Mittwoch, 20. November
»Sie haben den Ermordeten also gekannt?«
Nora hatte sich mit dem Rücken zur Wand im Bett aufgesetzt.
»Ja. Er war ein pensionierter Kollege. Oder nein, mehr als ein Kollege. Er hat mir alles über Mordermittlungen beigebracht. Harald Uteng – so lautete sein Name – war der Beste von uns allen. Das Problem war, dass die örtliche Polizei der Ansicht war, er sei infolge eines Unfalls gestorben. Ich war davon überzeugt, dass es sich um Mord handelte, aber niemand wollte etwas davon wissen. Dann haben der Typ, dem Sie gestern unten begegnet sind, und ich ein paar Untersuchungen auf eigene Faust angestellt, und unter anderem haben wir – oder eher ich – versucht, Haralds Handydaten zu beschaffen. Aber da es sich um keine offizielle Ermittlung handelte, konnte ich über die üblichen Kanäle nicht an diese Informationen herankommen. Dafür ist ein Polizeijurist nötig, der eine Anordnung unterschreiben muss, aus der hervorgeht, dass die Telefongesellschaft verpflichtet ist, die Daten herauszugeben. Die örtliche Polizei hatte aber bereits den Schluss gezogen, dass hinter dem Todesfall keine strafbare Handlung steckte, weswegen es für sie keinen Grund gab, weiter in dem Fall zu ermitteln. So weit alles klar?«
»Ja.«
»Ich habe mich dann ein bisschen umgehört und … äh, ja, nennen wir ihn Nilsen. Nilsen war Betriebsingenieur bei Telenor. Das bedeutete, dass er Zugang zu den Informationen besaß, die ich brauchte. Meine Quelle informierte mich darüber, dass er ein ziemlich suspekter Typ mit einem äußerst zweifelhaften Freundeskreis war. Daher war davon auszugehen, dass es hier möglich war … tja, wie drücke ich das jetzt aus, ohne dass es sich völlig verrückt anhört …« Anton blies die Wangen auf und ließ die Luft wieder entweichen. »Nein, ich hab gar keine Lust, das anders zu formulieren, also: dass es in diesem Fall möglich war, sich schlichtweg außerhalb des gesetzlichen Rahmens zu bewegen. Dass ich ihn erpressen könnte, um das zu kriegen, was ich haben wollte.«
»Sagen Sie mir, wie sein richtiger Name lautet.«
Nora reckte sich nach dem Handy, das am Kopfende ihres Bettes lag, zog das Ladekabel ab und lehnte sich wieder zurück.
»Das kann ich nicht.«
»Doch!«, sagte Nora und beugte sich leicht vor. »Jetzt kommen Sie schon. Sie müssen mir sagen, wie er heißt. Ich will nachsehen, ob er bei Facebook ist.«
Sie wedelte mit dem Handy.
»Nora. Übertreiben Sie es nicht.«
»Na, gut.« Sie ließ das Handy aufs Bett fallen, fuhr mit Daumen und Zeigefinger über ihren Mund und schloss einen imaginären Reißverschluss. »Mmm-mmm-m.« Der Reißverschluss wurde wieder geöffnet. »Ich bin auch ganz ruhig. Jetzt erzählen Sie endlich.« Abermals fuhr sie mit den Fingern über ihre Lippen, drehte einen Schlüssel herum und machte eine theatralische Wegwerfbewegung.
»Ich habe ein paar Gramm weißes Pulver in seinem Wagen deponiert und habe ihm dann versprochen, dass er nicht angezeigt wird, wenn er mir gibt, was ich haben will.«
»Oh je … Ist das nicht ziemlich gewagt?«
»Es waren keine Drogen, sondern zerbröselte Ibuprofen.«
»Aber das wusste er nicht?«
»Nein, aber wenn er sich geweigert hätte, auf diesen Handel einzugehen, wäre überhaupt nichts aus der Sache geworden. Verstehen Sie? Er hat natürlich geglaubt, es wäre Stoff, und genau das war die Absicht, und er war sicher, dass einer von diesen komischen Typen, mit denen er herumhing, es in seinem Wagen vergessen hatte.«
»Was auch möglich gewesen wäre?«
»Genau. Also hatte er zwei Möglichkeiten. Entweder konnte er mir geben, was ich wollte, und dann nach Hause fahren, oder er konnte auf die ganze Zirkusnummer pfeifen. Wenn Nilsen sich aber für Letzteres entschieden hätte – glaubte er jedenfalls – dann wäre er wegen Drogenbesitzes angezeigt worden, was dazu geführt hätte, dass er seine Sicherheitsfreigabe und infolgedessen auch seine Arbeit verloren hätte. Mein Bluff hat genau ins Schwarze getroffen. Ich habe bekommen, was ich wollte, und Nilsen machte einfach weiter, als ob nichts geschehen wäre. Bis dann bei einer Innenrevision bei Telenor herauskam, dass er die Daten herausgegeben hatte, ohne dass eine …«
»Anordnung vorlag?«
»Ja.«
»Ha! Wirke ich etwa unaufmerksam?«
»Das nennt sich Stichprobe.« Anton lächelte. »Wie dem auch sei: Nilsen hatte großes Pech.«
»Sagen Sie mir, wie er heißt.«
Anton schüttelte den Kopf.
