Kapitel 23

Volda, 1999, Tag 40

An diesem Abend war er nur umhergelaufen. Erst am Krankenhaus vorbei, wo er fast von einem Rettungswagen umgenietet wurde, dann durchs Zentrum und weiter bis zum Fuß des Rotsethorn, des Hausbergs von Volda, der gleich außerhalb der Stadt 649 Meter in die Höhe ragte. Er hatte versucht, an etwas anderes zu denken, doch Rebekka hatte alle anderen Gedanken verscheucht. Wenn er den Namen des Onkels gekannt hätte, dann hätte er im Krankenhaus in Mandal angerufen und alles überprüft. Wie er wusste, stammte der Name Vehler von ihrem Vater. Wie der Mädchenname der Mutter lautete – und wie der Onkel dann wahrscheinlich immer noch hieß – hatte er nie gefragt. Es gab somit also nicht einmal einen Nachnamen, nach dem er sich hätte erkundigen können. Aber eigentlich spielte das keine Rolle. Dass der Onkel plötzlich ernsthaft krank geworden war und die ganze Familie nach Hause gerufen wurde, war wenig glaubwürdig. Im besten, im allerbesten Fall, gab es aufseiten der Mutter tatsächlich einen Onkel. So viel Vertrauen sollte er ihr wohl entgegenbringen. Aber dass der nun krank geworden war? Nein. Es ging um etwas anderes. War sie etwa doch schwanger? Nein, das glaubte er nicht. Nicht mehr. Hatte sie vielleicht die Gravur auf der Innenseite des Rings entdeckt und sich davon erschrecken lassen? Das glaubte er auch nicht. Aber es musste etwas geben, das sie zurück nach Mandal trieb, das sie dazu brachte, fast eine ganze Woche auf dem Hof ihrer Eltern verbringen zu wollen. Eltern, vor denen sie ursprünglich geflohen war. Noch dazu mit Trine im Schlepptau, obwohl die doch eigentlich allein hätte da runterfahren sollen.

Es war schon nach neun Uhr abends, als er sich im Dunkeln vor die Garage des Touristenhotels stellte, das gleich unterhalb der Studentenblöcke lag. Rebekkas und Trines Wohnung lag im östlichen Block. Zweite Etage. Fenster Nummer vier von rechts. Rebekka hatte es ihm eines Abends gezeigt, als sie daran vorbeigegangen waren. In der Wohnung nebenan waren viele Leute, und alles war hell erleuchtet. Doch nicht in ihrer. Da war alles leer und dunkel. Als ob sie schon abgereist wären. Aus einem der angelehnten Fenster drang ein spitzes lautes Lachen zu ihm herunter. Er blieb stehen. Wartete. Versuchte, sich so klein und unsichtbar wie nur eben möglich zu machen, glaubte aber nicht, dass das nötig war. Die einzige Lampe über der Garage funktionierte nicht. Falls ihn jemand sehen sollte, müsste man explizit schon Ausschau nach ihm halten.

Er würde keine Szene machen. Das hatte er beschlossen. Wenn er die letzten drei Stunden nicht umhergelaufen wäre, würde er es wohl kaum schaffen, sich im Griff zu haben, falls sie denn kam. Inzwischen hatten sich sein Hasenherz und das Pulsieren in den Schläfen beruhigt. Aber er wollte sie sehen, wollte sehen, dass sie nach Hause kam, ehe es Nacht wurde, da sie doch so zeitig aufstehen musste. Und nicht zuletzt: sehen, dass sie allein war.

Als er von zu Hause aufgebrochen war, hatte das Thermometer ein paar Plusgrade angezeigt. Jetzt glaubte er, dass das Quecksilber wieder ein paar Millimeter nach unten gesunken war. Es wurde langsam kühler. Der Himmel über ihm war sternenklar. Drei Tage hintereinander mit schönem Wetter waren immerhin etwas. Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen; was für ein Paradox, dass sich für ihn alles in nur einem Augenblick geändert hatte und ein heftiger Sturm aufgezogen war.

Verflucht. Alles war so schön gewesen.

Er zog ein Paar Lederhandschuhe aus der Tasche seiner Kapuzenjacke, streifte sie über, beugte die Schultern und lehnte sich mit dem Rücken an das Garagentor. Eine Bewegung nahe Rebekkas Block ließ ihn den Atem anhalten. Es war dunkel, aber am Gang konnte er erkennen, dass es ein Mädchen war. Ihre Schritte waren leicht. Wie Rebekkas. Sie hatte lange Haare, wie Rebekka, war schlank und nicht sonderlich groß.

Wie Rebekka.