Mittwoch, 20. November
Gleich gegenüber dem Schwesternzimmer hüpfte im runden Lichtkegel eines Scheinwerfers ein kleiner Vogel über das grünweiße Gras. Er war grau mit einem orangen Fleck auf der Brust. Anton beobachtete ihn. Der Vogel blieb stehen und blickte zu Boden.
»Ein Rotkehlchen«, sagte Didrik Ryde. Anton hatte gar nicht bemerkt, dass sein Kollege hereingekommen war und sich hinter ihn gestellt hatte. »Ein neugieriger kleiner Bursche, der sich zur Futterzeit in offenes Terrain hinauswagt. Ansonsten fühlt er sich in Büschen und Unterholz am wohlsten.«
»Nicht in den Bäumen oder in der Luft?«
»Doch ja, natürlich auch dort. Aber es ist sehr ungewöhnlich, ihn um diese Tageszeit zu sehen.«
Didrik Ryde ließ seinen Rucksack zu Boden fallen und stellte sich neben Anton. Er hielt einen großen Pappbecher mit Kaffee in der Hand. Vibeke – eine der Krankenschwestern – kam kurz herein und gab schnell etwas in den Computer ein. Dann verabschiedete sie sich und verschwand wieder nach draußen. Der Vogel hüpfte weiter.
»Er sieht ängstlich aus«, sagte Anton.
»Das ist er vermutlich auch.« Didrik Ryde hob den Kaffeebecher an. »Das Letzte, was er jetzt möchte, ist die Begegnung mit beispielsweise einem Sperber, wobei das wirklich der Gipfel der Ironie wäre.«
»Wovon redest du?«
Didrik Ryde blies vorsichtig auf seinen Kaffee.
»Wäre doch langweilig, als Mahlzeit zu enden, wenn man gerade unterwegs ist, um – nun ja – sein eigenes Essen zu beschaffen.«
»Sperber ernähren sich von Rotkehlchen?«
»Der Sperber ist prädestiniert für die Jagd nach kleinen Vögeln im Wald und in dichter Vegetation. Kurze Flügel und langer Schwanz. Ist ja nicht so, dass er unbedingt Rotkehlchen bevorzugt. Er nimmt das, was er kriegen kann.«
»Gott … Was du alles weißt, Didrik.« Anton trat vom Fenster weg und sah auf die Uhr am Rand des Bildschirms. 21:39. »Ist ja nicht gerade wenig.« Er nahm eine Handvoll von der Konfektmischung auf dem Tisch. »Und dann musst du noch deine Arbeit ertragen.« Anton grinste und musterte Didrik Ryde, der sich zu ihm umgedreht hatte. Von seinem Kaffeebecher stieg Dampf auf.
»Was meinst du damit?«
Anton packte ein Stück Marzipan aus, steckte es in den Mund und ließ das Papier in seine Tasche fallen.
»Wir haben hier vorhin gesessen und etwas gequatscht«, sagte Anton, während er kaute. »Vibeke hat erzählt, dass sie vor ein paar Jahren zusammen mit dir im St. Olavs in Trondheim gearbeitet hat. Ich wusste gar nicht, dass du dort mal einen Job hattest, und da meinte Vibeke, es gebe in diesem Land kaum eine Institution, in der du nicht gewesen bist.«
»Stimmt, ich habe schon an vielen Orten gearbeitet, aber das bedeutet ja nicht, dass ich gefeuert wurde. Ich liebe die Abwechslung. Neue Orte. Neue Menschen. Ich bin tatsächlich noch nie gekündigt worden.«
»Didrik. Das war ein Scherz.« Anton trat auf die Tür zu. »Angenehme Schicht.«
»Ich werde schnell rastlos«, rief Didrik ihm nach. »Und ich muss auf niemanden Rücksicht nehmen.«
»Ich auch nicht. Wir sehen uns.«
Anton ging an dem Wachmann vorbei, der auf seinem Stuhl saß und in einem Magazin blätterte. Ein Krankenpfleger kam mit einem leeren Pillenbehälter aus einem der Zimmer. Anton ging weiter, blieb vor der Tür zu Noras Zimmer stehen, klopfte an und öffnete sie. Nora lag auf dem Bett. Das Handy, das sie in den Händen hielt, warf einen weißblauen Lichtschimmer auf ihr Gesicht.
»Ich dachte, Sie wären schon eingeschlafen«, sagte Anton leise von der Tür her. »In der letzten Stunde hat man gar nichts von Ihnen gehört.«
»Ich wollte niemanden nerven.«
Ihre Daumen bewegten sich schnell über den Handybildschirm.