»Doch!«, sagte sie laut. »Los jetzt.«
»Nora.«
»Okay. Ich höre auf. Versprochen. Fahren Sie fort!«
»Nilsen erzählte seinem Chef, was passiert war, aber natürlich hat der ihm nicht geglaubt. Und was, glauben Sie, ist dann geschehen?«
»Er wurde gefeuert?«
»Ja. Und dann hatte ich plötzlich großes Pech. Denn Nilsen hatte nichts mehr zu verlieren. Er hat der Spezialeinheit einen Tipp gegeben – Sie wissen, was das für ein Verein ist?«
»Irgendwas Militärisches?«
»Das ist die Innenrevision. Die Polizei der Polizei, also diejenigen, die Fälle untersuchen, bei denen Polizisten involviert sind.«
»Sie wurden also gefeuert, weil Sie ihm Drogen untergeschoben haben, die keine Drogen waren?«
»Ich wurde nicht gefeuert. Die Spezialeinheit konnte Nilsens Behauptungen nie beweisen. Der Fall wurde eingestellt, kurz nachdem ich gekündigt hatte.«
»Dann hätten Sie doch auch weitermachen können?«
»Hier wird es etwas kompliziert. Die Informationen, die Nilsen mir gab, haben geholfen, den Fall zu lösen. Das waren Informationen, für deren Besitz ich keine Befugnis hatte – ich durfte sie also gar nicht haben. Es hatte allerdings auch keinen Zweck, das Ganze zu verharmlosen, da es intern ohnehin schon viel Gerede über Nilsens Anschuldigungen gab. Aufgrund dessen wurde mir angeboten, von mir aus zu kündigen, und dieses Angebot habe ich angenommen. Denn alle wussten, was sich zugetragen hatte. Mein Chef wusste es, und der Chef meines Chefs wusste es auch. Sogar die Innenrevision wusste es, allerdings geht es nicht darum, was man weiß, sondern darum, was man beweisen kann. Mir wurde gesagt, dass Nilsens Anschuldigungen vermutlich nicht weiter verfolgt würden, wenn ich kündigte. Und wenn ich nicht kündigte, würde die Spezialeinheit alle Hebel in Bewegung setzen. Da hatten sie schon meine ganze berufliche Karriere durchleuchtet.«
»Haben Sie so viel Schreckliches getan?«
»Ganz und gar nicht, aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass mir diese Leute ständig über die Schulter blicken würden. Außerdem fühlte ich mich schlecht behandelt. Ich habe etwas getan, was ich nicht hätte tun sollen, doch wenn alle anderen ihre Arbeit getan hätten, wäre es für mich gar nicht erforderlich gewesen, überhaupt etwas zu tun. Denn es war Mord, und kein Unfall. Anstatt also inkompetente Führungskräfte zu verfolgen, haben sie mich verfolgt – wegen der Geschichte mit den zerbröselten Tabletten.«
»Wenn es diese Spezialtypen am Ende also geschafft hätten, etwas zu beweisen, dann wären Sie wegen der Sache mit diesem Nilsen gefeuert worden?«
»Mit Sicherheit. Womöglich wäre ich sogar im Gefängnis gelandet.«
»Ihr Kumpel von unten … Er wusste nichts darüber, was Sie da getan haben?«
»Er war dabei, als es passiert ist, hatte aber keine Ahnung von meinem Plan. Ich hätte ihn natürlich vollkommen aus der Sache heraushalten müssen. Er hatte – und hat – noch eine lange Karriere vor sich. Und im Gegensatz zu mir hat er eine Zukunft.«
»Bereuen Sie es?«
»Nein, ich kann das nicht bereuen. Das zu tun, war genau das Richtige – und das Einzige, was Bedeutung hatte. Ich habe es Harald einfach geschuldet.« Es knackte in den steifen Gliedern, als Anton aufstand. Er legte die Hände ins Kreuz, drückte die Schultern zurück und stöhnte. »So. Jetzt haben Sie ihren Willen bekommen.«
Er öffnete die Tür. Draußen ging ein Arzt vorbei.
»Aber Anton?«
Er blickte sie von der Türschwelle aus an. »Ja?«
»Hätten Sie es auch getan, wenn Sie gewusst hätten, dass Sie alles verlieren würden?«
»Jederzeit.«