Kapitel 19

Volda, 1999, Tag 39

Als er Rebekka um sieben Uhr begegnet war, hatte er ihr einen Kuss gegeben und sie lange umarmt. Wie erwartet sträubte sie sich ein wenig, versuchte, sich ganz diskret herauszuwinden, sodass er es gar nicht merken sollte, und er ließ sie in dem Glauben, dass es ihr gelungen war, ihn zu täuschen. Das war schon in Ordnung. Wie er wusste, hatte sie Angst davor, dass jemand sie sehen könnte. Und genau deswegen hatte er es getan. Er wollte, dass jemand sie sah. Jemand von der Hochschule, damit es gleich weitergetratscht würde. Eine Klatschgeschichte, die diese Kakerlake von Trine noch vor Ablauf einer Viertelstunde erreichen würde, sodass sie sich gleich ans Telefon hängen und ihrer Mutter erzählen könnte, dass Rebekka mitten im Zentrum von Volda gestanden und einen fremden Mann geküsst hatte. Und wenn die Lieblingsnichte – die ansonsten niemals etwas Falsches sagte oder tat – zu so etwas in der Lage war, so war nicht auszuschließen, dass sie sogar Sex mit diesem Mann hatte. Diese drei Buchstaben, aus denen das fast verbotene Wort bestand, jedenfalls die verbotene Handlung, würden Rebekkas Eltern vermutlich veranlassen, im Tiefflug über das Gebirge zu kommen und ihr kleines Mädchen an den Ohren zurück nach Mandal zu zerren, auch wenn sie schlichtweg kein kleines Mädchen mehr war, sondern eine junge prächtige Frau. Auch dieses Szenario hatte er vor sich gesehen. Eine Konfrontation. Aber er glaubte nicht, dass es dazu kommen würde. Dass sie nach Volda kämen? Doch, das war nicht ausgeschlossen, aber zu einem großen Gezeter würde es kaum kommen. Sie würden ihn bestimmt mögen. Dessen war er sich sicher.

Die Dämmerung hatte eingesetzt, als sie auf dem Andanesveg das Zentrum hinter sich ließen.

»Bald ist sie verschwunden«, sagte Rebekka mit Blick auf die Sonne, die sich hinter den dunklen Hügelkämmen im Westen dem Horizont näherte. Sie blieb stehen. »Jetzt sind wir ein ganzes Stück gegangen. Wollen wir vielleicht umdrehen?«

»Noch nicht.«

Sie hatte beide Hände in die Taschen gesteckt.

»Frierst du?«, fragte er.

»Aber nein.«

Er streckte seine Hand aus, aber sie wollte sie nicht ergreifen. Stattdessen zog sie die Schultern bis zu den Ohren hoch, als ob ihr nun doch plötzlich kalt geworden wäre.

»Na ja, es ist ja auch nicht gerade warm.«

»Komm.«

Er ging weiter. Rebekka blieb stehen. Nach ein paar Metern hielt er inne und sah sie an. Am liebsten wollte er, dass sie sich liebten, gleich hier am Straßenrand. Dass sie den Körper des anderen wärmten, während sie sich gegenseitig versicherten, dass sie einander liebten. Jetzt dachte er, dass er genauso gut einen Verlobungsring hätte kaufen können, so sicher war er sich der Liebe, die er für sie empfand. Gleichzeitig war es – eben wegen ihrer Eltern – taktisch klug, schrittweise vorzugehen. Das Letzte, was er wollte, war, zu aufdringlich zu sein und etwas zu tun, wodurch sie sich unter Druck gesetzt fühlte.

»Jetzt komm schon weiter«, sagte er und grinste.

»Wohin gehen wir überhaupt?«

»Das ist eine Überraschung.«

Sie sah ihn fragend an.

»Ach, komm«, sagte er mit Betonung auf dem O. »Danach können wir zurückgehen.« Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Meine Schöne, kommst du? Wir sind in spätestens fünf Minuten da.«

Sie seufzte und folgte ihm.

Es dauerte nicht einmal drei Minuten, bis hinter der Leitplanke eine Bank auftauchte. Sie stand an der Spitze eines Hügels, der sich steil zum Meer hinunterzog. Ein Fischerboot fuhr mit stampfendem Motor in Richtung Hafen.

Er stieg über die Leitplanke, setzte sich und klopfte mit der Hand auf die Bank. Rebekka blickte den steilen Hang hinab.

»Geht ja ziemlich weit runter«, sagte sie.

