Volda, 1999, Tag 38
Rebekka nahm seinen Teller und stellte ihn auf ihren eigenen. Er leerte sein Limonadenglas, erhob sich vom Stuhl und stellte sich hinter sie. Dann legte er je eine Hand auf Rebekkas Schultern, küsste sie leicht auf den Hals und flüsterte: »Leg dich aufs Sofa und ruh dich aus, dann räume ich den Tisch ab. Ich muss nur kurz auf die Toilette.«
Sie sah ihn an. Er strich mit den Fingerspitzen über ihren Nacken und ging ins Bad, schloss die Tür und sperrte sie ab. Dann legte er die Hände aufs Waschbecken und spürte, wie sich sein Griff automatisch verstärkte, während er in den Spiegel sah.
Sie war angespannt gewesen, als sie zu ihm gekommen war, hatte den Kuss und die Umarmung zur Begrüßung kaum erwidert. Im Laufe des Nachmittags hatte er immer wieder an die Episode auf dem Campus gedacht. Als er in die Bibliothek gegangen war. Als er dort in den Büchern geblättert hatte. Auf dem Rückweg. Während er sich ein paar Brote zubereitet hatte. Unter der Dusche. Während er auf ihren Anruf wartete. Es gab nur einen Gedanken. Das heißt: Es gab Hunderte. Doch alle betrafen dasselbe: Sollte er sie fragen, wer dieser Typ am Vormittag auf der Brücke gewesen war? Allerdings gab es keine plausible Erklärung dafür, wie er davon erfahren haben sollte. Also versuchte er, den Gedanken zu ignorieren, sobald der sich meldete. Sie hätte sofort begriffen, dass er ihr nachspioniert hatte, weil es niemanden gab, der ihm davon erzählt haben konnte. Niemand von ihren Freunden wusste, dass sie im Laufe der letzten fünf Wochen ein Verhältnis begonnen hatten. Herrje, niemand wusste überhaupt von ihm. So verdammt geheimnisvoll war sie. Gegenüber ihren eigenen Freundinnen! Ihren besten und engsten Freundinnen! Alles, was wichtig in ihrem Leben war, teilte sie anscheinend mit ihnen. Alles! Abgesehen von ihm. Wie lange wollte sie das Geheimnis eigentlich für sich behalten? Bis im Vorlesungssaal ihre Fruchtblase platzte?
Er würde ein guter Vater sein, dessen war er sich sicher. Dieser aufgeblasene Pavian, mit dem sie draußen vor der Hochschule auf der Brücke gestanden hatte, war mit seinem ekelhaften Grinsen einfach bloß widerlich. Es war nämlich nicht so, dass er Rebekka nicht vertraute. Er vertraute nur sonst niemandem. Viele Männer hatten Probleme damit, den Unterschied zwischen mein und dein zu verstehen. Rebekka war Rebekka. Deswegen konnte er sie auch so gut leiden. Sie strahlte einfach, egal mit wem sie sprach. Er hatte es gleich am ersten Abend im Kino erlebt. Sie hatte so locker und ungezwungen mit dem jungen Mann an der Kinokasse gesprochen, dass es ihm einen Augenblick lang so vorkam, als ob die beiden ein Rendezvous hatten und er selbst bloß einer war, der zufällig in der Schlange hinter ihr stand. Das hatte ihn provoziert, und wenn sich Rebekka der jungen Frau an der Ticketkontrolle gegenüber nicht ganz genauso aufgeführt hätte, wäre es zu einer Auseinandersetzung gekommen. Eine Auseinandersetzung der Art, die ihr vermutlich die Lust auf ein Wiedersehen genommen hätte.
Genau da lag die Erklärung, dachte er. Ihre Güte, ihre Großzügigkeit und ihre Ausstrahlung. Nicht zu vergessen der butterweiche südnorwegische Akzent, mit dem sie die Konsonanten aussprach. Dass andere Männer ihr Avancen machten, war etwas, an das er sich eigentlich auch gleich gewöhnen könnte. Eifersucht brachte rein gar nichts, wenn man mit einem Mädchen zusammen war, das so aussah wie sie. Das würde nur zu Kopfschmerzen führen, und noch ehe er die fünfundzwanzig erreicht hätte, würde man ihn für geisteskrank erklären. Allerdings musste deutlich werden, dass sie zusammen waren. Dass sie ein Paar waren. Dass er der Ihre und sie die Seine war. Er mochte keine Geheimniskrämerei. Wenn sich herausstellte, dass es stimmte, was er vermutete, dass sie nämlich Eltern wurden, dann mussten sie sich auf jeden Fall verloben. Gleich am nächsten Tag würde er beim Goldschmied vorbeischauen. Zwar hatte er nicht die Absicht, vor ihr niederzuknien, doch ein kleiner Ring wäre nicht dumm. Um ihr zu demonstrieren, dass er es ernst meinte, in erster Linie jedoch, um ihn vorzeigen zu können.
