Mittwoch, 20. November
Magnus stand in Bjørn Farsunds Wohnzimmer. Das Elternhaus von Cecilie Olins Ex-Freund stand am Ende einer Sackgasse in Rolvsøy. Bjørn Farsunds Mutter war eine kleine Frau mit freundlichen Augen und einem sanften, runden Gesicht. Sie blickte Magnus vom Sofa aus an, während er eine Wand mit zwei Dutzend eingerahmten Fotos in verschiedenen Größen betrachtete.
»Sind die alle von Bjørn?«, fragte Magnus.
»Ja. Ich habe nur ihn.«
»Und der Vater?«
»Den haben wir verloren, als Bjørn elf Monate alt war.«
Ein Schwarz-Weiß-Foto zeigte den neugeborenen Bjørn Farsund, der in eine Decke eingewickelt war. Auf einem anderen Foto stand er in derselben Straße, die draußen vor dem Fenster verlief, auf einem Schneewall und schaute grinsend in die Kamera.
»Er ist bestimmt jeden Moment zu Hause.« Ragnhild Farsunds Stimme war schwach. »Er sollte das Abendessen einkaufen, und für gewöhnlich essen wir gegen fünf.«
»Schon in Ordnung. Ich hab’s nicht eilig.«
In der Reihe der Fotos, die chronologisch angeordnet waren, folgten verschiedene Jahre aus der Kindheit, ehe schließlich ein munterer Teenager mit blonden Locken und selbstsicherem Lächeln zu sehen war. Auf dem Fußballplatz. Auf einem Moped sitzend. In Anzug, mit Sonnenbrille und der norwegischen Flagge in der Hand unter einem blauen Himmel.
»War er krank? Der Vater?«
»Autounfall. Bjørn und ich waren auch in dem Wagen, aber wir zwei hatten an dem Abend wohl so etwas wie einen Schutzengel.«
Obwohl Ragnhild Farsund ein ganzes Stück älter wirkte als seine eigene Mutter, und trotz der Tatsache, dass Bjørns Vater ihn und seine Mutter nicht freiwillig verlassen hatte, sondern gestorben war, ließ der Anblick der alten Frau Magnus an seine eigene Mutter denken. Es hatte niemals einen neuen Mann für sie gegeben, jedenfalls nicht soweit Magnus wusste, und er hatte keine Geschwister. Es hatte stets nur sie zwei gegeben, und obwohl er nicht mehr zu Hause lebte, war es in gewisser Weise immer noch so.
Ohne eigentlich zu wissen wieso, überkam ihn plötzlich ein Anflug von schlechtem Gewissen.
»Wie geht es Bjørn denn jetzt?«, fragte Magnus, während er wieder die Fotos betrachtete. Die Teenagerjahre gingen in die zwanziger über. Bjørn mit nacktem Oberkörper an einem Strand mit Palmen im Hintergrund. Mit weißer Hose, weißem Hemd und weißem Kittel, Stethoskop um den Hals, einem Blumenstrauß in der einen und einer Flasche Champagner in der anderen Hand vor dem Rikshospital. Auf dem letzten Foto posierte er neben einem weiß-orange gestrichenen Sea King Rettungshubschrauber, gekleidet in einen Jumpsuit und mit einem Helm unter dem Arm.
»Er war in den letzten Tagen schrecklich niedergeschlagen, ängstlich und bekümmert. Gestern Abend ist es natürlich noch schlimmer geworden, als bekannt wurde, dass draußen in Skjeberg eine tote Person aufgefunden wurde. Es konnten ja nicht viele andere als Cecilie sein, und als das heute früh bestätigt wurde, war er in gewisser Weise darauf vorbereitet, aber jetzt geht es ihm wirklich nicht gut.«
Magnus setzte sich Ragnhild Farsund gegenüber und legte die Dokumentenmappe auf den Tisch. Die ältere Frau war unsicher, worauf sie den Blick richten sollte. Magnus sah auf die Uhr. Zehn nach vier.
