Donnerstag, 21. November
Das Einzige, was Anton an Schnee gefiel, war, dass es dadurch niemals ganz dunkel wurde.
Die ersten Nachtstunden waren bereits vorüber, als er den Hauptbahnhof von Göteborg verließ und den Drottningstorg mit langen Schritten überquerte. Ein kalter Wind wehte um die alten Backsteingebäude und brannte auf Antons Wangen. Er zitterte und ärgerte sich darüber, dass er den Schal nicht mitgenommen hatte. Auf den knapp 200 Metern, die er zurückgelegt hatte, war es dem Schnee bereits gelungen, sich auf seinem Mantel niederzulassen. Er fegte ihn weg, warf sich die Tasche über die Schulter und ging mit schnellen Schritten in westliche Richtung weiter.
Für den folgenden Tag hatte Anton schon einen Plan. Bis das Casino Cosmopol um 16:00 Uhr öffnete, würde er schon ein spätes Frühstück, ein noch späteres Mittagessen und eine Joggingrunde hinter sich gebracht haben. Ob Letzteres im Trainingsraum des Hotels oder auf den Straßen stattfinden würde, auf denen er sich gerade bewegte, sollte die Wetterlage entscheiden. Es war auch gar nicht so, dass er über Nacht Freude daran gefunden hatte zu joggen, doch wenn er sein Ziel, aus den zwanzigtausend Kronen, die er in der Innentasche dabeihatte, hunderttausend zu machen, erreichen wollte, musste er klar im Kopf sein. Und eine ausgiebige Joggingrunde würde genau das bewirken. Und er würde nicht daran denken, dass er bald zurück in die Notaufnahme müsste, oder daran, dass vor wenigen Stunden ein weiterer Anruf von Magnus auf der Mailbox gelandet war. Nur an die Zahlen würde er denken, an die Gewinnchancen, die entscheiden würden, ob er Jetons dazubekäme oder nicht. Fokus, dachte Anton. Nur darauf kam es an.
Und jetzt war er allein hier, brauchte auf keine Kumpel Rücksicht zu nehmen. Er müsste den Pokertisch nicht verlassen, weil er verabredet hatte, drüben in Jensens Steakhaus zu Abend zu essen. Es sollte gespielt werden. Und nur das.
Hunderttausend. Wenn alles stimmte, müssten hunderttausend im Laufe von ein paar Tagen machbar sein. Und wenn alles perfekt lief, wäre das auch in ein paar Stunden möglich, doch nein, diesen Gedanken ließ er gleich wieder fallen. Ein Blatt nach dem anderen. Er würde keine Strategie planen, ehe er die Stimmung bei den anderen Spielern nicht ausgelotet hätte.
Er passierte den Gustaf Adolfs Torg. Mit Ausnahme eines Streifenwagens, der im Leerlauf vor sich hin brummte, war er menschenleer. Anton ging am Kanal die Norra Hamngata entlang. Am Berufungsgericht für Westschweden hielt er inne. Hinter den fetten weichen Schneeflocken konnte er das Comfort Hotel Göteborg ausmachen. Es lag nicht mehr als hundert Meter entfernt, gleich auf der anderen Seite der Kanalbrücke. Er überprüfte die Uhrzeit auf dem Handy. Es war spät. Der Plan hatte gelautet, direkt ins Hotel zu gehen und sich hinzulegen, damit er für die Joggingtour und den Rest des kommenden Tages ausgeruht wäre. Anton warf einen weiteren Blick auf die Uhr. Dann setzte er sich wieder in Bewegung, doch anstatt die Kanalbrücke zu überqueren, ging er in die entgegengesetzte Richtung, auf das alte dreistöckige Backsteingemäuer zu, das ganz unten am Ufer lag.