Gerade als er die Spülung betätigte, kam ihm ein Gedanke, der früher noch gar nicht aufgetaucht war. Womöglich war es so simpel, dass sie ihren Eltern von ihm erzählt hatte. Dass sie ihn gern treffen wollten. So einfach und unkompliziert konnte es sein. Es erklärte zudem, warum sie tags zuvor am Telefon so abwesend geklungen hatte. Weil ihr davor grauste. Er sah zu, wie das frische Wasser in die Toilettenschüssel floss, ehe er den Hahn am Waschbecken aufdrehte, sich Wasser ins Gesicht spritzte und die Hände abtrocknete.
Der Ton am Fernseher war leise gestellt. Rebekka hatte bereits den Tisch abgeräumt und lag auf dem Sofa. Sie war einfach gekleidet, in Jogginghose und Adidas-Jacke. Als ob sie zum Training wollte. Es war ihm gleich aufgefallen, als sie gekommen war, aber er hatte es nicht kommentiert. Er selbst hatte sich für helle Jeans und einen Rollkragenpullover entschieden.
Er verharrte und warf ihr einen kurzen Blick zu. Sie schenkte ihm ein starres Lächeln. Er spähte auf ihre Eckzähne, setzte sich aufs Sofa und zog sie an sich. Er begrub die Nase in dem Gebirge aus Locken und atmete tief ein. Es roch herrlich.
Der Bildschirm mit dem MTV -Logo in der Ecke zeigte ein Video zu einem Musikstück, das er nicht kannte. Ein Elefant wanderte durch eine Ebene, die so trocken war, dass der Boden der schrumpeligen Haut des Tieres glich.
»Jedes Jahr werden zwanzigtausend von denen getötet«, sagte er und deutete mit dem Kopf auf den Fernseher. »Insgesamt sind nur noch gut vierhunderttausend von ihnen übrig.«
»So viele?« Rebekka grinste. »Du und die Elefanten. Wirklich tolle Tiere, aber ich bin wohl eher ein Katzenmensch.«
»Hast du jemals gesehen, dass eine Katze ihre Gefühle ausdrückt, indem sie lacht oder weint?«
»Nein«, erwiderte Rebekka, nachdem sie kurz nachgedacht hatte. »Tun Elefanten das?«
»Ja.«
»Das war mir nicht klar. Ich weiß nur, dass sie ein gutes Gedächtnis haben. Oder … ist das vielleicht bloß ein Mythos?«
»Nein, das haben sie wirklich. Und ihr Gedächtnis wird mit den Jahren nur besser. Sie gehören zu den schlauesten Tierarten auf der Erde. Ihr Gehirn ist tatsächlich genauso komplex wie das der Menschen.«
»Wirklich?«
»Ja. Und wenn einer in der Herde stirbt, dann trauern sie lange. Genau wie Menschen. Doch im Gegensatz zu uns schließen sich Elefanten nicht zu größeren Gruppen zusammen, und deshalb werden sie ausgerottet.«
Das Musikstück wurde von einem neuen abgelöst. Am unteren Rand des Bildschirms stand Backstreet Boys – I Want It That Way. Er griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter. Behutsam schob er Rebekka nach unten, sodass ihr Kopf auf seinem Schenkel zur Ruhe kam, legte eine Hand auf ihren Bauch und strich über den glatten Stoff der Jacke.
»Übrigens danke für die Rosen«, sagte sie und legte eine Hand auf sein Knie.
Da, jetzt, dachte er. Ihr erster Versuch, engen Kontakt aufzunehmen, seit sie zur Tür hereingekommen war. Erleichtert atmete er auf.
»Gern geschehen, mein Schatz«, sagte er und blickte zum Küchentisch, auf dem die drei in Plastik verpackten Rosen lagen.
»Ich weiß gar nicht, was ich zu Trine sagen soll.«
Trine. Er war ihr noch nicht einmal begegnet, dennoch spürte er nur Verachtung, sobald er ihren Namen hörte.
»Was meinst du denn?«
»Ihr wird ja klar sein, dass ich mir die Rosen nicht selbst gekauft habe.« Rebekka veränderte ihre Position so, dass sie ihn direkt ansehen konnte. »Vorschlag?«
»Tja … ein heimlicher Verehrer?«
»Irgendwas in der Art muss es wohl sein.« Sie schloss die Augen. »Tut mir leid, dass ich heute etwas schluffig wirke, aber seitdem ich unter der Dusche war, habe ich furchtbare Kopfschmerzen.«
Er strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn.