»Ich konnte kaum glauben, dass er Cecilie damals verprügelt hat«, sagte sie nach einer Weile. »Temperament hatte er immer schon, aber ich habe nie erlebt, dass er körperlich auf jemanden losgegangen ist, und um ehrlich zu sein, war ich mir sicher, dass ich ihn besser erzogen hätte. Während er auf den Beginn der Verhandlung wartete, habe ich ihn mehrmals gefragt, was denn eigentlich geschehen sei, aber er wollte nicht darüber reden. Erst als ich während des Prozesses die Fotos sah, die von Cecilie in der Notaufnahme gemacht worden waren, wurde mir klar, was er ihr angetan hatte.« Sie blickte Magnus an. »Aber eines kann ich Ihnen gleich sagen …« Ihr Gesicht war noch genauso sanft und ihre Stimme noch genauso dünn wie zuvor, als sie die Tür geöffnet und ihn durch den Spalt hindurch gemustert hatte. »Mit dem hier hat Bjørn nichts zu tun.«
»Er wird in keiner Weise verdächtigt.«
»Nein«, flüsterte sie beim Einatmen. »Er hat gesagt, dass das hier passieren würde.«
»Was denn?«
»Am Sonntagabend, als die Online-Zeitungen darüber schrieben, dass Cecilie vermisst werde, sagte Bjørn, er hoffe, dass Cecilie nichts zugestoßen sei, denn dann würden alle sofort mit dem Finger auf ihn zeigen.«
Das Geräusch eines Motors kam näher. Magnus sah hinaus. Ein Mercedes Vito kam die Sackgasse herunter. Ein Scheinwerfer war defekt. Der Kleintransporter fuhr auf das Grundstück und parkte dort.
Bjørn Farsund musterte im Vorbeigehen Magnus’ Porsche. Ragnhild Farsund tapste in die Küche, während ihr Sohn aus dem Blickfeld verschwand. Die Haustür wurde geöffnet, und einen Augenblick später stand der blonde Mann mit einer Einkaufstüte in jeder Hand an der Tür zum Wohnzimmer. Er musste den Dienstausweis bemerkt haben, der neben der Krawatte um Magnus’ Hals hing, denn er bewegte sich in Richtung Küche und sagte, er wolle nur eben die Lebensmittel abstellen. Sein Rücken verschwand hinter der Ecke. Magnus konnte hören, wie die Einkaufstüten auf der Arbeitsplatte landeten. Es klirrte. Bjørn Farsund sprach leise mit seiner Mutter. Er kam zurück und schloss die Küchentür hinter sich. Magnus stellte sich vor und begrüßte ihn mit Handschlag.
Bjørn Farsund war der Typ Mann, den die meisten Frauen, unabhängig vom Alter, als gut aussehend bezeichnet hätten. Schlank und athletisch. Der Bart so kurz, dass er wohl erst am Morgen oder am Abend zuvor gestutzt worden war. Er hatte die sanften Augen seiner Mutter, doch im Gegensatz zu ihr fiel es ihm schwer, den Blickkontakt mit Magnus aufrechtzuerhalten. Auf die Frage, wie es ihm gehe, erzählte Bjørn Farsund das Gleiche, was die Mutter gesagt hatte. Dass die letzten Tage schwer gewesen seien, und insbesondere der heutige, nachdem bekannt geworden war, dass es sich um Cecilie handelte, die man in Skjeberg gefunden hatte.
Unaufgefordert berichtete Bjørn Farsund, dass er ihr am späten Samstagabend begegnet sei.
»Wir hatten früher am Abend telefoniert. Sie sagte, sie wolle mit einer Freundin ausgehen, und … Da habe ich die Gelegenheit genutzt, sie zu treffen. Ich hatte sie nicht mehr gesehen seit … ja, seit sie mich im Gefängnis Halden besucht hat.«
»Sie hat Sie dort besucht?«
»Ja. Einmal.«
»Warum hat sie das getan?«
»Weil ich sie darum gebeten habe.«
Gebeten, dachte Magnus, nicht danach gefragt .
