Donnerstag, 21. November
»Nein!« Kristin Mayer nahm den Löffel aus dem Mund, legte ihn auf den halb vollen Joghurtbecher auf dem Schreibtisch und presste sich das Handy ans Ohr. »Sie scherzen, oder?«
»Keineswegs«, erwiderte der Einsatzleiter, der sich mit den Kriminaltechnikern nahe der Wohnung von Lisette und Elias Ness befand. Es rauschte im Hörer, als ob er in offenem Gelände direkt am Wasser stünde.
»Tut mir leid, das tue ich nicht. Das war jetzt der letzte Ort, den sie untersucht haben. Unsere Kollegen in den weißen Overalls sind etwas entmutigt. Und müde.«
Kristin Mayer stützte das Kinn in die Hand.
»Wir beenden das hier also«, fuhr er fort. »Es sei denn, Sie möchten, dass wir noch was anderes machen.«
»Nein …« sagte Kristin Mayer und atmete aus. »Wie geht’s denn dem Ehemann?«
»Nicht besonders gut. Er hat nach Ihnen gefragt, nachdem wir den Fund gemacht haben.«
Kristin Mayer stand auf, griff nach Joghurtbecher und Plastiklöffel und warf alles in den Papierkorb unter dem Schreibtisch.
»Ich bin in einer Viertelstunde da.«
*
Mit gleichmäßigem Klappern flogen die Finger über die Tastatur. Abgesehen von einer kurzen Mittagspause in der Kantine des Polizeigebäudes hatte Magnus den ganzen Tag im Videoraum verbracht. Analystin Cathrine Mathisen schnaubte ungeduldig. Der Optimismus vom Vorabend hatte sich verflüchtigt. Videoclips erschienen auf dem Bildschirm, wurden schnell durchgesehen und von anderen abgelöst. Sie sahen Überwachungsbilder von Privatgrundstücken, wo ein kleiner Bereich der nach Skjærviken führenden Hauptstraße zu erkennen war. Aufnahmen von Tankstellen, die neben den Zapfsäulen noch vage etwas anderes erkennen ließen.
Fast eine halbe Stunde war vergangen, als Helge P. die Tür zum Videoraum so kraftvoll aufriss, dass der Luftzug ein paar Papiere auf dem Tisch erfasste. Er reichte Cathrine Mathisen einen USB -Stick.
»Wir haben sie«, sagte Helge P. »Wir haben Cecilie gefunden.«
*
»Sie haben gestern nicht in ihren Briefkasten gesehen?«, fragte Kristin Mayer.
Sie saß Elias Ness in der Küche schräg gegenüber. Auf dem Tisch lag das, was einer der Kriminaltechniker auf dem Grund des Briefkastens vor dem Haus gefunden hatte: ein klassischer Ehering aus Weißgold mit seidenmatter Oberfläche. Sie nahm den Ring und betrachtete ihn. Auf der Innenseite waren ein Datum und »Dein Elias« eingraviert. Kristin Mayer legte ihn vor sich auf den Tisch. Elias Ness hielt den Blick auf den Ring gerichtet, als Kristin Mayer ihn wieder in die Tischmitte schob. Seine Augen waren rot gerändert.
»Doch«, erwiderte er so leise, dass sie ihn gerade noch hören konnte. »Ich …« Er räusperte sich. »Ich muss ihn übersehen haben.«
»Als wir uns gestern Morgen unterhalten haben, Elias, habe ich Sie gefragt, wie es zwischen Ihnen und Lisette gelaufen ist. Sie haben gesagt, dass alles in Ordnung sei.«
Elias Ness nickte.