»Kein Problem, mein Schatz. Du bist trotzdem toll. Weißt du, wann ich dich am tollsten finde?«
Sie schüttelte leicht den Kopf.
»Wenn du nackt bist.«
Sie blickte zu ihm auf, lächelte, aber nicht so, wie sie es auf der Brücke getan hatte. Dieses Lächeln wirkte eher resigniert. Die Backstreet Boys wurden durch Elton John mit »Nikita« ersetzt.
»Du …« Er hörte auf, ihren Bauch zu streicheln. »Hast du deinen Eltern von uns erzählt?«
»Nein, natürlich nicht. Ich hab doch gesagt, dass ich das nicht machen kann.«
»Aber …« Er fuhr fort, sie zu streicheln. »Was würde dein Vater wohl sagen, wenn wir zwei Söhne bekämen und sie Esau und Jakob nennen? Glaubst du nicht, dass er mich dann akzeptieren würde?« Sie antwortete nicht. »Esau und Jakob waren die Kinder von Isaak und Rebekka.«
»Das weiß ich sehr genau«, sagte sie streng. »Sag bloß nicht, dass du jetzt angefangen hast, die Bibel zu lesen, um meinen Vater zu beeindrucken.«
Verdammter Mist. Scheibenkleister. Er hätte den Mund halten sollen.
»Natürlich nicht.« Er lachte kurz. »Wissen das nicht alle? Genauso wie alle wissen, dass Rachel Jakobs Lieblingsfrau war. Aber …« Vorsichtig nahm er ihr Kinn in die Hand und drehte ihr Gesicht dem seinen zu. »Eines hab ich mich immer gefragt: Wie viele Frauen hatte dieser Jakob eigentlich? Wenn Rachel seine Lieblingsfrau war, dann muss er ja mehrere gehabt haben.«
»Zwei«, erwiderte Rebekka und drehte sich wieder zum Fernseher. »Er bekam zwölf Söhne von vier verschiedenen Frauen. Mit zweien war er verheiratet, und zwei waren Nebenfrauen.«
»Nebenfrauen? Was soll das sein?«
»Eine Frau, die einen geringeren Status als die Ehefrau hatte«, erwiderte Rebekka, »und mit dem Paar zusammenlebte.«
»Wie eine Dienerin?«
»Könnte man sagen, aber das hat sich nicht allein auf Kochen und Hausarbeit beschränkt. Tatsächlich war eine Nebenfrau dazu da, die Bedürfnisse des Mannes zu stillen – und die der Frau. Vermutlich je nachdem. Aber die Kinder, die von einer Nebenfrau geboren wurden, waren nie so hoch geachtet wie solche, die die Ehefrau ausgetragen hatte.«
»Vielleicht hat sie die Bedürfnisse des Mannes und die der Frau auch gleichzeitig gestillt?«
»Das ist auch vorgekommen, ja.«
»Du sagst also, dass Jakob sexbesessen war?«
Rebekka seufzte. »Können wir nicht über was anderes reden?«
Okay, nicht lustig, dachte er und starrte in Richtung Küche. Er stöhnte.
»Was ist denn?«, fragte sie.
»Ich musste nur daran denken, dass wir immer hier bei mir sind.«
»Ich hab dir doch erzählt, wieso.«
»Wegen Trine. Aber du hast doch gesagt, dass sie am Donnerstag nach Mandal wollte – also übermorgen. Dass sie das ganze Wochenende verreist sein wird.«
»Ja.«
»Kann ich dich dann am Donnerstag nicht besuchen kommen? Ich würde sehr gern sehen, wie’s bei dir aussieht.«
Keine Antwort.
»Hallo?«
»Sicher«, gab sie zurück.
»Oh je, oh je.« Er grinste. »Das nenne ich Enthusiasmus.«
Schweigen.
»Rebekka?«
»Ja?«
»Kann ich dich was fragen?«
»Ja …?«
»Bist du schwanger?«
Sie fing an zu lachen, drehte sich herum und grinste, während sie ihn ansah.
