Mittwoch, 20. November
Die Luft in dem kleinen, fensterlosen Videoraum war abgestanden.
Cathrine Mathisen und die andere Analystin starrten auf ihre Laptops. Magnus saß weiter hinten und hatte den Blick auf den Großbildschirm gerichtet, der zwischen den beiden hing. Er war in der Mitte geteilt und spiegelte, was die Analystinnen jeweils sahen. Auf der linken Seite erschien ein Clip, der von der anderen Straßenseite am Taxistand bei Aarumsgården stammte. Er war schwarz-weiß, die Uhr in der Ecke verriet, dass die Aufnahme um 02:41 Uhr erfolgt war. Sie zeigte einen Mann und eine Frau, die nördlich an der Warteschlange vorbeiliefen und aus dem Bild verschwanden. Die Frau trug einen Rock und eine Jacke mit Pelzbesatz an der Kapuze. Das Gleiche, was Cecilie Olin angehabt hatte. Der Mann trug eine dicke Winterjacke und ein Basecap.
»Stopp«, sagte Magnus und rutschte auf seinem Stuhl etwas vor. »Kannst du noch mal zurückgehen und heranzoomen, Mathisen?«
Der Ausschnitt wurde schnell zurückgespult. Der Mann und die Frau gingen im Rückwärtsgang an der Taxischlange vorbei. Cathrine Mathisen hielt die Aufnahme an, markierte auf dem Bildschirm einen Bereich und vergrößerte ihn.
»Ist sie das nicht?«
Magnus hörte den hoffnungsvollen Optimismus in seiner Stimme. Nicht nur, weil der Mann neben ihr vermutlich Bjørn Farsund war und die Aufnahme nicht mit der Behauptung übereinstimmte, dass sie sich an der Fußgängerbrücke getrennt hätten, sondern auch, weil es siebzehn Stunden her war, dass er seine eigene Wohnung in der Agentgate verlassen hatte, und er sehnte sich nach etwas Ruhe.
»Schwer zu sagen …«, meinte Cathrine Mathisen und spähte auf die Aufnahme. »Ich kann versuchen, das Bild noch größer zu machen, aber die Auflösung ist ziemlich schlecht – mehr Pixel sind es leider nicht geworden.«
Abermals zoomte sie näher heran. Die beiden Gesichter füllten die eine Hälfte des großen Bildschirms. Die Aufnahme war körnig. Die Frau schien zu lächeln, während der Mund des Mannes, der als einziges unter dem Mützenschirm zu erkennen war, einem geraden Strich ähnelte.
»Ich finde, dass die Frau etwas kräftiger aussieht«, meinte die andere Analystin.
»Nein, das ist sie nicht«, sagte Cathrine Mathisen. »Das ist nicht Cecilie.«
Das Bild war unscharf, aber dennoch klar genug, damit auch Magnus sehen konnte, dass es sich nicht um Cecilie Olin handelte. Er seufzte. Neue Clips von verschiedenen Straßen in der Innenstadt folgten. Die meisten davon in Farbe. Menschen, die in Gruppen vorübergingen oder allein mit einem Imbiss in der Hand umherschlenderten. Eine Viertelstunde verging. Dann zwei weitere. Auf dem Bildschirm zwischen den beiden Analystinnen erschien eine weitere Videoaufnahme. Sie stammte aus dem Inneren eines 7-Eleven-Kiosks am Stortorv, von einer Kamera an der Decke über der Kasse. Sie zeigte einen Bereich des Tresens sowie die doppelte automatische Eingangstür zur Farmannsgate und dem Taxistand. Der Verkäufer nahm Geld entgegen und reichte einem jungen Mann ein Pizzastück, der daraufhin auf unsicheren Beinen aus dem Kamerawinkel verschwand, während er versuchte, das Essen zum Mund zu führen.
Ein Mann in den dreißigern trat an die Theke. Er sagte etwas zu dem Verkäufer, der auf die Farmannsgate hinauszeigte und etwas erklärte. Der Mann schien »Danke« zu sagen, ehe er auf den Ausgang zusteuerte. Als die Türen aufglitten, um den jungen Mann hinauszulassen, trat eine Gestalt von links in den Bereich vor dem Laden. Es war eine Frau mit langen dunklen Haaren, in einem Rock und einer dicken Jacke mit Pelz an der Kapuze. Der Mann, der nach dem Weg gefragt hatte, lief direkt auf die Taxischlange zu, die hinten im Bild gerade noch zu erkennen war. Die Frau blieb mit dem Rücken zur Tür vor dem Kiosk stehen.