»Und wenn ich die Frage jetzt noch mal stelle, bekomme ich dann die gleiche Antwort?«
Er rieb sich das Gesicht und sah Kristin Mayer kurz an, ehe er den Kopf sinken ließ. Seine Kiefermuskeln arbeiteten, als ob er die Zähne fest zusammenbiss. Er stand auf und trat an den Kühlschrank. Oben an der Tür war mit einem Magneten das Foto eines kleinen Jungen befestigt. Er saß in einem Laufstall und konnte höchstens anderthalb Jahre alt sein. Elias Ness starrte fast eine halbe Minute in die Luft, ehe er entschieden nickte und sagte, die Dinge seien schwierig gewesen, besonders im letzten Jahr. Unaufgefordert bestätigte er die Geschichte, die Diana im Kosmetiksalon Moss Beauty erzählt hatte. Von dem ertrunkenen Sohn. Von Lisettes – fast einer Besessenheit ähnelndem – Wunsch nach einem neuen Kind, und von seiner Weigerung. Weil er, genau wie Diana gesagt hatte, eine Todesangst davor hatte, dass abermals etwas passieren könnte.
»Es gibt so vieles, was man nicht kontrollieren kann«, sagte er leise. »Man schätzt sich glücklich, dass das Kind gesund geboren wird. Alles ist so, wie es sein soll. Aber damit hört es nicht auf. Da fängt die Beunruhigung erst wirklich an. Ich habe mir ständig Sorgen um Ludvig gemacht. Ob die Hecke der Nachbarn nicht zu hoch war, sodass die Autofahrer auch rechtzeitig bremsen könnten, wenn Ludvig auf die Straße lief oder mit dem Fahrrad umherraste. Ob die Erzieher im Kindergarten auch gut genug auf ihn aufpassten. Mehrere Male bin ich nachts in sein Zimmer gegangen, nur um nachzusehen, ob er noch atmete. Mitunter bin ich auf dem Stuhl neben seinem Bettchen eingeschlafen. Nur wenn er mit mir zusammen war, dachte ich, dass alles in Ordnung wäre. Und genau da ist es passiert. Wo er sich doch in allergrößter Sicherheit befinden sollte. Und Lisette möchte so gern, dass wir noch ein Kind bekommen, aber allein bei dem Gedanken wird mir übel. Ich werde dann physisch krank. Lisette versteht das, und sie hat es auch lange respektiert. Bis vor etwa einem Jahr. Da wurde mir klar, dass es ihr nicht mehr so gut ging.« Er legte zwei Finger an seinen Nasenrücken. »Sie muss sich doch verdammt noch mal melden, oder? So was macht doch niemand einfach so?«
»Es gibt erstaunlich viele, die so etwas machen. Geben Sie ihr ein paar Tage, Elias. Bis Sonntagabend. Wenn Sie bis dahin nichts von ihr gehört haben, dann rede ich mit dem Juristen. Weil wir dann herausfinden müssen, ob es ihr gut geht. Und sie war auch nicht deprimiert?«
»Nein … Nie. Oder, nachdem wir Ludvig verloren haben war es natürlich schwierig, aber das gilt für uns alle. Für Lisette, für mich, für ihre Eltern, für meine. Die ganze Familie. Wieso können Sie die Ermittlungen nicht sofort aufnehmen?«
»Sie müssen das ganze Bild betrachten, Elias. Nichts deutet auf einen kriminellen Hintergrund hin, und wenn der hier schon in Ihrem Briefkasten liegt …« Sie blickte auf den Ring. »Das lässt …«
»Klarer kann man es eigentlich nicht ausdrücken«, unterbrach er sie. »Ich verstehe das.«
»Waren andere irgendwie involviert?«, fragte Kristin Mayer.
»Nein.«
»Da sind Sie auch ganz sicher?«
»Ja«, sagte er aufgebracht. »Lisette ist nicht untreu gewesen. Wie kommen Sie darauf?«
»Ich frage nur«, log Kristin Mayer und erhob sich von dem Küchenstuhl.
»Was mache ich denn jetzt?«, fragte Elias mit tränenerstickter Stimme. »Soll ich hier rumsitzen wie ein Idiot und bis Sonntag warten? Was, wenn sie verletzt ist und irgendwo liegt?«
»Geben Sie ihr etwas Zeit.«
Mehr gab es nicht zu sagen. Sie trat in den Flur, nahm die Jacke vom Garderobenständer und ging hinaus. Dort setzte sie sich in ihren zivilen Dienstwagen, der draußen vor der modernen Villa auf Jeløy stand. Dann suchte sie die Nummer des Hauptverantwortlichen im Fall Cecilie Olin in Fredrikstad heraus. Ein kleiner Junge mit heller und lauter Stimme ging ans Telefon. »Hallo-o!«
»Hallo, du«, sagte Kristin Mayer. »Ich glaube, ich würde gern mit deinem Papa …«
Das Telefon wurde übernommen.
