Kapitel 8

Mittwoch, 20. November

Wie einen autoritären, robusten Mann in den vierzigern mit ausgedünntem Haar und einem Bauch, der sich über den Gürtel wölbte, so hatte Magnus sich Lars Weberg vorgestellt, als er in der Nacht seiner Stimme gelauscht hatte. Der Mann vor ihm, der sich gerade als Lars Weberg vorgestellt hatte, war indes nicht robust, sondern schlank und hatte schmale Schultern. Er wirkte auch nicht sonderlich autoritär, als er am Empfang der Polizeistation Grålum stand und freundlich lächelte. Sein Vollbart war grau gesprenkelt, seine Haare gingen ihm bis zu den Ohren und wirkten weit weniger ergraut. Was sein Alter betraf, hatte Magnus anscheinend nicht ganz falsch geraten: Er sah etwa zwanzig Jahre älter aus als Magnus mit seinen einunddreißig.

Auf dem Weg zum Aufzug informierte Magnus den Kollegen über den Besuch bei Mogens Poulsen. Lars Weberg drückte auf den Knopf für die dritte Etage. »Zur Fahndungsgruppe also«, sagte Magnus. »Wie viele sind wir?«

»Fünf Ermittler – sechs mit dir – und zwei Analystinnen. Alle sind schon an der Arbeit. Die Analystinnen stehen gerade mit Telenor in Kontakt, um eine Übersicht der Aktivitäten an den Sendemasten zu bekommen, die den Fundort abdecken.«

Die Aufzugtüren glitten auf. Magnus folgte Lars Weberg durch den Gang.

»Und dann haben wir zwei Ermittler zusammen mit den Kriminaltechnikern in der Wohnung der Verstorbenen.«

»War dafür eine richterliche Anordnung erforderlich?«

»Nein, der Ehemann verhält sich kooperativ und hat Verständnis dafür, dass wir ihr Zuhause untersuchen müssen. Wir waren Montagvormittag schon mal da, aber jetzt … tja, die Situation ist jetzt eine andere.«

»Anders ausgedrückt, ist er also damit einverstanden, ganz oben auf der Liste zu stehen?«

»Ja – wobei er es natürlich nicht so direkt gesagt hat.«

Lars Weberg blieb vor einer Bürotür stehen.

»Bereit?«

»Der Ehemann sitzt da drin?«

»Ja.«

»Haben wir irgendwas zu dem Wagen, der sie in der Nacht mitgenommen hat?«

»Ein paar Leute sammeln gerade die Aufnahmen von den Überwachungskameras im Zentrum ein. Hoffentlich finden wir welche von Cecilie und sehen, wie sie sich in den Wagen setzt.«

»Gut. Was ist mit den Mautstellen im aktuellen Zeitraum?«

»Man wird registriert, wenn man in die Innenstadt hineinfährt, nicht aber auf dem Weg hinaus.«

Natürlich, dachte Magnus, das wusste er eigentlich.

»Na, denn mal los«, sagte er und legte die Hand auf die Türklinke.

*

Moss Beauty war ein Schönheitssalon, der sich auf das spezialisiert hatte, was die meisten Frauen – und eitle Männer – für ihr Äußeres tun konnten, ohne dass es einen chirurgischen Eingriff erforderte. Ein chemischer Dunst, der Kristin Mayer an Nagellackentferner erinnerte, vermischte sich mit dem eher dominanten Vanillegeruch, der den Räucherstäbchen neben dem Kassenautomaten entströmte. Sie sah sich in den hellen, modernen Geschäftsräumen um. Einige Modemagazine lagen betont zufällig verteilt auf einem niedrigen Tisch zwischen vier Designerstühlen. Frische Blumen standen in großen Vasen, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotos hingen an der Wand. Es waren allesamt Nahaufnahmen. Von Wangenknochen, Lippen, Augen mit langen Wimpern und schön getrimmten Brauen und von schlanken eleganten Fingern mit sehr gepflegten Nägeln.