Abermals klopfte er mit der Hand auf das Holz. Auf ihrem Gesicht erschien plötzlich ein skeptischer Ausdruck, dann sagte sie: »Sag bloß nicht, das ist die Ja-Bank

»Du hast schon davon gehört?«

»Die Freundin von einer, mit der Trine rumhängt, ist hier gefragt worden.«

»Wie schön.« Er sah zu den Berggipfeln auf der anderen Fjordseite hinüber. Die Sonne war jetzt völlig dahinter versunken.

»Willst du dich nicht setzen?«

Sie starrte auf das Wasser hinunter und beobachtete das Fischerboot, während sie sich einen halben Meter von ihm entfernt auf die Bank setzte. Er rutschte näher an sie heran, legte den Arm um ihre Schultern und küsste sie sanft. Erst auf die Wange, dann auf den Hals. Er merkte, dass sie leicht erstarrte, aber sie sagte nichts.

»Alles in Ordnung?«, fragte er. »Frierst du auch wirklich nicht?« Sie sah ihn an, atmete tief durch die Nase ein und hob den Blick. Das Fischerboot verschwand aus dem Blickfeld.

»Schön hier«, sagte sie und spähte auf das Meer hinaus, das langsam dunkler wurde.

Er fragte, wie ihr Tag verlaufen sei, und sie fing an zu erzählen. Nicht über sich selbst, sondern darüber, was Trine während des Aufenthalts zu Hause in Mandal plante. Er hätte lieber gesagt, dass es ihn nicht sonderlich interessierte, was diese dumme Kuh in Mandal vorhatte, hörte stattdessen aber zu und nickte.

»Klingt so, als ob sie ein volles Programm hat.« Mit den Fingern strich er über den Stoff ihres Ärmels, reckte den Hals und spähte den Abhang hinunter. »Wollen wir schwimmen gehen?«

»Im September?«, brach es aus ihr hervor. »Nicht mal, wenn es um Leben und Tod ginge.«

»Nicht?«

»Nein.«

»Ich würde dich morgen auch gern sehen«, sagte er. »Willst du zum Essen kommen?«

Rebekka sagte nichts, starrte nur … Er sah hinaus auf den Fjord, wollte wissen, worauf sie eigentlich blickte. Es gab dort unten nichts als Wasser und ein paar schwache Lichter von der Fähre, die auf der anderen Seite in Folkestad am Kai lag.

»Ich dachte, ich grille dir ein paar Königskrabben«, fuhr er fort. »Hast du die schon mal probiert?«

»Ja.«

Er legte ihr die Hand in den Nacken, schob sie vorbei am Jackenkragen und unter ihren Wollpullover. Er legte sie ganz oben auf ihre Brust und streichelte sie. Sie regte sich leicht, als ob sie wollte, dass er die Hand wegnahm.

»Hab ich kalte Hände?«

»Vielleicht ein bisschen?«

Er zog die Hand zurück und umfasste stattdessen ihren Oberarm, während die Finger seiner linken Hand in die Hosentasche glitten und das harte, eingepackte Etui ertasteten.

»Und, möchtest du zum Essen kommen?«

Ein Wagen fuhr vorbei und tauchte sie für einen Augenblick in Flutlicht. Rebekka hatte den Kopf schräg zur Seite gelegt und starrte weiterhin ziellos in die Ferne.

»Hallo?«, sagte er laut, als der Motorenlärm in der Ferne verebbte.

Sie zuckte zusammen.

»Hm? Ich weiß nicht.«

»Du weißt nicht?«

»Morgen ist Quiz im Grünen Baum , und ich wollte mit zweien aus dem Kurs dorthin.«

»Wann denn?«

»Es beginnt um sechs, aber wir treffen uns um fünf.«

»Ah, ja. Aber ihr seid doch bestimmt bis neun Uhr fertig, glaubst du nicht?«

»Doch … das sind wir bestimmt. Ist das denn nicht zu spät?«

»Aber nein. Ich möchte dich bloß sehen.«

»Du, äh … Ich dachte …« Für einen Moment blickte sie umher, starrte auf die Kante des Abhangs, die nur einen Meter vor ihnen lag. »Ich werde doch drei Jahre hier sein, stimmt’s?«

»Ja?«

»Du aber nicht. Du hast ja gesagt, dass du nur für einen kurzen Zeitraum hier sein wirst.«

»Hab ich das gesagt?«

»Ja. Das hast du gesagt, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Dass das für dich nur vorübergehend sei. Sehr vorübergehend, hast du gesagt.«

Er erinnerte sich, dass er das sehr deutlich betont hatte. Aber nicht, um sie zu verschrecken. Ganz im Gegenteil. Er hatte es gesagt, um ihr zu verstehen zu geben, dass er Ambitionen hatte. Dass er nicht vorhatte, in Volda alt zu werden und zu sterben. Dass er ihr – nach einer Weile – mehr anbieten könnte als ein schäbiges möbliertes Zimmer. Und allzu lange sollte das auch gar nicht dauern.

