Kapitel 9

Mittwoch, 20. November

Bis vor einiger Zeit war der Nygaardsplass im Zentrum von Fredrikstad lediglich ein heruntergekommener Ort mit schief aneinandergereihten Pflastersteinen und der einen oder anderen herumliegenden Spritze gewesen. Dann hatte ein relativ junger Stadtentwickler entdeckt, welches Potenzial in dem toten Rechteck entlang der Fußgängerzone steckte, und das getan, was niemand vor ihm gewagt hatte: dem alten, öden Platz mit frischem Kapital und moderner Architektur ein neues Leben einzuhauchen. Restaurants und Feinkostläden waren entstanden. Den Einwohnern der Stadt war plötzlich etwas angeboten worden, von dem sie bis dahin gar nicht gewusst hatten, dass es in ihnen ein Bedürfnis danach gab. In den neuen, hoch emporragenden Ziegelsteingebäuden waren zahlreiche Wohnungen entstanden. Verschwunden waren die mit Graffiti beschmierten Betonwände. Die schiefen Pflastersteine hatte man gegen neue ausgetauscht, welche die engen Straßen zwischen Bars, Restaurants und Fischgeschäft zierten.

Dort stand Kristin Mayer nun und beobachtete die routinierten Bewegungen des Fischhändlers, der, soweit sie es erkennen konnte, gerade einen Lachs ausnahm. Gut möglich, dass seine entspannte Haltung – als ob er sich langweilte und das Ganze auch mit verbundenen Augen tun könnte – und das weiße Hemd sowie die Schürze um seinen Leib dabei halfen, ihn weit oben auf der ästhetischen Skala anzusiedeln, doch Kristin Mayer fand ohnehin, dass Männer, die Essen zubereiten konnten, ziemlich sexy waren. Dicke Adern schlängelten sich über seine nackten Unterarme. Er hatte eine breite und markante Kieferpartie, mandelförmige Augen, und sein kurzes Haar passte zu den dunklen Bartstoppeln.

Irgendwo im hinteren Teil des Lokals schrie ein Kind, was den Fischhändler veranlasste, den Kopf zu heben. Sein Blick fiel direkt auf Kristin Mayer.

»Hallo«, sagte er und wandte sich ihr zu.

Die Stimme klang dunkel, aber freundlich.

»Wissen Sie«, sagte Kristin Mayer, »Fisch habe ich noch nie richtig hinbekommen. Ich ruiniere ihn jedes Mal. Zuletzt am Samstag. Mein Vater war da und hat ein Stück Heilbutt mitgebracht.« Sie hielt Daumen und Zeigefinger ein paar Zentimeter auseinander. »Ein ordentliches Stück. Heilbuttsteak hat er es genannt. ›Brät sich in der Pfanne ganz von selbst‹, meinte er.« Sie schüttelte den Kopf. »Hat es nicht, wissen Sie. Stattdessen hat es sich aufgelöst – ganz von selbst.« Sie lächelte. »Da sollte ich wohl besser bei Ihrem Nachbarn vorbeigehen und mir ein Rindersteak kaufen.«

Er legte den Kopf schräg und sah sie an. Seine Augenlider wirkten plötzlich schwerer, als ob er sich schon den dritten Schnaps gegönnt hätte.

»Den Fisch salzen«, sagte er, »und dann bei hoher Temperatur auf einer Seite in Rapsöl anbraten. Wenn er schön golden geworden ist – er braucht viel Farbe – zwei Esslöffel Butter hinzufügen. Nach fünfzehn Sekunden wenden Sie den Fisch, nehmen die Pfanne vom Feuer und lassen ihn ziehen, bis er durch ist.« Er stellte sich dicht an den Tresen. »So braten Sie Fischfilet.«

»Egal ob es Heilbutt oder Lachs ist?«

»Ja. Also …« Er blickte auf die verschiedenen Fischsorten, die unter dem Glastresen auf Eis lagen. »Wollen Sie es noch einmal versuchen?« Er hielt einen halben Heilbutt in die Höhe. »Ist heute Morgen reingekommen.«

»Tja … Ja, in Ordnung.«

»Wie viel brauchen Sie denn?«

»Das wissen Sie sicher besser als ich. Abendessen für eine Person.«

Er ließ ein dezentes Tss-Tss hören.