Eine Tür wurde geöffnet, und eine Frau mit braunen Haaren in den dreißigern trat aus einem der Hinterzimmer. Sie war in eine Art schwarze Krankenschwesterntracht gekleidet, die jedoch wesentlich strammer und besser zu sitzen schien als das Original. Um den Hals trug sie einen roten Seidenschal. Kristin Mayer blickte erneut auf die Fotos und konstatierte, dass die Frau vor ihr auf jeden Fall für zwei davon Modell gestanden hatte.

Die Augen und die Lippen.

Sie reichte ihr die Hand und stellte sich vor. Die Frau – Diana – setzte schnell eine ernste Miene auf und sagte: »Elias war hier, als ich zur Arbeit kam.«

»Sie meinen, dass er hier gewartet hat?«

»Ja, er saß draußen im Wagen«, sie deutete auf das zur Straße hinausgehende Fenster, »und hat mich angesprochen, als ich die Tür aufschloss. Er fragte, ob ich etwas von Lisette gehört hätte.«

»Aber das haben Sie nicht?«

Diana schüttelte den Kopf.

»Er meinte, Sie würden draußen auf Jeløy nach ihr suchen.«

»Das haben wir getan.« Kristin Mayer blickte abermals auf die Fotos und erkannte, dass auch die Wangenknochen von Diana waren. »Sie haben also keine Ahnung, wo sie sein könnte?«

»Glauben Sie, dass ihr was passiert ist?«

»Bis jetzt deutet nichts darauf hin, und normalerweise warten wir ein wenig länger ab, bevor wir eine Untersuchung in die Wege leiten, aber so, wie ich den Ehemann verstanden habe, sieht das Lisette gar nicht ähnlich. Sie gibt sonst wohl immer Bescheid.«

Diana nickte stumm. Ihr Blick richtete sich auf Kristin Mayers Schulter und darüber hinweg.

»Ich … äh, ich sollte das eigentlich nicht erzählen, weil ich nämlich versprochen habe, es für mich zu behalten.«

»Was denn?«

»Sie wird scheißsauer auf mich sein, wenn ich Ihnen das sage, aber jetzt muss ich ja wohl? Ich meine, sie kann ja nicht einfach so abhauen. Sie muss doch begreifen, dass Elias sich Sorgen macht?«

»Woran denken Sie denn?«

»Elias habe ich natürlich nichts davon erzählt. Aber als er vorhin hier war und sagte, dass Lisette gestern Abend nicht nach Hause gekommen sei, hatte ich so ein Gefühl, wo sie vielleicht sein kann.«

*

Über eine Dreiviertelstunde lang hatte der vierzigjährige Fredrik Olin mit leiser Stimme detailliert erläutert, womit er sich am Samstag beschäftigt hatte. Dass er am frühen Nachmittag zur Arbeit gefahren und um kurz nach elf wieder nach Hause zurückgekehrt war. Dass er das Taxi ein paar Minuten später einem anderen Fahrer übergeben und sich dann unter die Dusche gestellt hatte, ehe er sich von seiner Frau und Adele Ferking verabschiedet hatte. Dass er danach zwei Pils getrunken und sich dann hingelegt hatte.

»Ich weiß, wie schwierig das ist, Fredrik«, sagte Lars Weberg und betrachtete das Gesicht auf der anderen Seite des Schreibtischs. Ein paar Tage alte Bartstoppeln bedeckten die Wangen unter den resigniert wirkenden, blutunterlaufenen Augen. »Aber wie ich eingangs schon erwähnt habe, ermittelt Magnus Torp seit heute in dem Fall.«

»Das verstehe ich«, sagte Fredrik Olin und blickte auf die volle Kaffeetasse, die schon vor einiger Zeit aufgehört hatte zu dampfen. »Es ist auch nicht so schwer nachzuvollziehen, was Sie denken.«

»Was denken wir denn?«, fragte Lars Weberg so sanft, wie es seine dunkle Stimme zuließ.