»Dann bin ich dir begegnet«, sagte er sanft.

»Ja. Aber d…«

Er legte seinen Zeigefinger auf Rebekkas Lippen. Dann fischte er das Geschenk aus der Tasche und legte es ihr auf den Oberschenkel. Ihre Augen wurden riesengroß. Als ob sie erschrocken wäre.

»Bleib ganz ruhig«, sagte er grinsend. »Ich gehe nicht runter auf die Knie. Mach auf.«

»Du …«

»Na, mach schon auf.«

Behutsam stieß er sie mit dem Ellbogen an. Rebekka packte aus und knüllte das Papier zusammen. Er nahm es ihr aus der Hand und steckte es in die Hosentasche. Sie ließ den Blick zwischen ihm und dem Etui hin- und herwandern. Dann klappte sie den Deckel auf.

»Du meine Güte …« Sie nahm den Ring aus dem Etui. »Aber, mein Lieber. Den kann ich unmöglich annehmen …«

»Natürlich kannst du!«, erwiderte er lächelnd. »Das ist nicht nur ein Geschenk, sondern auch der Beweis, dass ich dich nicht verlassen werde. Weder hier in Volda noch sonst irgendwo. Ich sage ja nicht, dass wir morgen heiraten und in neun Monaten das erste Kind bekommen sollen – das kapier ja sogar ich, dass das viel zu schnell ginge –, aber falls du in irgendeiner Vorlesung sitzt oder im Bus oder im Flugzeug nach Mandal und plötzlich daran zweifelst, dass ich dich gernhabe, dann kannst du einfach auf deinen Finger blicken.«

Sie sah ihn mit tränenfeuchten Augen an.

»Ich hab an das gedacht, was du gestern gesagt hast«, fuhr er fort, »das mit deinen Eltern und so, und ich werde es nie wieder erwähnen.«

Er nahm den Ring und steckte ihn an den Ringfinger ihrer linken Hand.

»Jetzt sieht er aus wie ein Verlobungsring«, sagte sie.

Da war es. Dieses herrliche, betörende Lächeln, das er seit drei Tagen vermisst hatte. Er grinste, nahm ihr den Ring ab und steckte ihn an den Mittelfinger derselben Hand.

»Da vielleicht?«

»Das ist viel zu viel … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich denke nur, dass ich das gar nicht verdient habe, und d…«

»Doch«, unterbrach er sie. »Das hast du wohl.«

»Er ist … er ist wunderschön.«

»Du bist wunderschön.«

Er küsste sie auf die Wange und sagte: »Also … darf ich denn damit rechnen, dass die Prinzessin aus Mandal morgen Abend ein paar königliche Krabben zu sich nimmt?«

Sie setzte ein schiefes Grinsen auf.

»In Ordnung.«

»Amen. Aber jetzt ist mir doch kalt.«

Sie machten sich auf den Weg zurück ins Stadtzentrum.

»Dann hast du mich also mit zur Ja-Bank genommen, um mir einen Ring zu geben, der kein Ja oder Nein erfordert?«

»Ja, sieht so aus. Außerdem ist es da schön. Tagsüber noch besser, aber ein bisschen Ausblick gab’s ja jetzt auch.«

»Hattest du da schon viele Dates?«

»An dieser Front war ich eigentlich nicht besonders aktiv. So lange wohne ich hier noch nicht. Eigentlich bin ich da früher nur ein paarmal vorbeigekommen.« Er versuchte, ihr in die Augen zu blicken, doch sie starrte nur geradeaus. »Als ich dich zum dritten Mal getroffen habe, wusste ich, dass ich dich dahin mitnehmen will.«

Er führte sie weiter, verschränkte seine Finger mit ihren und drückte vorsichtig zu. Rebekka zog die Hand zu sich, hielt sie mit gespreizten Fingern in die Höhe und betrachtete den Diamanten vor dem Hintergrund der Sterne, die über ihren Köpfen aufgegangen waren. Er dachte daran, was die Goldschmiedin gesagt hatte. Dass sie glaube, es sei der Beginn von etwas Schönem.

Und Langfristigem.