»Wann war das?«
»Vor ein paar Monaten.«
»Also, ein paar Monate nach dem, was passiert ist, springt sie ins Auto und fährt nach Halden, weil Sie sie darum gebeten haben?«
»Ich wollte sie um Entschuldigung bitten. Ihr zeigen, dass ich mich verändert habe.«
»Verändert? Inwiefern?«
»Ich …« Er räusperte sich. »Früher habe ich mich immer so schnell aufgeregt, aber nachdem ich in Behandlung war, ist es besser geworden.«
»Jemandem den Stinkefinger zu zeigen, wenn er einem die Vorfahrt nimmt, das bedeutet, sich schnell aufzuregen. Aber was Sie vor anderthalb Jahren mit Cecilie getan haben, ist was völlig anderes, Bjørn. Es war reines Glück, dass Sie an jenem Abend nicht zum Mörder geworden sind.«
»Dessen bin ich mir bewusst … Niemand verflucht diesen Abend mehr als ich selbst, aber so bin ich jetzt nicht mehr. Reden Sie mit Karen Thoen. Das ist die Psychiaterin, die ich im Gefängnis einmal pro Woche aufgesucht habe. Sie wird Ihnen erklären, dass es möglich ist, sich zu ändern.«
»Sie haben Cecilie in der letzten Woche mehrmals angerufen, haben jeden Tag versucht, an sie heranzukommen.« Magnus öffnete die Dokumentenmappe, zog einen Ausdruck von Cecilie Olins Teledaten heraus und schob das Papier über den Tisch. Dicht gedrängte Zeilen eines Computerausdrucks. Die Anrufe von Bjørn Farsunds Anschluss waren gelb markiert. »Doch ohne Erfolg. Bis auf Samstag. Da ist sie beide Male ans Telefon gegangen, als Sie versucht haben, sie zu erreichen. Erst am frühen Abend, und dann noch einmal später. Tatsächlich waren Sie der letzte eingehende Anruf auf ihrem Handy.« Magnus nahm ein weiteres Blatt aus der Mappe und legte es vor ihn hin. »Wir haben auch Ihre Teledaten abgerufen, Bjørn.«
Bjørn Farsund studierte die Zeilen, ohne eine Miene zu verziehen.
»Erzählen Sie mir von Samstagabend.«
»Ich war ganz spät noch im Zentrum.«
»Sie sind in der Stadt ausgegangen?«
»Nein. Aber ich war in der Stadt.«
»Um Cecilie zu treffen?«
»Nein, ich bin von einer Kneipe zur nächsten gezogen und habe mit ein paar Inhabern gesprochen.«
»Wieso das?«
»Sie dürfen gern raten.«
Magnus spürte ihn, den Hauch des Temperaments, von dessen Existenz die Mutter immer gewusst hatte, sich aber nicht im Mindesten vorstellen konnte, was zu bewirken es imstande war.
»Sie suchen einen Job?«
»Ja.«
»Dann werden Sie vermutlich der erste Barkeeper des Landes mit einer abgeschlossenen medizinischen Ausbildung sein. Da darf man aber ruhig höhere Ansprüche stellen, oder nicht? Die Kielfähre vielleicht? Eventuell Hurtigruten?«
Bjørn Farsund gab keine Antwort. Er fuhr sich mit einer Hand durch die blonden Locken und nagte auf seiner Unterlippe.
»Sie haben sich also nach einer Arbeit in der Gastronomie von Fredrikstad umgehört, während Sie gleichzeitig wussten, dass Cecilie in der Stadt ist. Laut Anrufverzeichnis haben Sie sie um sieben Minuten vor zwei nachts angerufen. Das Gespräch dauerte achtundzwanzig Sekunden. Haben Sie da verabredet, sich zu treffen?«
»Ja.«
»Wo?«
»An der Fußgängerbrücke nach Kråkerøy.«
»Wer hat den Ort vorgeschlagen?«
»Das war ich.«
»Und Cecilie war einverstanden?«
»Ich musste sie jedenfalls nicht lange überreden.«
»Wie lange waren sie dort zusammen?«
»Etwa eine Dreiviertelstunde.«
»Was haben Sie gemacht?«
»Geredet.«
»Worüber haben Sie gesprochen?«
»Über alles, was passiert ist.« Sein Blick suchte den Hofplatz vor dem Fenster. »Ich habe sie gefragt, ob sie mir noch eine Chance geben würde, und da hat sie gesagt, es gehe ihr gut mit ihrem Mann.«
»Wenn Sie darüber nachdenken«, sagte Magnus, »finden Sie es da seltsam, dass sie Ihnen keine weitere Chance geben wollte, angesichts dessen, dass Sie sie fast totgeschlagen haben?«
Bjørn Farsund gab keine Antwort.