»Ich weiß, was die Statistiken sagen. Sie glauben, dass ich es gewesen bin. Aber das stimmt nicht. Ich möchte nur so schnell wie möglich als Verdächtiger ausscheiden, damit Sie Ihre Ressourcen auf andere Dinge konzentrieren können.«

»Nichts veranlasst uns, Sie zu verdächtigen«, sagte Magnus. »Ich finde, Sie sollten nicht zu viele Gedanken und Energie darauf verschwenden, dass wir uns hier unterhalten. Und ganz sicher werden wir auch noch öfter miteinander reden.«

»Außerdem erleben wir Sie als kooperativ«, sagte Lars Weberg.

»Wissen Sie, ob die schon fertig damit sind, unsere Wohnung zu untersuchen?«

»Das kann noch den ganzen Tag dauern.« Lars Weberg streckte ein Bein aus und wechselte die Sitzposition. »Vielleicht sogar bis einschließlich morgen. Wir übernehmen natürlich Ihre Hotelkosten, falls Sie keinen anderen Ort haben, wo Sie übernachten können.«

»Sie haben ausgesagt, dass Sie Taxi fahren«, sagte Magnus. »Sind Sie der Eigentümer des Wagens?«

»Ja.«

»Wie lange fahren Sie schon Taxi?«

»Zuerst waren es fast acht Jahre in Oslo, und … ja, in Fredrikstad dürften es wohl vierzehn Monate sein. Also zusammen etwas über neun Jahre. Während der letzten sechs Monate hatte ich eine eigene Lizenz.«

»Also hier in der Stadt seit gut über einem Jahr. Dann kennen Sie vermutlich alle, die hier als Fahrer herumschleichen?«

»Man kennt sich natürlich vom Sehen, aber ich habe sonst keinen sozialen Kontakt mit jemandem von denen. Nicht mal mit meinen eigenen Fahrern.«

»Haben Sie mehrere?«

»Ich habe einen fest angestellten und einen, der bei Bedarf arbeitet, aber … was hat das mit Cecilie zu tun?«

Magnus warf einen Blick auf die Notizen, die er sich während Fredrik Olins Aussage gemacht hatte.

»Sie haben gesagt, dass Sie um kurz nach elf nach Hause gekommen seien und dass Sie Cecilie angerufen hätten, bevor Sie gegen halb eins schlafen gegangen sind. Und laut Ihrer Aussage hat Cecilie dann gesagt, dass es vermutlich nicht sehr spät würde.«

Fredrik Olin nickte.

»Wäre es nicht einfach für Sie gewesen, ein Taxi für Ihre Frau zu organisieren, falls sie nach Hause kommen wollte? Ich meine, Sie hätten ja nicht mal die Zentrale anrufen müssen, um eines zu bestellen. Sie haben doch sicher die Telefonnummern vieler Kollegen in Ihrem Handy gespeichert.«

»Ich habe ihr das vorgeschlagen, aber da sie nicht wusste, wann sie nach Hause wollte, konnte ich ja nichts mit jemandem vereinbaren. Ich habe auch gesagt, dass es vielleicht schlau wäre, an die Rückfahrt zu denken, ehe die Kneipen alle schließen, weil es dann nämlich immer lange Warteschlangen gibt und somit auch egal ist, von wie vielen Kollegen ich die Nummer habe.«

»Das haben Sie vergessen zu erzählen.«

»Tut mir leid.« Fredrik Olin rieb sich mit den Händen durchs Gesicht. »Ich habe auch mit meinem Fahrer gesprochen, nachdem Cecilie mich in der Nacht angerufen hatte.«

»Ach, tatsächlich?« Magnus schob sich den Kugelschreiber zwischen die Lippen. »Würden Sie uns bitte noch mal den Handlungsverlauf schildern? Von dem Moment an, als Sie sich gegen halb eins hingelegt haben.«

»Noch mal?« Fredrik Olin sah Lars Weberg an. »Das habe ich doch gerade eben getan.«

»Ich weiß«, sagte Magnus, »aber Sie haben ja sicher gerade viel im Kopf. Nehmen Sie sich Zeit.«

Fredrik Olin streckte die Hand nach einer Kleenex-Packung aus, die auf dem Schreibtisch stand. Ein lautes Prusten ertönte, als er sich heftig schnäuzte und das Tuch dann zusammenfaltete.

