie wieder nach Hause gekommen, nicht einmal, um seine Sachen zu holen. Magnus wusste, dass sein Vater später klare Perioden gehabt hatte – die Großmutter hatte es erzählt. Das hatte nichts zu bedeuten, denn es war ihm nie gelungen seine Sucht zu überwinden. Und wenn, dann immer nur für kurze und manchmal längere Zwischenphasen. Vielleicht verhielt es sich ja mit Anton ebenso. Denn obwohl Magnus dessen Spielsucht nie als Problem erlebt hatte, musste es offenbar in der Vergangenheit durchaus problematisch gewesen sein. Dass es ihn seine Ehe mit Elisabeth gekostet hatte, war nichts, was Anton zu verbergen suchte. Als sie eines Abends einmal in Magnus’ ehemaliger Souterrainwohnung in Lisleby gesessen und sich über seinen Vater unterhalten hatten, hatte Anton gesagt, dass Magnus’ Vater durch den Alkohol vermutlich das gleiche Gefühl verspürte wie das, was sich bei ihm selbst durch das Glücksspiel einstellte. Wenn die Karten ausgeteilt wurden oder die Pferde auf der Trabrennbahn in Bjerke davonschossen, hatte das die gleiche Wirkung wie die Flasche an die Lippen zu setzen. Alles drumherum entspannte sich, alle Gedanken kamen zur Ruhe. Die guten und die bösen. Es gab keinerlei Sorgen, solange dieser Zustand anhielt. Einzig das Spiel war von Bedeutung, nichts anderes existierte. Anton brauchte nicht einmal zu gewinnen, er musste nur spielen. Magnus hatte keinen Zweifel daran, was jetzt passiert war. Anton war nicht geheilt , wie er das selbst nannte, nur weil er seit zwei oder drei Jahren keine Karten mehr angerührt hatte. Er hatte nur einen langen Aussetzer erlebt. Er würde niemals geheilt werden. Genau wie Magnus’ Vater würde Anton stets rückfällig werden.
Magnus blieb vor der Tür stehen, die mit Poulsens Laboratorium für Pathologie gekennzeichnet war, und aß sein Baguette zu Ende, ehe er den nach Seife und Desinfektionsmitteln riechenden Raum betrat. Das Radio auf der Arbeitsbank summte leise im Takt mit der Lüftung. Auf dem Stahltisch in der Mitte des Saals lag ein mit einem weißen Laken bedeckter Körper. Die Tür zum Büro am Ende des Raums stand offen, und Magnus konnte hören, wie der Rechtsmediziner gerade dabei war, ein Telefonat zu beenden. Mogens Poulsen lebte genauso lange in Norwegen, wie er am Rechtsmedizinischen Institut praktizierte – seit den Achtzigerjahren – sprach Norwegisch aber immer noch mit einem starken dänischen Akzent. Seine graue Haarpracht erinnerte an einen verwelkten Löwenzahn. Magnus erwiderte den grüßenden Blick des Dänen hinter seiner runden, rahmenlosen Brille.
Der Pathologe legte auf.
»Tut mir leid«, sagte er und kam aus seinem Büro. »Ich fliege heute noch nach Bergen und musste überprüfen, ob die Logistik noch steht. Will sagen: Ich musste mich vergewissern, dass mich meine Tochter nachher zum Flughafen fährt.«
»Bergen?«, fragte Magnus.
»Fortbildung«, erwiderte er, durchquerte den Raum und winkte Magnus hinter sich her. »Ich bin Freitagvormittag wieder da. Ich bin telefonisch erreichbar, also rufen Sie einfach an, falls was sein sollte.«
»Fortbildung? Ich dachte, Sie wüssten alles über Ihr Fach.«
»Ich soll die Fortbildung leiten, jedenfalls einen der Kurse.« Er blieb vor der Arbeitsbank stehen, die an der Wand angebracht war. »Der Tod ist am Sonntagmorgen irgendwann zwischen drei und sieben Uhr früh eingetreten. Wegen der Außentemperatur kann ich das nicht genauer bestimmen. Kein Anzeichen für einen sexuellen Übergriff. Vereinzelte kleine Risse in der Vagina, aber nichts, was nicht auch durch gewöhnlichen Verkehr entstehen kann.« Der Däne deutete auf fünf durchsichtige Plastikbeutel, die nebeneinander auf der Arbeitsbank lagen. »Das sind die Sachen, die sie getragen hat.«
Die Strümpfe waren zerrissen, der dunkelgraue Rock zeigte Flecken von Erde und Sand, und die weiße Bluse war verschmutzt und von Blut verfärbt, das durch den BH gedrungen war. An der dunklen Jacke war der Pelz um die Kapuze ebenfalls von Blut verklebt und verfärbt.
Mogens Poulsen trat an den Stahltisch, fasste nach dem Laken, das die Tote bedeckte, und zog es bis zu den Füßen herunter. Die Haut an Cecilie Olins Hals war gelb und braun verfärbt, mit großen blauroten Feldern dazwischen. Ihr langes dunkles Haar war gewaschen und nach hinten gekämmt worden. Eines ihrer Augen erinnerte an eine geplatzte Pflaume. Rote und gelbbraune Flecken in verschiedenen Größen bedeckten den ganzen Körper, mit Ausnahme des rechten Armes und Beines. Ober- und Unterlippe waren zerfetzt, die Nase war zur Seite hin verschoben. Das linke Schlüsselbein stieß von innen gegen die Haut, wodurch die Schulter schief wirkte, und eine Vertiefung verlief zwischen den Brüsten. Das linke Bein und der linke Unterarm standen in unnatürlichem Winkel ab. Der Däne hatte sich Gummihandschuhe übergestreift und öffnete die Lippen der Toten mit Daumen und Zeigefinger. Mehrere Zähne waren ausgeschlagen. Zwei Finger an der einen Hand sahen gebrochen aus.