»Wie?«, fragte sie.

»Dieser Fisch verlangt eigentlich die Gesellschaft von zweien, aber gut. Dann also 200 Gramm?«

Er legte den Fisch vor sich hin, sah Kristin an, während er nach dem Messer griff und schnitt nach Augenmaß ein Stück ab. Dann folgte ein neuer Blick auf Kristin. Er legte das Stück auf die Waage. Das Display zeigte 202 Gramm. Er packte den Fisch in Papier und gab etwas in die Kasse ein. Kristin Mayer hielt ihre VISA -Karte an das Lesegerät, während er das Filet in eine Tüte schob und es auf den Tresen legte.

»Kommen Sie mal wieder vorbei und berichten, wie es gelaufen ist«, sagte er.

»Eigentlich bin ich gar nicht hier, um was zu kaufen«, sagte Kristin und griff nach der Tüte, »fände es aber dumm, es nicht zu versuchen, nachdem Sie mir erklärt haben, wie man ganz einfach das perfekte Resultat erzielt.«

»So einfach ist es, aber …« Der halbwegs desinteressierte, aufgesetzt verführerische Blick war plötzlich hellwach. »Sie sind nicht zum Einkaufen gekommen?«

»Nee.«

»Äh … kann ich dann was anderes für Sie tun?«

»Darauf hatte ich gehofft, Tony.« Sie hielt ihre Marke hoch. »Ich bin von der Polizei. Es geht um Lisette Ness.«

*

Die Essenszeit rückte näher, als Anton die Tür zu Noras Zimmer öffnete. Wie ein betender Buddha saß sie mit dem Kissen im Schoß auf der Bettdecke. In der Hand hielt sie ein Handy, ein drahtloser Knopf steckte in jedem Ohr. Sie trug Jogginghosen und ein T-Shirt. Ihr Haar wurde von einem Band gehalten. Sie hatte nicht registriert, dass Anton hereingekommen war, und zuckte zusammen, als er ein paarmal die Deckenlampe aufblitzen ließ.

»Haben Sie Epilepsie?«, fragte er.

»Nein.«

»Schade.« Anton fuhr fort, das Licht ein- und auszuschalten. »Sonst hätten wir eine Schlacht für die Wissenschaft schlagen und herausfinden können, wie lange man mit dem Licht blinken kann, ehe man einen Anfall bekommt.« Er knipste den Schalter noch zweimal ein und aus und ließ das Licht dann brennen. »Ist Ihre Stimmung jetzt besser, nachdem Sie Ihr Handy zurück haben?«

Sie nahm die Ohrhörer heraus und legte sie auf den Nachttisch.

»Sie sind gestern Abend einfach verschwunden«, sagte sie leise. »Ich dachte, Sie würden die ganze Nacht mit mir hier sitzen.«

»Sie waren niemals allein.«

»Aber Sie sind gegangen.«

»Um zwei ist Schichtwechsel. Da haben Sie geschlafen, was mich gleich zu meiner nächsten Frage bringt: Haben Sie gut geschlafen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht?« Anton trat ein paar Schritte ins Zimmer. Die Tür fiel hinter ihm zu. »Als ich gegangen bin, haben Sie jedenfalls tief geschlafen.«

»Ich sollte nicht hier sein.«

»Das sollte ich auch nicht, falls Sie das tröstet.« Anton ließ sich so schwer in den Sessel neben der Tür fallen, dass der ein Stück verrutschte. »Zusatzschicht, aber ich beklage mich nicht.« Er klopfte mit den Händen abwechselnd auf die Armlehnen. »Sie werden nicht mehr überwacht, wie ich sehe. Das bedeutet, die Ärztin meint, es geht schon in die richtige Richtung.«