»Ich habe auch …« Er schnäuzte sich abermals und knüllte das Papiertuch zusammen. »Ich habe sie angerufen und gefragt, ob es ihr gut geht. Und sie erzählte, dass sie mit Adele im Savoy sei.«

»Wirkte sie sehr beschwipst?«

»Sie hat nicht gelallt oder so was. Sie war gut gelaunt, aber sie sagte, sie sei müde, und dass es vermutlich nicht spät würde. Da habe ich sie gefragt, ob ich ihr sofort ein Taxi bestellen sollte, aber sie wollte noch etwas bleiben. Wollte Adele nicht allein lassen.«

»Und danach?«

Fredrik Olin presste die Lippen aufeinander, während er schräg nach oben blickte.

»Ich bin eingeschlafen und dann wieder wach geworden, als sie mich anrief.«

»Das war um 02:58 Uhr?«

»Ja. Sie erzählte, dass sie kurz hinter der Borge Grundschule aus einem Wagen geworfen worden sei.«

»Das ist nicht weit von Ihrem Zuhause entfernt, oder?«

»Nein, eine Viertelstunde zu Fuß. Ich habe sie natürlich gefragt, wie um alles in der Welt sie da gelandet sei, und da sagte sie, dass sie angefangen hätte, sich zu übergeben, und dass derjenige, der gefahren sei, nicht gewollt habe, dass sie den Wagen vollkotzte.«

»Sie hat nicht gefragt, ob Sie kommen und sie abholen könnten?«

»Nein, sie wusste ja, dass ich zwei Bier getrunken hatte und mich nicht ans Steuer setze, wenn ich auch nur einen Schluck intus habe.« Fredrik Olin fasste sich ins Gesicht. Sein Atem ging schneller. Es war deutlich, dass er versuchte, die Tränen zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht. Er schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. »Ich habe sie ausgeschimpft.«

»Sie haben Sie ausgeschimpft?«, fragte Magnus.

»Ja …«

»Warum haben Sie das getan?«

»Als ich kurz nach Mitternacht mit Cecilie gesprochen hatte, war es mir vorgekommen, als ob die beiden, oder jedenfalls sie, relativ bald nach Hause wollten. Und zweieinhalb Stunden später ist sie so voll, dass sie aus irgendeinem illegalen Schwarztaxi geworfen wird.«

»Hat sie gesagt, dass es ein Schwarztaxi war?«

»Nein, aber davon geh ich aus, weil sie nicht gesagt hat, wie der Fahrer hieß. Hätte sie ihn gekannt, hätte sie mir auch erzählt, wer es war. Und allein, dass sie ein Schwarztaxi genommen hat …« Fredrik Olin schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich habe ihr bestimmt hundertmal erklärt, dass so was für Frauen lebensgefährlich ist – insbesondere wenn sie allein sind. Und dann habe ich gesagt, es sei mir unbegreiflich, dass eine erwachsene Frau nicht besser planen könne und dass es völlig verrückt sei, dass sie mit ihren zweiunddreißig Jahren nicht gelernt habe, mit Alkohol umzugehen.«

»Was wurde dann weiter gesagt?«

»Sie hat bloß gelacht. Und dann sagte sie ›Jetzt kommt er zurück‹.«

»Wer? Der Kerl, der sie gefahren hat?«

»So habe ich das jedenfalls verstanden.«

»Wissen Sie, ob er angehalten hat?«

Fredrik Olin schüttelte den Kopf.