»Weberg?«
Kristin Mayer stellte sich vor.
»Hallo«, sagte Lars Weberg. »Ich wollte mich später auch noch melden, um zu hören, ob …« Er brachte seinen Satz nicht zu Ende. »Astrid und Henrik! Legt das sofort wieder hin!« Sie hörte das Geräusch von klirrendem Glas. Er fluchte laut. »Sorry, hier ist gerade etwas viel los. Abendessen und zwei Kinder, die total genervt sind – besonders voneinander.«
»Ich fasse mich kurz«, sagte Kristin Mayer lachend und berichtete von dem Gespräch, das sie mit Lisettes Arbeitskollegin Diana geführt hatte, sowie von dem gerade beendeten Besuch bei Elias Ness.
»Oje«, sagte Lars Weberg. »Das klingt ja unerfreulich.«
Astrid und Henrik fingen an zu schreien.
»Ja, eine ziemlich blöde Situation für ihn, aber nichts, an dem wir was ändern können. Klar, irgendwann muss sie sich ja melden, aber vor dem Wochenende werden wir erst mal nichts weiter unternehmen.«
»Seh ich auch so. Habt ihr mit dem Liebhaber gesprochen?«
»Ja, er meinte, sie hätten seit vier oder fünf Wochen keinen Kontakt mehr, und gestern Abend hab ich das überprüft. Die letzte Korrespondenz zwischen den beiden liegt sechsunddreißig Tage zurück, und da handelte es sich um eine SMS von Lisette.«
»Der Ärmste tut mir leid.« Im Hintergrund war ein heulendes Mädchen zu hören. Dann folgte weiteres Geschrei. »Ich muss jetzt …«
»Alles klar«, unterbrach Kristin Mayer. »Ich habe gesagt, was ich sagen wollte. Viel Glück mit dem Abendessen.«
Sie legte auf, blickte auf die hohe Hecke des Nachbarn und ließ den Blick über den Vorplatz bis zum Küchenfenster wandern. Der Kopf von Elias Ness war gerade eben noch zu sehen.
Plötzlich musste sie an den Jungen denken, in den sie vor fünfzehn Jahren verliebt gewesen war. Der blonde Junge mit den braunen Augen, der in ihrer Klasse gewesen war. Der unbestrittene Einser-Schüler. Der Alpha-Hahn der Unterstufe – und das schon nach anderthalb Jahren. Beim Fußball, Handball, Volleyball – sogar beim Schlagball. Es spielte keine Rolle. Alle wollten in Markus’ Mannschaft sein. Er war überall der Beste. Abgesehen davon, ihr seine Aufmerksamkeit zu schenken.
Kristin Mayer, die die gleiche Haarfarbe wie die Sonne in der japanischen Flagge hatte, und die gleiche Hautfarbe wie alles drumherum. Und irgendetwas anderes hatte sie damals auch nicht anbieten können. Zwar hatte sie einen flachen, muskulösen Bauch, nachdem sie neun Jahre Leichtathletik betrieben hatte, aber was nützte das, wenn Brüste und Hintern ebenso flach aussahen. Als ein paar Jungs in der Klasse registrierten, dass sie gar keinen Hintern hatte, sondern nur einen senkrechten Strich am unteren Rücken, war der Spitzname geboren. Stock. Kristin »Stock« Mayer. Nach Abschluss der Unterstufe waren alle an verschiedene Schulen gegangen, und sie hatte ab dann genauso viel Kontakt zu ihnen gehabt wie zuvor: null.