»Nein. Wieso fragst du danach?«
»Weil du gestern am Telefon gesagt hast, du wolltest mit mir über was Wichtiges reden.«
»Hab ich das gesagt?«
»Ja. Ich habe den ganzen Tag an nichts anderes gedacht.«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Ich habe überlegt, dir ein Handy zu kaufen, dann könnte ich dich besser erreichen.«
»Das brauche ich nicht.«
»Ihr kriegt es ja nicht hin, mit dem Hausmeister zu reden. Wie lange ist der Anschluss in eurer Wohnung jetzt schon außer Betrieb?«
»Seit wir da wohnen hat der nicht funktioniert, aber das ist auch kein großer Verlust. Ich finde es herrlich. Trine hat ein Handy gekauft, für den Fall, dass was passiert. Und wenn ich in der Schule oder zu Hause anrufen muss, leihe ich es mir einfach aus.«
»Kann ich die Nummer bekommen? Dann k…«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Und du weißt, wieso.«
»Dann lass mich doch eins für dich kaufen!« Er hörte seine Stimme lauter werden, aber das wollte er nicht. Er atmete lautlos in seinen Bauch hinein. »Dann brauchst du nicht jedes Mal zum Münztelefon runterzugehen, wenn du mich anrufen willst.«
Mit einem gereizten Gesichtsausdruck richtete sie sich auf.
»Du musst damit aufhören. Ich habe dir erklärt, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Trine und ich sind sehr unterschiedlich. Meine Eltern sind nicht wie die meisten anderen. Wenn Papa erfahren sollte, dass … ja, dass ich manchmal Bier trinke, oder schlimmer: dass ich Sex hatte, ehe ich verheiratet bin … Ich wage nicht mal daran zu denken, wie er reagieren würde. Es ist kompliziert. Bitte, kannst du das nicht einfach verstehen? Und wenn du es nicht verstehst, kannst du es dann wenigstens respektieren?«
»Schon gut, schon gut.« Er legte eine Hand auf ihre Wange. »Ich verstehe dich, mein Schatz. Ich wollte dir nicht auf die Nerven fallen. Ich habe dich einfach sehr gern, und … Als du gesagt hast, dass du mir was Wichtiges erzählen wolltest, habe ich gedacht, du wärst schwanger. Und um ehrlich zu sein, habe ich fast darauf gehofft.«
»Das wäre dann allerdings ein Wunder«, erwiderte sie. »Was glaubst du wohl, warum ich so genau darauf achte, dass wir vorsichtig sind?«
»Nichts ist zu hundert Prozent sicher.«
»Wenn das passieren würde«, sagte sie leise, »gäbe es tatsächlich nur eine Möglichkeit. Ich könnte nicht von jemandem schwanger sein, den ich gerade mal seit vier Wochen date. Dann würde ich meine Eltern und mein Erbe verlieren.«
»Fünfeinhalb«, korrigierte er.
»Wie?«
»Fünfeinhalb Wochen.«
Sie legte sich wieder hin. Er schob die Hand unter die Jacke und das Unterhemd, ließ die Finger über ihren Bauch streichen. Steckte den Zeigefinger in ihren Bauchnabel und kitzelte sie mit den anderen Fingern. Und er sah sie wieder auf der Brücke. So eine Scheiße , dass er das gesehen hatte, und so ein Mist, dass er es nicht vergessen konnte, denn anscheinend war da gar nichts gewesen. Diese Qualle mit dem aalglatten Fotzengesicht war wohl bloß ein Kumpel. Natürlich war er das.
Oder?
»Mit wie vielen hattest du eigentlich schon Sex?«
»Wieso willst du das wissen?«, entgegnete sie in Richtung Fernseher.
»Ich bin bloß neugierig.«
Rebekka gab keine Antwort. Scherzhaft kniff er ihr in den Bauch.
»Jetzt sag schon.«
Sie blickte ihn an und sagte: »Findest du nicht, dass das Privatsache ist?«
»So viele also?«, fragte er mit aufgesetztem Lachen. »Verstehe … Nein, dann möchte ich es lieber gar nicht wissen.«
»Jesus«, sagte sie und wandte sich wieder von ihm ab. »Jetzt bist du unverschämt.«
»Entschuldige, meine Schöne …«, sagte er und fing wieder an zu streicheln. »Ich mache doch nur Spaß.«
»Es waren drei, wenn du es unbedingt wissen musst.«
So viele also, dachte er und hoffte, dass die Gleichung ihn selbst mit einschloss. Oder waren es drei plus er? Nein, so durchtrieben konnte sie nicht sein.
Oder?
»Und wer sind die anderen?«
»Ich hatte zwei Liebhaber«, erwiderte sie gereizt. »Beide sind aus Mandal, du kennst sie also nicht.«
Also drei, einschließlich ihm. Jetzt wusste er es.
»Ich rede nur dummes Zeug. Gestern war gestern, sagt man nicht so?«
Sie brummte eine Antwort. Ein paar Minuten vergingen, ohne dass etwas anderes als der Fernseher ertönte, bevor er abermals das Schweigen durchbrach.
»Also … was war es?«
»Was denn?«
»Das Wichtige.«
Sie seufzte. »Es war nichts.«
Ihre Stimme klang jetzt wieder wie am Telefon am Vortag. Fern.
»Na, dann«, sagte er und strich ihr über den Kopf.