»Sie hat dann aufgelegt.«

»Ohne was zu sagen?«

»Nein, sie hat ›Bis bald‹ gesagt und dann ›Vergiss nicht, dass ich dich liebe‹.« Mit den Ellbogen auf den Knien beugte er sich vor und legte das Gesicht in die Hände. »Verdammt!«

»Sie haben gesagt, Sie hätten mit Ihrem Fahrer gesprochen«, sagte Magnus nach einer Weile. »Das ist dann als Nächstes passiert, ja?«

»Ja«, erwiderte Fredrik Olin. »Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich sauer geworden war. Ich hoffte, dass Farhad vielleicht irgendwo in der Nähe war, aber er befand sich mit dem voll besetzten Taxi auf einer Fahrt nach Hvaler.« Fredrik Olin richtete sich auf und wischte sich über die Wangen. »Ich hätte fahren können, wissen Sie. Das ist ja keine lange Strecke. Das hätte ich schon noch geschafft. Oder zumindest hätte ich ihr entgegengehen können.«

»Sie sollten diese Gedanken wirklich nicht weiter verfolgen«, sagte Lars Weberg. »Cecilie kann im Laufe von Sekunden oder ein paar Minuten von irgendwem sonst aufgelesen worden sein. Darüber wissen wir noch nichts. Ich will damit sagen, dass es wahrscheinlich keinen Unterschied gemacht hätte, wenn Sie losgefahren wären, um sie abzuholen. Allenfalls den, dass die Suchaktion ein paar Stunden früher gestartet worden wäre. Denn Sie haben sich doch wieder hingelegt, oder?«

»Ja«, erwiderte er mit heiserer Stimme. »Und ich bin gleich wieder eingeschlafen.«

Fredrik Olins Blick schweifte durch den Raum, verweilte auf dem von der Decke hängenden Mikrofon, auf den Archivschränken, auf der leeren Korktafel an der Wand und auf dem Fenster hinter Magnus’ Rücken.

»Was ist mit ihr geschehen?«

*

»Ich bin ihm nie zuvor begegnet«, sagte Diana. »Sie hat mir nur irgendwann mal ein Foto gezeigt.«

Kristin Mayer setzte sich der Kollegin von Lisette Ness gegenüber, zog ihren Notizblock hervor und griff nach dem Kugelschreiber.

»Wie heißt er noch mal?«

»Tony Isdahl.«

»Und die beiden hatten also ein Verhältnis?« Kristin Mayer machte sich Notizen und registrierte dabei, dass ihr Gegenüber nickte. »Wissen Sie, wie lange schon?«

»Das ging so seit ein paar Monaten, glaube ich.« Diana wandte betreten den Blick ab. »Und dann hat Lisette es vor vier oder fünf Wochen beendet.«

Kristin Mayer sah auf die zehn Blockbuchstaben hinunter, aus denen der Name des Lovers von Lisette Ness zusammengesetzt war.

»Weiß Elias, dass sie ihm untreu gewesen ist?«

»Nein, sind Sie verrückt?«

»Nach dem Gespräch mit Elias hatte ich den Eindruck, dass die Ehe gut funktioniert hat.«

»Ja, dem Anschein nach haben sie es gut zusammen, und die Dinge laufen wohl so einigermaßen, aber in letzter Zeit hat es sie doch etwas beschäftigt, dass sie keine Kinder haben. Elias schreibt und recherchiert ständig irgendwas. Wenn wir hier um fünf Uhr schließen, ist der Arbeitstag für Lisette sozusagen beendet. Aber eben nicht für ihn. Sie hätte gern etwas mehr vom Leben, als zu jemandem nach Hause zu kommen, der dann nur dauernd vor dem Computer hockt. Außerdem geht sie auf sechsunddreißig zu.«

»Sie sorgt sich wegen der biologischen Uhr?«

»Ja.«

»Aber ihr Mann nicht?«

Diana schüttelte den Kopf und sagte: »Er möchte keine Kinder.«

»Hat sie erzählt, wieso?«

»Er hat Angst.«

»Angst?«

»Sie haben vor fünf Jahren ihren Sohn verloren, er ist ertrunken, und Elias …«

»Wie alt war der Sohn?«, unterbrach Kristin Mayer.