Letztes Jahr, als sie neunundzwanzig geworden war, hatte sie Markus zufällig in einer Kneipe in Oslo getroffen, wo sie mit ein paar Freundinnen aus der Studienzeit gesessen hatte. Sie hatte ihn sofort wiedererkannt, war zu ihm gegangen und hatte Hallo gesagt, doch es dauerte nur Sekunden, bis ihr klar wurde, dass Markus nicht die geringste Ahnung hatte, wer sie war. Er hatte sich ihr vorgestellt, sogar versucht, mit ihr zu flirten, und einen interessierten Blick auf die drei Frauen geworfen, mit denen sie zusammen war. Sie hatte jede einzelne der zwanzig Minuten genossen, in denen er versuchte, sie aufzureißen. Und dann schließlich hatte sie ihn gefragt, ob er sie wirklich nicht wiedererkannte.
»Nein«, hatte er erwidert und sie von Kopf bis Fuß und wieder zurück gemustert. Er hatte gegrinst, hatte zu seinen Kumpeln hinübergesehen und leicht gelacht. Dann hatte er die Hand ausgestreckt und ihre ergriffen.
»Kriss-tinn Mayer«, hatte sie laut und langsam gesagt.
»Machst du Witze?«, hatte er gerufen und sich auf dem Sofa nach hinten fallen lassen. »Stock?« Mit offenem Mund hatte er sie angestarrt. Dann kamen die Fragen. Wo sie sich herumgetrieben habe. Womit sie heute beschäftigt sei. Und nicht zuletzt: Was denn passiert sei, sie sehe jetzt schließlich verflucht reizend aus – ja, das hatte er tatsächlich gesagt. Arsch und Brüste hätte sie auch bekommen, wie er sich ausdrückte, während er auf ihr hautenges schwarzes Kleid starrte.
»Ulrik und ich … Du erinnerst dich doch an Ulrik?«
Kristin hatte genickt. Sie erinnerte sich an Ulrik.
»Ulrik und ich haben vor einer Weile sogar darüber gesprochen. Dass nämlich viele der Mädchen aus der Unterstufe, die seinerzeit sozusagen die Sahneschicht waren, also mit Brüsten«, er hatte die Hände vor den Oberkörper gehalten und die Größe der Brüste angedeutet, »und Hintern und Beinen, also dass viele von denen inzwischen zu richtig unansehnlichen Weibsbildern geworden sind. Und manche sogar, ohne dass sie Kinder bekommen haben. Und da habe ich zu Ulrik gesagt: Ich glaube, es kann wirklich ein Vorteil sein, wenn man in der Unterstufe spindeldürr ist und sich die Formen erst später herausbilden. Dann ist man nämlich noch in den dreißigern erste Sahne. Ich meine, sieh dich nur selbst an.« Er hatte sich zu seinen Kumpeln hinübergebeugt, zeigte dabei auf Kristin, hob das Glas und sagte: »Scheiße, wie gut du aussiehst! Prost!« Nach einem großen Schluck kam dann die Frage: »Wollen wir später bei mir noch einen Drink nehmen?«
Kristin war aufgestanden und hatte erwidert, dass sie gleich zurückkäme. Aber sie kehrte nie an den Tisch im hintersten Winkel des Lokals zurück, wo die Jungs saßen, die als Teenager immer etwas zu cool gewesen waren und sich auch heute immer noch so gaben. Auf dem Heimweg erzählte sie ihren Freundinnen von der Episode und ärgerte sich darüber, wie dumm sie doch als verliebte Vierzehn- und Fünfzehnjährige gewesen war. Sie berichtete von damals, als sie im Hauswirtschaftsunterricht neben Markus’ Gruppe gestanden hatte. Alle fünf Gruppen hatten eine Sahnetorte zubereitet. Als die Lehrerin kam, um das Exemplar von Kristins Gruppe zu beurteilen, hatte sie es aus einem Abstand von wenigen Zentimetern genauestens inspiziert, während sie die Tortenplatte langsam drehte. Und da hatte Kristin der Lehrerin einen kleinen Stupser auf den