»Was soll das schon heißen? Ich stecke hier eh fest.«

»Es hat tatsächlich Vorteile, wenn man nicht mehr überwacht wird, Nora.«

»Die wären?«

»Zum Beispiel, dass Sie heute Abend nicht die Suppe essen müssen, die hier Eintopf genannt wird, sondern mit mir hinunter zum Kiosk kommen und etwas mit Geschmack und Kauwiderstand kaufen können. Falls Sie Lust auf ein wenig Abwechslung haben. Ansonsten esse ich allein.«

»Kann ich das?«

»Wenn Sie versprechen, keinen Fluchtversuch zu unternehmen. Ich hasse es nämlich zu rennen.«

*

»Vermisst?«, fragte Tony Isdahl mit bekümmerter Miene. »Seit wann denn?«

Sie hatten sich an einen der hohen Fenstertische gleich neben dem Eingang gesetzt.

»Seit gestern Abend«, sagte Kristin Mayer. »Vorläufig deutet nichts darauf hin, dass ihr etwas passiert ist, aber da es ihr laut Ehemann gar nicht ähnlich sieht wegzubleiben, ohne Bescheid zu sagen, wollte ich mit Ihnen sprechen, um zu hören, ob Sie vielleicht etwas wissen.«

»Nein«, sagte Tony Isdahl und atmete aus. »Ich habe seit vier oder fünf Wochen nicht mehr mit Lisette gesprochen. Nicht, seitdem ich Schluss gemacht habe.« Er warf einen Blick in das Lokal und musterte eine relativ junge Mutter, die im hintersten Winkel ihr Baby stillte. »Dann hat sie also zu Hause davon erzählt?«

»Von dem Seitensprung mit Ihnen?«

Tony Isdahl nickte.

»Nein.« Zwei Teenager gingen draußen vorbei und starrten auf ihre Handys. »Soweit ich weiß, hat der Ehemann keine Kenntnis davon. Aber ausgehend von dem, was mir erzählt wurde, hat Lisette das Verhältnis beendet, nicht Sie.«

»Das stimmt nicht.«

»Wie lange hat die Beziehung gehalten?«

»Zwei Monate, glaube ich. In etwa. Es …« Er stöhnte. »Mir wurde klar, dass sie mehr damit verband als ich, und als sie dann die drei verbotenen Wörter sagte, hab ich den Stecker gezogen. Für mich war es da vorbei. Ich hätte es aufrechterhalten können, denn sie hat mir immer auf äußerst angenehme Weise Gesellschaft geleistet, aber ich wollte die Situation für sie nicht noch schwerer und komplizierter machen, indem ich das Ganze in die Länge ziehe. Für mich ging’s nie um was anderes als Sex. Sie …« Er senkte kurz den Blick und sah dann wieder auf. »Sie war da wohl etwas bedürftiger.«

»Sie war also auf ein festes Verhältnis aus?«

»Ohne Zweifel. Nicht zu Beginn, da hat sie das jedenfalls deutlich gesagt.«

»Aber nach einer gewissen Zeit war sie dann bereit, ihren Ehemann zu verlassen?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass sie es getan hätte, wenn ich den Wunsch geäußert hätte, ein ernst zu nehmendes Verhältnis einzugehen.«

»Aber darauf hatten Sie es nicht sonderlich abgesehen?«

»Nein, überhaupt nicht. Vielleicht hat es auch deshalb zu Beginn so gut funktioniert, weil wir uns einig waren, dass es nur um Sex ging.«

»Aber Sie wussten, dass sie verheiratet war?«

»Sie hat’s mir bei unserem dritten Treffen erzählt, aber da wusste ich es eh bereits.«

»Und woher?«

»Als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin, das war hier im Laden, da hatte sie einen Ring am Finger.«