»Sechs.«

»Das wusste ich nicht. Fahren Sie fort.«

»Sie haben natürlich beide schwer darunter gelitten, aber Lisette hat irgendwie … Ich will nicht sagen, dass sie darüber hinweggekommen ist, aber jedenfalls ist sie irgendwie weitergekommen. Doch Elias nicht. Zwei Jahre nach dem Unglück hat Lisette geäußert, dass sie vielleicht wieder zu dritt sein sollten, aber Elias hat abgelehnt. Es kam für ihn nicht infrage. Lisette glaubte, dass …« Weiter hinten im Geschäft wurde eine Tür geöffnet, und schnelle Schritte näherten sich. Diana hielt den Zeigefinger vor ihre vollen Lippen. Es war eine Frau in identischer Aufmachung, mit langem gebleichtem Haar. Sie nickte ihnen lächelnd zu, schlüpfte hinter den Empfangstresen und nahm etwas aus einem Schrank, ehe sie den Rückweg antrat.

»Sie spricht nur mit mir über solche Sachen«, sagte Diana leise.

»Verstehe. Lisette glaubte also was?«

»Sie glaubte, dass es ihr gelingen würde, Elias umzustimmen, aber nicht sofort. Und im letzten Jahr wurde mir klar, dass es etwas kriselte. Sie war unglücklich. Das hat sicher was mit … der biologischen Uhr zu tun, wie Sie gesagt haben.«

»Was hat sie sich von der Affäre erhofft? Sie wird das doch wohl kaum getan haben, um schwanger zu werden? Das Risiko, dass der Ehemann etwas davon erfährt, wäre doch viel zu groß, oder? Jetzt weiß ich natürlich nicht, wie dieser Tony Isdahl aussieht, aber …«

»Scharf«, unterbrach Diana. »Mordsscharf, um genau zu sein.«

»Elias ist doch auch ein gut aussehender Mann.«

»Ja, unbedingt, aber …«

Kristin Mayer runzelte die Stirn.

»Aber was?«

Diana sah sie mit ernstem Blick an.

»Keiner der beiden wird je erfahren, dass ich Ihnen das hier erzähle, oder? Nicht Lisette, und schon gar nicht Elias?«

»Da können Sie ganz sicher sein, ich werde es keinem der beiden erzählen.«

Diana beugte sich etwas vor und flüsterte: »Die haben keinen Sex mehr. Darum ging es Lisette ja zu Beginn mit Tony. Bloß Sex.« Diana machte große Augen. »Es war sozusagen unbeschreiblich, was für ein fantastischer Liebhaber dieser Tony angeblich war. Sie meinte, dass er sie nur berühren müsste und es sich anfühlte, als ob er im selben Moment Besitz von ihrem ganzen Wesen ergriff. Ich habe ihr gesagt, was ich davon halte, aber das hat sie nicht sonderlich gekümmert.«

»Es hat Ihnen nicht gefallen?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Sie sagten eben, es habe sich zu Beginn nur um Sex gehandelt?«

»Ja, aber je länger das andauerte, desto mehr hat sie sich verändert. Wie frisch verliebt ist sie hier herumgegeistert, hing ständig am Telefon. So was ist ja unschwer zu übersehen. Dann hat sie mich eines Morgens zur Seite genommen und gesagt: ›Ich glaube, ich bin verliebt.‹ Da habe ich gesagt, dass sie Elias verlassen müsste, wenn sie solche Gefühle für diesen Typen hätte. Alles andere wäre ein Fehler. Nicht allein gegenüber Elias, sondern auch gegenüber sich selbst. Kurz danach, ich glaube, es waren nur ein oder zwei Tage, da konnte ich ihr ansehen, dass etwas passiert war. Sie war niedergeschlagen. Abwesend. So wie man eben wird, wenn man die ganze Zeit rumläuft und an etwas denkt, das nicht in Ordnung ist. Ich habe sie dann gefragt, ob sie Elias verlassen hätte, aber das hatte sie nicht. Sie hatte das Verhältnis mit Tony beendet.«

»Sie glauben aber nicht, dass sie ein schlechtes Gewissen bekommen und Elias von Tony Isdahl erzählt hat?«

»Ein schlechtes Gewissen hatte sie, das weiß ich. Das hat sie immer noch. Aber dass sie es zu Hause erzählt hat?« Diana schüttelte den Kopf. »Niemals.«