»Der Ehering«, sagte Magnus und zeigte auf ihre nackten Finger. »Liegt der in einem der Beutel?«
»Sie hat keine Ringe getragen.«
»Ist das nicht seltsam?«
»Doch, wo Sie es sagen.« Mogens Poulsen beugte sich über den Körper und hob eine der Hände an. Er legte die Spitze seines eigenen Zeigefingers an das hintere Fingerglied von Cecilie Olins Ringfinger. Dort, wo der Ring hätte sitzen sollen, war die Haut ein wenig heller.
»Jedenfalls hat sie bis vor Kurzem einen Ring getragen.«
»Kann die Person, die die Tat verübt hat, ihn genommen haben?«
»Ich bin wirklich froh, dass ich über solche Dinge nicht spekulieren muss«, entgegnete der Däne und verzog leicht den Mundwinkel. »Ich brauche mich nur an medizinische Fakten zu halten. Aber natürlich ist es nicht undenkbar, dass die Person, die hierfür verantwortlich ist, auch den Ring genommen hat.«
Magnus musterte den Körper.
»Sieht aus, als wäre sie überfahren worden.«
»Das habe ich auch gedacht, als sie hergebracht wurde. Dass sie erst angefahren und dann überfahren wurde, ehe der oder die Verantwortliche sich mit der Leiche vom Tatort entfernt hat, aber wenn Sie hier mal schauen …«
Er justierte die Lichtstärke an der Lampe über dem Stahltisch, während er das Licht seitlich auf den Kopf von Cecilie Olin richtete. An der Schläfe war eine Hautabschürfung. Ein helles Braungelb mit Anzeichen kleiner verästelter Blutgefäße.
»Sehen Sie da irgendwelchen Schorf?«
»Nein«, erwiderte Magnus.
Der Rechtsmediziner bewegte sich einen Schritt weiter und hielt die Handfläche über die Vertiefung an der Brust. Magnus konnte den schwachen Abdruck einer Schuhsohle auf der Haut zwischen den Brüsten sehen. Er sah an dem entstellten Körper hinab. Blutergüsse waren über den flachen Bauch verteilt und erinnerten an die Eisblumen, die er am Morgen von der Frontscheibe gekratzt hatte.
»Die Rippen wurden mit solcher Kraft in die Lunge getreten, dass die Sohle durch die Bluse hindurch einen Abdruck hinterlassen hat. Angesichts eines derart zerstörten Auges ist es im Übrigen schwierig, ja manchmal unmöglich festzustellen, ob eine Verletzung vor oder nach Eintreffen des Todes zugefügt wurde, aber aufgrund der niedrigen Temperaturen, die jetzt draußen herrschen, ist es gerade etwas einfacher. Wenn es ein paar Grad wärmer gewesen wäre, dann hätte der Verwesungsprozess schon eingesetzt und ich hätte auf die Ergebnisse der mikroskopischen Untersuchungen warten müssen.« Der Däne stellte sich hinter das Kopfende. »Wie wir schon gesehen haben, können die Verletzungen an eine Konfrontation zwischen Auto und Fußgänger erinnern. Solche umfassenden Verletzungen sind mir eigentlich nur von Verkehrsunfällen bekannt. Wie Sie selbst sehen, gibt es keine Gewebereaktion bei den Hautabschürfungen an der Schläfe, und ich glaube nicht, dass ihr vor die Brust getreten wurde, sondern dass der Täter auf ihr herumgesprungen ist. Ich konnte nämlich nur einen Sohlenabdruck sehen, und da müsste man schon wie ein Pferd gebaut sein, um solch eine Verletzung mit nur einem Tritt zu verursachen.« Er kam um den Tisch herum und stellte sich mit vor der Brust verschränkten Armen neben Magnus. »Doch die Schläge und Tritte, die dem Körper zugefügt wurden, waren nicht tödlich. Nicht einzeln für sich und auch nicht zusammen. Wenn sie im Laufe von einigen Stunden ärztliche Hilfe bekommen hätte, dann hätte sie die Folgen dieser Gewalttat überleben können – sofern sie da nicht schon tot war.«
»Wie meinen Sie das?«
»Viele der Verletzungen wurden ihr post mortem zugefügt.«
»Und was ist dann die Todesursache?«
Mogens Poulsen legte Cecilie Olin je einen Finger über und unter das Auge und klappte das Augenlid mit der freien Hand so weit wie möglich nach hinten auf. Auf der Innenseite waren Dutzende kleiner punktförmiger Blutungen von ein paar Millimetern Größe zu erkennen.
»Wurde sie erwürgt?«
»Genau. Der Kehlkopf wurde eingedrückt.« Er blickte auf das zerschmetterte Gesicht. »Das kann Ihre große Feuertaufe werden, Torp, denn so etwas bringt nur ein einziger Typus Mörder zustande.« Mogens Poulsen breitete das Laken über die Tote. »Nämlich der Typus, der echt verrückt ist.«