»Noch ’ne Kapuze mit Pelz«, sagte Cathrine Mathisen. »Und ein Rock.«
Die andere Analystin schob ihren Stuhl ein wenig zurück und blickte auf den Bildschirm. Die Frau in dem Film drehte sich um und starrte durch die offene Tür in den Kiosk. Cathrine Mathisen fror das Bild ein und zoomte heran.
»Sieht sie nicht etwas asiatisch aus?«, fragte Magnus.
Cathrine Mathisen verschob den Fokus auf den unteren Teil des Bildes. Die bestrumpften Füße der Frau glitten über den Bildschirm, und die Aufnahme stoppte bei den schwarzen Stiefeletten, die sie trug.
»Auch noch die gleichen Stiefeletten?« Cathrine Mathisen zoomte zurück. »Da ist ja alles gleich?!«
»Alles, abgesehen vom Aussehen«, sagte die Kollegin und widmete sich wieder ihrem Laptop. »Du kannst ruhig nach Hause fahren, Torp. Cathrine und ich sitzen hier noch eine Weile.«
Die Uhr zeigte Viertel nach elf. Mit einem Stöhnen erhob Magnus sich und sagte: »Ich war so blöd und hab mir selbst versprochen, heute noch zu trainieren, egal wie spät es wird.«
»Gute Besserung«, wünschte Cathrine Mathisen und stieß ein trockenes Lachen aus.
Ohne noch etwas zu sagen, ging Magnus aus dem Raum. Im Gang herrschte dieselbe Stille wie bei Mogens Poulsen in der Pathologie des Rikshospital. Magnus sah Cecilie Olin vor sich auf dem Stahltisch liegen. Ihren zerschundenen Körper. Die Vertiefung in der Brust. Den Arm und den Fuß, die gebrochen waren und in unnatürlichem Winkel abstanden. Er drückte auf den Aufzugknopf. Ein Pling ertönte, und die Türen glitten auf. Magnus ging hinein und drückte auf Erdgeschoss, während er im Spiegel seine blutunterlaufenen Augen registrierte.
Als er im Auto saß, schaltete er die Scheibenwischer ein und ließ sie den Schnee wegfegen. Der Wagen lief zwei Minuten im Leerlauf, ehe Magnus auf die E6 fuhr. Er dachte an Anton, der jetzt vermutlich in Göteborg an einem Pokertisch saß und sich entweder in Ekstase oder in Lethargie befand. Himmel oder Hölle. Während er bei Alvim die E6 verließ, zog Magnus sein Handy aus der Tasche. Er scrollte zu Antons Nummer und tippte auf die grüne Taste. Eine halbe Minute ließ er es klingeln, bevor er die Verbindung abbrach. Mit einer Hand am Steuer navigierte er sich in sein SMS -Menü und wollte Anton schon eine Nachricht schicken, besann sich aber anders. Anton musste selbst entscheiden, wann er mit ihm sprechen wollte. Und auch, ob überhaupt. Jetzt würde Magnus nicht mehr versuchen, ihn noch einmal zu erreichen.
Seit Antons Weggang von der Kripo waren vierzehn Monate vergangen, doch nach dem Besuch im Krankenhaus hatte Magnus begriffen, dass es weitere vierzehn Monate dauern könnte, bis er wieder von Anton hörte. Denn er hatte es deutlich gesehen. Noch gestern war es ihm nicht so offensichtlich erschienen, doch heute war es ihm klar geworden: Anton wollte keinen Kontakt.
Magnus bog auf die Landstraße 109 ab. Er ließ sein Handy auf den Beifahrersitz fallen und passierte das Einkaufszentrum Borg. Ein Traktor mit angehobener Schneefräse stand an einer Bushaltestelle. Magnus blickte auf die Uhr am Armaturenbrett. Der erste Tag der neuen Ermittlung war vorüber.