»Sie haben sich also hier kennengelernt?«

»Nein, kennengelernt haben wir uns erst später, aber hier sind wir uns die ersten beiden Male begegnet. Sie hatte zuvor angerufen und gefragt, ob wir frische Kammmuscheln hätten, und als sie kam, um die abzuholen, stand zufällig ich am Tresen. Und … Tja, mit manchen Menschen versteht man sich von Anfang an gut, nicht wahr? Also ich meine die gute alte Chemie, und die gab es. Ich bin über vierzig und habe die letzten sechs Jahre als Junggeselle verbracht, daher … Na ja, wie soll ich sagen?«

»Sie merken es, wenn eine Frau interessiert ist.«

»Ja. Zwei oder drei Tage später war sie noch mal hier, aber da waren die Kammmuscheln aus. Und da ist mir aufgefallen, dass sie den Ring abgenommen hatte und etwas mehr … na ja, also … ich will ja nicht sagen, dass sie total aufgebrezelt war, allerdings doch mehr als beim ersten Mal. Etwas mehr Parfüm. Die Hose war etwas enger, der Ausschnitt etwas größer. Etwas mehr von allem, ja. Es war relativ früh am Tag, noch vor der Lunchtime, und da haben wir uns etwas unterhalten. Dann habe ich zu ihr gesagt, wenn sie mir ihre Nummer gibt, könnte ich sie sofort anrufen, falls wieder frische Kammmuscheln hereinkämen.«

»Wann haben Sie ihr die erste SMS geschickt?«

»Noch am selben Abend. Ich schrieb, ich hätte mit dem Küchenchef vom Quality Hotel gesprochen und dass er eine Ladung Kammmuscheln hätte, die allerdings den Gästen vorbehalten seien.«

»Nobel.« Kristin Mayer verdrehte die Augen. »Du meine Güte.«

»Also … es war ja völlig klar, was sie wollte.«

»Ich werfe Ihnen nichts vor. Und dann?«

»Dann habe ich ein Zimmer gebucht.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass sie so etwas öfter machte?«

»Ganz und gar nicht. Sie erzählte, dass sie so etwas nie zuvor getan hatte. Jetzt weiß ich natürlich nicht, ob das stimmte, aber mein Eindruck war, dass es der Wahrheit entsprach. Ich weiß noch, dass sie während des Abendessens nervös war. Obwohl nur wenige Gäste da waren, hat es ihr in dem Restaurant nicht behagt. Und als wir aufs Zimmer gingen, hat sie sich zu Beginn erstaunlich unwohl gefühlt. Sie war etwas schüchtern.«

»Haben Sie die Nacht zusammen verbracht?«

»Nicht beim ersten Mal. Da ist sie noch vor Mitternacht nach Hause gefahren. Aber es gab später noch viele Nächte.«

»Wie hat sie das zu Hause erklärt?«

»Mit einem Kurs«, erwiderte Tony Isdahl. »Und zweimal stimmte das auch. Da haben wir uns in Oslo getroffen.«

»Hat sie mal gesagt, warum sie das machte?«

»Verständlicherweise hat sie nicht so viel darüber geredet, aber wie mir klar wurde, hatte es zu Hause im Laufe des letzten Jahres etwas gekriselt. Sie wirkte bedrückt.«

»Woher hatten Sie diesen Eindruck?«

»Lisette wünscht sich eine Familie, während ihr Ehemann die Meinung vertritt, dass sie es ohne Kinder am besten haben.«

»Wieso?«

Tony Isdahl zuckte mit den Schultern.

»Ich habe das Thema nicht weiter verfolgt, weil ich den Kerl gut verstehen konnte. Kinder bedeuten eine große Verantwortung. Viel Mühe, viel Lärm, viel Arbeit. Man lebt dann ja völlig anders.«

»Sie selbst haben keine Kinder, nehme ich an?«

»Nicht dass ich wüsste.« Er versuchte sich an einem schiefen Grinsen. Kristin Mayer sah auf die Uhr.