Eine knappe Minute später hatte er das Sicherheitspersonal am Eingang des Casino Cosmopol bereits passiert. Er gab Tasche und Jacke an der Garderobe ab, kam an einem weiteren Wachmann vorbei und betrat den Spielsaal. Menschen standen um verschiedene Tische herum. Black Jack. Ultimate Texas Hold’em. Baccarat. Roulette. Mit langsamen Schritten durchquerte er den Saal und lauschte der Kakophonie aus Mischmaschinen, menschlichen Stimmen, kreischenden Pieptönen und klingelnden Spielautomaten. Er registrierte den Geruch verschiedener Parfüms, sah, wie der blonde Pferdeschwanz einer Kellnerin hin und her wippte, während sie mit einem Tablett voller Getränke vorbeieilte. Sie servierte den sechs Asiaten, die vor ihren Spielautomaten hockten, je einen Drink, ehe sie mit zielgerichteten Schritten wieder zurücklief. Anton ging in Richtung des Schildes, das ihm vom anderen Ende des Casinos entgegenleuchtete: POKER .
In der Pokerabteilung waren keine Spieler, nur ein magerer Mann, der an einem der Tische saß und die vor sich liegenden Jetons ordnete. Er trug eine schwarze und burgunderrote Dealer-Uniform. Auf die Frage, ob an diesem Abend keine Spiele stattfänden, bekam Anton zu hören, dass der letzte Tisch das Spiel vor fünfzehn Minuten beendet habe und dass auch keine weitere Runde eröffnet werde, da das Casino in einer knappen halben Stunde schloss.
Natürlich, dachte Anton, der Gegenwind blies ihm schon ins Gesicht, ehe er auch nur eine einzige Karte in der Hand hielt. Er verließ die Pokerabteilung und tastete nach dem Geldbündel in seiner Tasche. Das Vernünftigste wäre, direkt ins Hotel zu gehen. Aber jetzt war er nun einmal hier. Er trat an den Roulette-Tisch. Dort standen zwei Frauen und drei Männer. Der Croupier hieß ihn willkommen. Anton nahm das Geld aus der Tasche, blätterte 3000 Kronen auf den Tisch und wechselte sie in Jetons ein. Die anderen Spieler legten ihre Einsätze auf den grünen Filz. Der Croupier setzte das Roulette-Rad in Bewegung. Anton spähte über den Tisch. Er hatte kein Bauchgefühl, keine Stimme im Kopf, die gerade, ungerade, 1 – 16 oder 19 – 36 sagte. Der Croupier ließ die Elfenbeinkugel auf den Rand des sich drehenden Rads fallen. Verdammt. Nichts fühlte sich richtiger oder besser als etwas anderes an. Anton setzte 250 Kronen auf Schwarz. Die Kugel kreiste.
»Nichts geht mehr«, sagte der Croupier mit monotoner Stimme.
Anton folgte dem Beispiel der anderen Spieler: Er beobachtete die Kugel, die über den Rand des Spielrads hüpfte, um erst auf 6 – Schwarz, dann auf 4 – Schwarz und 0 – Grün zu landen, ehe sie bei 3 – Rot zur Ruhe kam. Natürlich bei Rot, dachte Anton. Was bildete er sich ein? Dass sich die Richtung des Lebens änderte, nur weil er sich 200 Kilometer weiter nach Süden begeben hatte?
Der Croupier zahlte den Gewinnern des Spiels die entsprechenden Summen aus. Neues Spiel. Arme und Hände, die über den Tisch fegten. Die Einsätze wurden getätigt. Anton setzte Jetons im Gegenwert von 500 Kronen auf dasselbe Feld wie zuvor. Ein älterer Mann sagte, die Kugel sei zum achten Mal hintereinander auf Rot gelandet und werde es wohl kaum ein neuntes Mal tun.
Der ältere Mann irrte sich. 30 – Rot. Der Alte seufzte.
Plötzlich war es da. Das Bauchgefühl, das Schwarz sagte. Abermals bewegten sich einige Hände über den Tisch, während Anton auf seine Jetons blickte, die 2 250 Kronen wert waren. Er war schon siebenhundertfünfzig im Minus. Sollte er den Einsatz auf tausend erhöhen oder gleich alles setzen? Denn jetzt würde Schwarz kommen.