»Sie haben überhaupt nicht genervt. Was machen Sie da, zocken?«
»Ich texte mit meinem kleinen Bruder.«
»Sind Sie gar nicht müde?«
»Nein.«
»Dann sage ich wohl besser Bescheid, dass Sie was zum Einschlafen bekommen sollten.«
»Danke, nein«, erwiderte Nora mürrisch. »Ich will nichts haben.«
Sie hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie vor über 24 Stunden, als sie auf die Station gebracht worden war. Das freundliche Gesicht, das Anton früher am Tag in der Eingangshalle angelächelt hatte, war verschwunden. Er trat ins Zimmer und schloss die Tür. Nora ließ das Handy auf ihre Brust sinken und schaltete die Nachttischlampe ein. Anton setzte sich zu ihren Füßen auf die Bettkante.
»Geht’s nicht so gut heute Abend?«
Er klopfte leicht auf die Bettdecke über ihrem Bein. Nora schüttelte den Kopf. Ihre Augen waren von Tränen gerötet.
»Kann ich noch irgendwas für Sie tun, bevor ich zum Bus rennen muss?«
»Ich dachte, Sie hassen es zu rennen.«
Anton überprüfte die Zeit auf seinem Handy. 21:41.
»Bald hab ich wohl keine andere Wahl.« Er legte die Hand auf einen ihrer Verbände. »Ich wollte nur Tschüss sagen, weil ich nämlich erst in vierzehn Tagen wieder zur Arbeit komme, und dann sind Sie ja hoffentlich schon wieder entlassen.«
»Vierzehn Tage?«, rief sie erstaunt. »Wohin fahren Sie?«
»Ich fahre heute Abend nach Göteborg.«
Sie setzte sich auf.
»Kann ich mitkommen? Biiiiittteeee!«
»Das geht nicht.«
»Wir könnten fragen. Wie heute Nachmittag, nur dass wir dann etwas weiter fahren als mit dem Fahrstuhl in die Eingangshalle. Bitte! Ich schwöre auch, dass ich keinen Unsinn mache. Sie werden nicht mal merken, dass ich da bin. Ich verspreche es, ich bin nämlich gut darin, mich unsichtbar zu machen.«
Anton lächelte sie traurig an.
»Mit wem soll ich mich sonst unterhalten?«, fragte sie verzweifelt.
»Die anderen bleiben doch hier. Vibeke, Habiba, Jeanette, Didrik, Kri…«
»Didrik«, schnaubte sie. »Er ist unerträglich.«
»Was? Didrik ist unerträglich?«
»Ja.« Sie tat so, als müsste sie sich übergeben. »Un-er-träg-lich!«
»Jetzt hören Sie schon auf«, sagte Anton und lachte. »Didrik ist doch ganz nett.«
Er schob eine Hand in die Tasche und fischte drei Schokoriegel heraus, die er auf den Nachttisch legte.
»Ich werde Sie also gar nicht mehr sehen«, sagte sie und fuhr sich mit der Hand über die Wange.
»Wenn ich zurückkomme, bevor Sie entlassen werden, dann komme ich Sie besuchen.«
»Und wenn ich nicht hier bin?«
»Dann werde ich Sie schon finden. Vergessen Sie nicht, dass ich ein alter Schnüffler bin.« Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Das Radargerät hier funktioniert noch.« Er schenkte ihr ein Lächeln, das aber nicht erwidert wurde. »Soll ich die Vorhänge zuziehen?«
»Nein.«
»Ich hoffe, Sie können heute Nacht etwas schlafen.« Anton schickte sich zum Gehen an. »Wir begegnen uns schon noch, Nora.«
»Anton?«
»Ja?«
»Bekomme ich eine Umarmung?«
Nora war aus dem Bett gestiegen und kam auf Anton zu. Sie legte ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Anton streichelte ihren Rücken, spürte, wie ein paar Tränen von Noras Wangen auf seinen Hals tropften, während er auf die weißen Schneeflocken hinausblickte, die von den Scheinwerfern gelb gefärbt wurden. Eine Bewegung am Boden draußen vor dem Fenster erregte seine Aufmerksamkeit. Da war er wieder. Der Vogel mit dem orangenen Fleck auf der Brust. Er kam näher, hielt inne und starrte Anton unverwandt an. Dann zuckte sein Kopf in verschiedene Richtungen. Als ob er überall Bedrohungen ahnte.