»Ach, äh … Tony? Wo waren Sie gestern Abend zwischen zehn und elf?«

Die Antwort kam unmittelbar.

»Zu Hause.«

»In Ordnung.« Sie glitt von ihrem Barhocker, nahm die Tüte mit 202 Gramm Heilbutt und hielt sie in die Höhe. »Salzen. Hohe Temperatur. Rapsöl. Braten, bis eine Seite schön golden ist. Zwei Esslöffel Butter dazu. Fisch wenden. Nach fünfzehn Sekunden die Pfanne vom Feuer nehmen. Ziehen lassen. That’s it?«

*

Anton und Nora saßen an demselben Tisch, an dem er und Magnus am Abend zuvor gesessen hatten. Es wimmelte von Leuten. Patienten, Besucher, Pflegepersonal, Ärzte. Es war ein gleichmäßiger Strom von Menschen, die den Eingangsbereich passierten, und im Hintergrund war ein anhaltendes Stimmengewirr zu hören.

»Sie rennen also nicht gern?«, fragte Nora und nahm eine Gabel Nudelsalat.

Die Röstzwiebeln knirschten, als Anton sich über die Käseknacker in Brot hermachte. Er kaute und schluckte den Bissen hinunter.

»Nein. Wenn ich den Teufel im Nacken hätte, könnte ich vielleicht ein bisschen Tempo aufnehmen.« Er nahm einen weiteren Bissen und schmatzte. »Vielleicht.«

Nora grinste. Anton konnte sehen, dass sie auf sein Ohr starrte. An der Stelle, wo sich einst ein Ohrläppchen befunden hatte, war jetzt nur noch ein Stummel übrig, der an einen kleinen Blumenkohl erinnerte.

»Was ist da passiert?«, fragte sie.

»Betriebsunfall.«

»Einer, der Sie gebissen hat?«

»So was in der Art.« Abermals genehmigte er sich ein Stück Wurst und schluckte. »Sie sehen schon frischer aus. Fühlen Sie sich besser?«

»Ja.«

»Ich habe gehört, dass Ihr Vater heute Vormittag mit Ihrem Handy und etwas Kleidung vorbeigekommen ist. Haben Sie sich über den Besuch gefreut?«

Nora zuckte mit den Schultern und aß weiter, während Anton eine ältere Frau mit graublauen Haaren beobachtete, die sich an einen Infusionsständer klammerte und mit zähen Schritten auf den Ausgang zuging. Sie hielt ein Päckchen Zigaretten in der Hand. Anton drehte den Verschluss einer Flasche Cola ab und trank. Dann rülpste er dezent, machte sich über den Rest der Wurst her, kaute und sagte mit vollem Mund: »Dieser Kiosk sollte verflucht noch mal einen Michelin-Stern bekommen.«

Nora hielt sich die Hand vor den Mund und lachte.

»Sie glauben wohl, ich mache Witze, wie?«, sagte Anton. »Vielleicht sollte ich mal nach dem Küchenchef fragen? Ihn etwas loben?«

»Tun Sie das nicht. «

Anton kicherte und überprüfte die Uhrzeit auf seinem Handy. 14:39. Er legte das Telefon auf den Tisch. Nora stocherte in ihrem Nudelsalat herum, sah ihn an und fragte: »Haben Sie Kinder?«

»Einen Sohn.«

»Wie alt ist er?«

»Siebzehn.«

»So wie ich. Haben Sie ein gutes Verhältnis?«

Anton dachte nach. Spontan wollte er mit Ja antworten, doch andererseits war es über drei Wochen her, seit er Alexander zuletzt gesehen hatte. Die Zeiten, in denen er jedes zweite Wochenende bei seinem Vater in Fredrikstad verbracht hatte, waren vorbei. Jetzt kam sein Sohn nur noch, wenn er nichts Besseres zu tun hatte. Und ein Siebzehnjähriger, der immer noch frisch verliebt war, hatte im Großen und Ganzen immer etwas Besseres zu tun.