Er setzte tausendzweihundertfünfzig auf Schwarz. Der Croupier warf die Kugel in den Kessel. Anton schloss die Augen, schwang den Arm in einer kreisenden Bewegung und klatschte die letzten tausend blindlings auf den Tisch. In erster Linie, um es zu Ende zu bringen, sodass er ins Hotel gehen, sich ausruhen und auf den folgenden Tag vorbereiten könnte. Er ließ die Jetons los. Sie lagen auf der 29, die ebenfalls schwarz war.
»Nichts geht mehr.«
Vor einigen Jahren hatte er erlebt, dass die Kugel elfmal hintereinander auf Rot landete, aber das war nur dieses eine Mal vorgekommen. Bis jetzt war sie neunmal hintereinander bei Rot hängen geblieben. Ein zehntes Mal würde es nicht geben. Nein, es würde Schwarz sein. Es sollte Schwarz sein. Es musste Schwarz sein. Würde es abermals Rot sein, könnte er genauso gut zurück zum Hauptbahnhof gehen, sich auf eine Bank legen und morgen in aller Frühe den ersten Zug zurück nach Fredrikstad nehmen, denn dann hatte er hier nichts mehr zu suchen.
Nachdem die Kugel gelandet war, bremste der Croupier das Roulette-Rad behutsam mit zwei Fingern ab. Anton hatte nur registriert, dass sie auf Schwarz gefallen war. Erst als das Rad fast zum Stillstand kam, sah Anton, dass die Kugel auf der 29 ruhte. Der Croupier gratulierte Anton und reichte ihm den Gewinn: 38 500 Kronen.
Anton nahm die Jetons und dachte, dass es besser wäre, wenn er jetzt ginge. Nicht nur weg vom Roulette-Tisch, sondern raus aus dem Casino. Die anderen Spieler platzierten ihre Einsätze. Anton blickte nicht auf die Hände, die sich über dem Filztuch hin- und herbewegten, sondern auf die Gesichter und die hoffnungsvoll strahlenden Augen. Jeder einzelne von ihnen hatte bereits entschieden, welche Farbe oder welche Nummer es werden sollte. Es war der verzweifelte Wunsch, die richtige Wahl zu treffen. Wenn auch nur ein einziges Mal. Genauso musste er selbst auch aussehen. Er beschloss zu gehen. Dieses eine Mal würde er vernünftig sein. Das hier war ein Bonus, und zur Abwechslung würde er ihn nicht anrühren.
Doch andererseits war es genau das: ein Bonus. Erst vor einer halben Minute war er darauf vorbereitet gewesen, die ersten dreitausend als Verlust abzuschreiben. Jetzt stand er da, mit fast vierzigtausend im Plus.
Er setzte alle Jetons auf Schwarz. Die anderen Spieler taten das Gleiche. Anton änderte seine Meinung. Er schob seine Jetons auf das rote Feld. Denn jetzt würde die Kugel bei Rot landen. Nicht bei Schwarz. Bei Rot. Die fünf anderen folgten ihm wie einem Sektenführer und verschoben ihre Jetons.
»Nichts geht mehr.«
Der Croupier schickte die Kugel los.
»Rot!«, rief Anton, während er den weißen Punkt auf dem Rand des Mahagonirads verfolgte. »Rot, verflucht!«
Es klapperte. Er schloss die Augen, ballte die Fäuste. Mehrere Spieler am Tisch stöhnten auf. Jemand klopfte ihm auf die Schulter.
Anton spürte die Endorphine hinter seiner Stirn tanzen, als er Tasche und Jacke von der Garderobe holte und in den schmutzigen Schneematsch auf dem Gehsteig vor dem Casino Cosmopol trat.
Es war nicht so, dass die knapp achtzigtausend, die er gerade gewonnen hatte, sein Leben veränderten und ihn glücklich machten. Nicht aus diesem Grund spazierte er mit einem derart breiten Grinsen, dass andere ihn für geistesschwach halten mussten, über die Kanalbrücke und auf das Hotel zu. Und ebenso wenig weil er sich keine Sorgen mehr darum machte, dass morgen die Haie am Spieltisch Blut riechen und ihn einkreisen würden, als wäre er ein angeschossenes Tier.
Er grinste, weil sich endlich alles gewendet hatte.