Hinterkopf verpasst, sodass ihr Gesicht in der Sahnetorte landete. Und das, worauf sie gehofft hatte, wurde Wirklichkeit: Markus hatte schallend gelacht. Wenn Kristin nicht so voller Endorphine gewesen wäre, die aufgrund dieser ersten – und vielleicht größten – Verliebtheit durch ihr System schwappten, dann wäre sie vielleicht zu einer Konsequenzanalyse fähig gewesen und hätte gewusst, wozu dieser Stupser gegen den Hinterkopf der Lehrerin führen würde: zu einer Standpauke im Büro des Direktors samt Brief an die Eltern und Verschlechterung der Schulnote für Ordnung und Betragen. Aber in diesem Moment hatte all das keine Bedeutung, denn sie war gesehen worden. Von Markus. Und vielleicht dachte sie jetzt genau deswegen an den Jungen mit den blonden Haaren und den braunen Augen. Weil sie am Tag zuvor auch gesehen worden war. Von Tony Isdahl. Es hatte sich genauso angefühlt wie damals, als Markus sie im Hauswirtschaftsunterricht angesehen hatte. Als ob in diesen wenigen Sekunden nur sie beide existierten. Genau wie gestern, als Tony Isdahl sie mit seinem scheinbar unbeteiligten, geilen Blick angesehen hatte. Sie konnte Lisette Ness ziemlich gut verstehen. Das war gar nicht schwer. Tatsächlich verstand Kristin sie so gut, dass sie ebenfalls Lust auf Fisch und Meeresfrüchte bekam.
Auf frische Kammmuscheln.
*
»Die Aufnahme kommt aus einer Scheune auf der anderen Seite des Ackers, dort wo Cecilie aus dem Wagen geworfen wurde«, sagte Helge P. »Wo ist Weberg?«
»Er ist vor einer Dreiviertelstunde gefahren«, sagte Cathrine Mathisen. »Er musste die Kinder abholen.«
Magnus hatte sich aufgerichtet und saß mit erhobenem Kopf vornübergebeugt auf seinem Stuhl. Cathrine Mathisen ließ den Film auf dem TV -Bildschirm laufen. Die Uhr in der linken unteren Ecke zeigte, dass die Aufnahme um 02:08 Uhr gestartet worden war. Im Vordergrund waren die Ecke eines Hauses und ein Teil des Hofplatzes zu sehen. Dahinter erstreckte sich ein großer Acker, an den sich die Hauptstraße anschloss. Cathrine Mathisen spulte vor. Ein paar Fahrzeuge passierten die Straße im Zeitraffer. Bei 02:55 hielt sie die Aufnahme an.
»Da«, sagte sie. »Drei Minuten bevor sie ihren Ehemann anruft.«
Die beiden Analystinnen lehnten sich zurück. Anderthalb Minuten vergingen. Von der Kurve rechts kamen zwei Scheinwerfer ins Bild.
»Jetzt«, sagte Helge P. »Da kommt sie.«
Der Wagen hielt an. Ein paar Bewegungen waren erkennbar. Es war nicht leicht zu sehen, was eigentlich vor sich ging, doch Magnus ging davon aus, dass es der Fahrer war, der die Vordertür öffnete und ausstieg.
»Zoom mal näher heran.«
»Deutlicher wird man das nicht sehen können«, sagte Cathrine Mathisen. »Die Auflösung ist zu schlecht.«
Sie markierte den Wagen mit einem Viereck. Der Ausschnitt wurde größer.
»Ein Golf vielleicht?«, mutmaßte Helge P.
»Ja, sieht aus wie ein kleiner Volkswagen«, meinte Magnus. »Golf oder Polo, schätze ich.«
Man sah den Fahrer vorne um das Auto herumgehen. Auf der anderen Seite rührte sich etwas. Der Kopf des Fahrers zeichnete sich oberhalb des Autodachs ab. Ein weiterer Kopf tauchte auf. Der Fahrer trat zurück an die Vorderseite. Um 02:57:52, knapp zwanzig Sekunden nachdem der Wagen angehalten hatte, fuhr er weiter. An der Straße war eine Silhouette zurückgeblieben. Sie rührte sich nicht.
»Jetzt ruft sie Adele Ferking an«, sagte Helge P.