»Er wohnt bei seiner Mutter in Oslo. Ich sehe ihn nicht so oft, wie ich sollte, aber wenn wir erst mal zusammen sind, machen wir es uns gemütlich. Was bedeutet, dass wir eigentlich nicht viel mehr tun als Sie und ich jetzt. Essen und quatschen. Und dann gucken wir uns Filme und Serien an. Aber diese kumpelhafte Beziehung ist eigentlich erst entstanden, als er ins Teenageralter kam.«

»Waren Sie und seine Mutter da schon geschieden?«

»Ja.«

»Hätten Sie dasselbe kumpelhafte Verhältnis, wenn Sie noch unter einem Dach leben würden, oder glauben Sie, es rührt daher, dass Sie einander nicht so oft sehen?«

»Gute Frage.« Anton fuhr sich mit den Fingern durch den Bart an seinem Kinn. »Ich hoffe ja, dass wir es hätten, aber vermutlich wären die Dinge dann etwas anders gelaufen. Wegen meiner Arbeit war ich nicht so oft für ihn da, als er klein war, und wenn ich dann erst mal nach Hause kam, war ich derjenige, der dann manchmal streng mit ihm war. Als seine Mutter und ich uns getrennt haben, war sie plötzlich für neunundneunzig Prozent der Erziehung zuständig, und somit auch für den Teil, der nicht so besonders schön ist. Sie wissen schon«, er setzte ein schiefes Grinsen auf, »wenn man als Erwachsener einschreiten und sagen muss, dass dieses oder jenes nicht in Ordnung ist.«

»Wie zum Beispiel, sich in die Badewanne zu legen und die Pulsadern aufzuschneiden.«

»Ja, das ist etwas, das mit Sicherheit in die Tu-das-nicht -Kategorie gehört, aber ich meinte es mehr allgemein. Nachdem ich ausgezogen war, habe ich ihn nicht mehr zurechtgewiesen. Diese Aufgabe hat seine Mutter bekommen, und glücklicherweise hat sie die sehr gut gelöst. Vermutlich weit besser, als ich es je gekonnt hätte.«

»Haben Sie ein Foto?«

Anton nahm sein Handy und rief das Fotoalbum auf. Er scrollte zu einem Bild vor, das Alexander ihm im Sommer geschickt hatte. Es zeigte ihn und seine Freundin und war am Swimmingpool im Garten hinter der majestätischen Villa des Mannes aufgenommen, den Elisabeth Brekke – heute Elisabeth Langgård – geheiratet hatte. Alexander und seine Freundin mit den Füßen im Wasser. Sein Arm lag auf ihrer Schulter. Beide hatten nasse Haare und lächelten in die Kamera. Anton reichte Nora das Handy.

»Shit. Die ist hübsch. Ist das die Freundin?«

»Ja.«

»Die passen gut zusammen.« Nora spähte auf das Foto. »Haben Sie so ausgesehen, als Sie jung waren?«

»Als ich jung war?« Anton zog eine Augenbraue hoch. »Wenn ich mir den Bart abnehme, ist kein Unterschied zwischen uns zu erkennen.«

Nora lachte laut.

»Darf ich weiterscrollen?«

»Nur zu, scrollen Sie.«

Sie wischte mit einem Finger auf dem Handy herum, während sie die Gabel in zwei Nudelspiralen bohrte und sie in das Dressing tauchte.

»Ich wünschte, mein Vater wäre wie Sie.«

»Sie wissen nicht, was Sie sich da wünschen.«

»Tue ich wohl.«

Sie hob den Kopf und blickte über Antons Schulter, als sei ihr etwas aufgefallen. Anton drehte sich um. Und tatsächlich war ihr da etwas aufgefallen. Denn da stand er wieder. Genauso unverhofft wie am Tag zuvor.

Mist, dachte Anton und sagte: »Torp.«

»Ich hätte dich beinahe übersehen«, entgegnete Magnus.