»Waren Sie derjenige, der sie nach Hause gefahren hat?«
»Nein …« Bjørn Farsund schüttelte den Kopf. »Das war ich nicht.«
»Haben Sie es ihr denn angeboten?«
»Ja, aber sie meinte, dass das keine so gute Idee wäre.«
»Glauben Sie, sie hatte vielleicht Angst, dass Sie ihr etwas antun würden?«
Bjørn Farsund erwiderte Magnus’ Blick.
»Glauben Sie vielleicht, ich hätte sie täglich verprügelt?«
Magnus zuckte mit den Schultern. Bjørn Farsund schnaubte. Die Küchentür wurde geöffnet, und die Mutter kam herein, blickte aber nicht in ihre Richtung. Sie durchquerte den Raum und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf.
»Was ist passiert, nachdem Sie sich unterhalten haben? Wo haben Sie sich wieder getrennt?«
»Wo wir uns getroffen hatten. An der Fußgängerbrücke.«
»Hm.« Magnus blickte auf die Fotogalerie an der Wand und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Okay.«
»Was?«
»Ich finde das alles nur etwas eigenartig. Über eine Woche haben Sie versucht, sie zu erreichen, und dank der Tatsache, dass sie etwas alkoholisiert ist, gelingt es Ihnen schließlich, Kontakt aufzunehmen. Sie treffen sich, und sie schlägt Ihre Bitte nach einer neuen Chance höflich ab. Sie trennen sich. Dann kommt der Sonntag, und Sie versuchen nicht, sie anzurufen, schicken ihr nicht mal eine SMS . Weil Sie wussten, dass sie tot war?«
»Nein.«
»Also, warum haben Sie nicht noch mal einen Gang zugelegt?«
»Ich habe wohl begriffen, dass es hoffnungslos war.«
»Okay. Noch mal zurück zu Ihrer Trennung an der Fußgängerbrücke. Sie haben einander nicht einmal umarmt?«
»Doch, sie hat mich umarmt und gesagt, sie hoffe, dass sich die Dinge bald regeln.«
»Welche Dinge?«
»Arbeit. Wohnung … Ich habe ihr erzählt, dass ich bei meiner Mutter wohne.«
»Und was ist dann passiert?«
»Hab ich das nicht schon gesagt? Wir sind dann unserer Wege gegangen. Ich bin zum alten American Way hinübergegangen, wo ich den Wagen geparkt hatte.«
»In welche Richtung ist Cecilie gegangen?«
»Ich bin nicht stehen geblieben, um zu verfolgen, wohin sie ging.«
»Und dann sind Sie direkt nach Hause zu Ihrer Mutter gefahren?«
Bjørn Farsund senkte den Blick.
»Ja. Und dann bin ich ins Bett gegangen.«
»Kann das jemand bestätigen, oder war Ihre Frau Mama schon schlafen gegangen?«
»Sie hat geschlafen, ja.«
»Wann waren Sie denn zu Hause?«
»Ich hab nicht auf die Uhr gesehen, aber in etwa so viel später, wie die Fahrt vom Zentrum hierher eben dauert. Ich weiß, was Sie denken, und das ist nachvollziehbar, aber ich habe Cecilie nichts getan.«
»Nein? Das Gerichtsurteil sagt etwas anderes.«
»Ich habe kaum geschlafen, nachdem ich hörte, dass sie vermisst wurde.«
»Weil Sie sich um Cecilie Sorgen machten oder um sich selbst?«
Die Adern an Bjørns Schläfen traten deutlicher hervor. Sein Blick verhärtete sich wieder.
»Was glauben Sie? Wie heißen Sie noch mal? Torp?«
Magnus schob die Hand in die Innentasche, zog eine Visitenkarte hervor und legte sie auf den Tisch.
»Hier stehen mein voller Name und meine Telefonnummer.« Magnus stand auf. »Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, oder falls Sie es ernst meinen mit dem, was Sie gerade denken.«
»Und woran denke ich gerade?«
»Daran, Ihren Anwalt anzurufen und zu sagen, dass Sie sich von einem Polizisten namens Magnus Torp schlecht behandelt fühlen. Einem Polizisten, der – und das dürfen Sie gern hinzufügen – nicht einen Augenblick glaubt, dass Sie die Wahrheit sagen.«