Eine halbe Minute verging, ehe die Silhouette sich zu bewegen anfing. Cathrine Mathisen versuchte, noch näher heranzuzoomen, doch das Ergebnis war wie erwartet: Die Bildqualität wurde noch schlechter. Nur dank der Straßenbeleuchtung war überhaupt etwas zu sehen.
»02:58«, sagte Magnus. »Jetzt ruft sie ihren Mann an.«
Er beugte sich so weit wie möglich vor, spähte auf den Bildschirm und sah, wie die Gestalt das Handy ans Ohr legte.
»Und da kommt er zurück«, sagte Helge P., während der Wagen, der dieselbe Form und Größe hatte wie derjenige, der kurze Zeit vorher angehalten hatte, wieder im Bild erschien. »Jetzt aufpassen.«
Die Aufnahme zoomte zurück in die Totale. Der Wagen verringerte das Tempo und fuhr langsam an Cecilie Olin vorbei.
»Weshalb bremst er ab?«, fragte die andere Analystin.
»Vielleicht sagt er etwas zu ihr?«, erwiderte Cathrine Mathisen nachdenklich. Sie sah Magnus an. »Hat der Ehemann erwähnt, ob er den Fahrer im Hintergrund etwas sagen gehört hat?«
»Nein, und das hätte er bestimmt mitbekommen. Jedenfalls hätte er gehört, wenn Cecilie etwas geantwortet hätte, vor allem, wenn sie so alkoholisiert war. Ich glaube, der Fahrer wollte nur wissen, ob sie allein zurechtkommt.«
Der Wagen nahm wieder Tempo auf und fuhr davon. Sechzehn Sekunden später trat Cecilie nach links aus dem Bild.
Magnus und die anderen sahen sich die Aufnahme dreimal an.
»Jedenfalls haben wir jetzt etwas mehr, um den Fahrer zu finden«, sagte Helge P. »Ich schau mir gleich mal die Aufnahmen von den Mautschranken an und suche nach Kleinwagen.«
»Der Fahrer ist uninteressant«, sagte Magnus. »Bedeutung hat bloß, was danach passiert ist.« Er fluchte laut.
»Was denn?«, fragte Cathrine Mathisen. »Jetzt haben wir sie auf Film, während sie aus dem Wagen steigt. Danach haben wir seit über vierundzwanzig Stunden gesucht. Gute Arbeit, Leute.« Sie schenkte Helge P. ein Lächeln. »Guter Fang!«
Cathrine Mathisen ließ den Film weiterlaufen. Das nächste Fahrzeug passierte die Kamera um 03:14 Uhr. Ein Sattelschlepper mit Kurs auf Fredrikstad.
»Hat der Fahrer sich gemeldet?«, fragte Magnus und deutete auf den Bildschirm.
»Ja«, erwiderte Helge P. »Er hat nirgendwo Fußgänger gesehen.«
Ein paar Minuten später kam ein Großraumtaxi, das mit erleuchtetem Schild in Richtung Skjærviken fuhr. Es herrschte kaum Verkehr, und Magnus zählte lediglich neun verschiedene Fahrzeuge zwischen 03:14 und 03:45. Er stand auf und blickte resigniert auf den Bildschirm.
Das Ganze war ein Reinfall. Nicht nur, weil es nicht möglich war, mehr zu erkennen, sondern auch, weil er zuvor entschieden hatte, den Fahrer in den Mittelpunkt der Ermittlungen zu rücken, der sich nun, innerhalb eines Augenblicks, von einer hochinteressanten in eine völlig wertlose Person verwandelt hatte.
»Stopp!«, rief er plötzlich so laut, dass die beiden anderen zusammenzuckten. »Spul mal zurück.«
Das Bild fror ein. Ohne etwas zu sagen, tat Cathrine Mathisen das, worum er sie gebeten hatte. Der Film bewegte sich im Zeitlupentempo zurück. Von rechts kam ein großer Wagen ins Bild gefahren. Cathrine Mathisen drückte auf die Stopptaste. Magnus trat einen Schritt näher und beugte sich zum Bildschirm vor. Er hatte sich nicht geirrt. Dem Kleintransporter, der um 04:02:11 in Richtung Fredrikstad unterwegs war, fehlte ein Frontlicht.