»Mit einem Beinahe darf man sich nie zufriedengeben. Nora, darf ich vorstellen, mein bestangezogener Kumpel – Magnus Torp.«

»Hallo …«

»Hallo«, sagte Magnus und setzte sich neben Anton.

»Was machst du hier?«

»Ich habe mit zwei Kollegen von … na ja, ich bin hier wegen der Sache, über die wir gestern gesprochen haben.«

»Ach«, sagte Anton.

»Es geht verflucht noch mal nicht voran. Wir sind dabei, die alle zu v…«

»Torp«, unterbrach Anton ihn. »Ich bin bei der Arbeit.«

»Tut mir leid. Hast du denn die Pressekonferenz gesehen?«

»Nichts da.«

»Ich war da eh nur zur Zierde. Der Polizeichef hat geredet.«

Anton sah zu, wie Nora den Rest des Nudelsalats aufaß.

»Wir sollten mal zurück, ehe noch nach uns gefahndet wird, Nora …«

Anton erhob sich. Nora folgte seinem Beispiel, griff nach seinem Würstchenpapier und legte es in die leere Salatschale. Anton beobachtete sie, als sie zum Mülleimer hinüberging und die Reste hineinwarf.

»Ich sollte wohl auch aufbrechen«, sagte Magnus und sah auf die Uhr. »Hab im Anschluss ein Treffen mit dem Ermittlerteam. Hast du noch weiter darüber nachgedacht, Göteborg zu streichen?«

»Wie soll ich bitte weiter über etwas nachdenken, was mir noch gar nicht in den Kopf gekommen ist?« Anton sah zu Nora hinüber, die an der Information stand und auf ihn wartete. Ihr Blick hatte sich verloren, als ob sie gar nicht mitbekam, was um sie herum vorging. »Ich muss jetzt gehen. Wir sehen uns.«

»Möchten Sie vielleicht, dass ich irgendetwas für Sie erledige?«, fragte Anton, als sie wieder in Noras Zimmer waren.

Nora hatte eine halb sitzende, halb liegende Stellung auf dem Bett eingenommen. Die zusammengerollte Bettdecke stützte ihren Rücken. Den Kapuzenpulli hatte sie offenbar achtlos auf den Nachttisch geworfen. Ihre dünnen, bandagierten Arme ragten aus dem T-Shirt und ruhten rechts und links neben ihrem Körper.

»Nein. Übrigens, danke für den Salat.«

»Gern geschehen.«

»Der Typ da unten … Hat nicht so ausgesehen, als ob Sie eigentlich mit ihm reden wollten.«

»War das so deutlich?«

»Er muss es mit Sicherheit auch gemerkt haben.«

»Die Hoffnung stirbt zuletzt.« Anton trat auf die Tür zu. »Klingeln Sie, falls was ist.«

»Was hat er getan? Warum sind Sie so sauer auf ihn?«

Anton ließ die Türklinke wieder los und drehte sich zu Nora um.

»Er hat gar nichts getan, und ich bin auch nicht sauer auf ihn. Aber wir haben früher zusammengearbeitet, und jetzt tun wir das nicht mehr.«

»Ist er Sozialarbeiter, so wie Sie?«

»Nein.«

»Aber haben Sie hier im Krankenhaus zusammengearbeitet?«

»Nein.«

»Sie haben gesagt, dass Sie hier seit zwei Monaten arbeiten. Wo haben Sie davor gearbeitet?«

»In einem Kindergarten.«

»Dafür, dass er in einem Kindergarten arbeitet, war er aber ziemlich schick angezogen.«

»Das tut er ja auch nicht.«

»Dann arbeitet er also hier im Krankenhaus? Irgendein Leitungsjob? Jedenfalls hat er hier etwas gemacht. Etwas, worüber Sie gestern gesprochen haben. War er das, der Sie gestern besucht hat?«

»Sie sind furchtbar neugierig.«

»Ich frage mich nur, weshalb Sie sauer auf ihn sind. Sie wurden nämlich ganz ernst, als er aufgetaucht ist.«

»Ich hab doch schon gesagt, dass ich nicht sauer auf ihn bin.«

»Aber irgendwas muss ja sein. Man ist nicht so abweisend gegenüber anderen, wenn es keinen Grund dafür gibt. Geht es um etwas, das gestern Abend passiert ist? Falls er es war, der Sie besucht hat?«

Anton sah Nora lange an. Schließlich sagte er: »Persönlich habe ich überhaupt nichts gegen ihn. Aber er repräsentiert alles, was ich verloren habe, und jedes Mal, wenn ich ihn sehe, werde ich daran erinnert.«

Nora beugte sich vor und sah zu Anton auf. Sie legte die Hand vor den Mund, der sich zu einem großen O verformt hatte.

»Oh Scheiße, er muss ja viel jünger sein als Sie.«

»Wovon reden Sie?«

»Er ist bestimmt der neue Typ von der Mutter Ihres Sohnes!«

»Nein.« Anton lachte leise in sich hinein. »Nicht mal annähernd richtig.«

»Nein?«

»Wir haben zusammen bei der Polizei gearbeitet. Zufrieden?«

»Sie sind Polizist?«

»Ich war Polizist.«

»O.M.G.« Sie zeigte auf sein Ohr. »Betriebsunfall.« Sie ließ die Hand wieder in den Schoß fallen. »Sie haben vorhin gesagt, das sei ein Betriebsunfall gewesen. Sie wurden angeschossen, stimmt’s? Oder mit einem Messer angegriffen?«

»Das Erste.«

»Was ist passiert?«

Ihr Mund war immer noch halb offen.

»Klingeln Sie, falls was sein sollte …« Anton ergriff wieder die Türklinke. »Ich muss jetzt weiter.«

»Nein!«, sagte sie laut. »Jetzt sagen Sie schon. Sie müssen es mir erzählen.« Nora warf ihren Oberkörper vor. »Du meine Güte!« Sie richtete sich wieder auf. »Sie können doch nicht erwähnen, dass Sie angeschossen wurden, und dann weiter nichts erzählen!«

»Wir haben in einer Mordserie ermittelt, und im Zusammenhang mit einem Einsatz ist dann was schiefgegangen. Ich bin billig davongekommen und wurde bloß von einem Querschläger getroffen. Für ihn, den Sie unten kennengelernt haben, ist es schlimmer ausgegangen.«

»Was ist ein Querschläger?«

»Die Kugel hat was anderes getroffen, ehe sie mich dann erwischt hat.«

»Und danach haben Sie sich also zerstritten?«

»Nein, das mit der Kugel ist schon sieben oder acht Jahre her. Sie waren damals noch nicht mal zehn und haben von dem Fall vermutlich kaum was mitbekommen. Und wir haben uns nicht zerstritten

»Befreundet sind Sie aber auch nicht.«

»Doch, schon.«

»Und eine Mordserie ? Sie haben also einen Serienmörder gejagt?«

»Ja.«

»Wow … Und dann? Warum sind Sie kein Polizist mehr?«

»Ich habe gekündigt … in gewisser Weise.«

»In gewisser Weise? Was ist passiert?«

»Ich habe etwas getan, was nicht ganz in Ordnung war.«

»Haben Sie einen Unbewaffneten erschossen?«

»Nein, ich habe niemanden erschossen.«

»Was dann?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Ich hab nichts vor.«

»Aber ich schon.«

»Als wir am Schwesternzimmer vorbeigekommen sind, habe ich die Schichttafel gesehen. Ihr Name stand nur an einer Stelle – bei mir.«

»Sie sind ziemlich aufmerksam.«

»Danke.«

»Aber nicht aufmerksam genug. Ich bin nämlich für zwei Patienten eingetragen.«

»Können Sie es nicht einfach sagen?«

Anton holte Luft und ließ sie mit einem Seufzer wieder ausströmen. Dann setzte er sich in den Sessel.