Donnerstag, 21. November
»Und dann …« Bjørn Farsund dachte genau nach. »Und dann haben wir uns an der Fußgängerbrücke getrennt.«
Magnus hatte ihn ohne Unterbrechung reden lassen. Nichts wich von dem ab, was er tags zuvor im Wohnzimmer seiner Mutter erzählt hatte. Seine Formulierungen waren allenfalls etwas flüssiger.
Bjørn Farsund beugte sich vor, ließ die Unterarme auf den Knien ruhen und starrte mit gebeugtem Nacken auf den Teppich hinunter. Magnus trank einen Schluck Wasser, während er auf die Fortsetzung wartete. Sein Gegenüber schürzte die Lippen, während sein Blick weiter auf den Fußboden gerichtet war.
»Und Sie haben nicht gesehen, in welche Richtung sie gegangen ist?«, fragte Magnus.
»Nein. Jetzt wünschte ich natürlich, dass ich darauf bestanden hätte, sie nach Hause zu fahren. Aber …« Er starrte auf die Glasscheibe in der Wand. Einer seiner Eckzähne bohrte sich in die Lippe. »Ich war nicht ganz ehrlich, als wir uns gestern unterhalten haben. Ich bin nicht direkt nach Hause gefahren.«
»Und wohin sind Sie stattdessen gefahren?«
»Ich bin lange durch die Gegend gekurvt.« Er antwortete leise und kurz angebunden. »Nach dem Treffen mit Cecilie war ich nicht in der Stimmung, nach Hause zu fahren und mich hinzulegen.« Er richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Erst bin ich nach Sarpsborg gefahren. Da habe ich eine Weile am Tunevann im Auto gesessen.« Seine Augen waren feucht geworden. »Und dann bin ich weitergefahren. Über die E6 nach Halden, dann über Rokke wieder raus aus Halden und schließlich nach Hause.«
»Über welche Straße sind Sie nach Hause gefahren, Bjørn?«
Der andere wandte den Blick ab. Magnus wiederholte die Frage.
»Durch Skjærviken«, kam es leise.
»Wie spät war es da? Können Sie sich daran erinnern?«
»Gegen vier.«
»Ihre Mutter wohnt in Rolvsøy. Da hätten sie in jedem Fall zehn Minuten gespart, wenn sie weiter nach Sarpsborg gefahren und dort die E6 verlassen hätten.«
Bjørn Farsund nickte.
»Warum sind Sie dann über Skjærviken gefahren?«
»Ich weiß nicht.« Er seufzte. »Wollte wohl … Ich wollte bloß sehen, wie es da so geht.«
»Wie es da so geht? Nachts um vier?«
»Ja, ob da Licht war. Ob sie nach Hause gekommen war.«
»Und war es so?«
»Was?«
»War Licht an?«
»Nein …« Bjørn Farsund schüttelte den Kopf. »Es war dunkel.«
»Haben Sie am Haus angehalten?«
»Nein.«
»Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie jetzt ehrlich sind, Bjørn. Aber was hat sich verändert, wieso haben Sie das gestern nicht erzählt?«
»Ich hatte Angst.«
»Wovor?«
»Wovor?« Er drehte sich jäh um und sah Magnus mit hartem Blick an. »Ich wollte nicht in die Sache hineingezogen werden, das verstehen Sie doch wohl? Bei unserer gemeinsamen Geschichte hätte ich doch vermutlich automatisch vier Wochen Untersuchungshaft mit Brief- und Besuchsverbot bekommen.«
»Und dennoch erzählen Sie es mir jetzt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin froh, dass Sie es tun, ich verstehe nur nicht die Logik dahinter.«
»Ich bin Cecilie eine Menge schuldig, das Mindeste, was ich tun kann, ist, dass ich jetzt die Wahrheit sage. Ich habe sie geliebt, und ich liebe sie noch immer. Ich würde ihr niemals etwas antun.«
»Versuchen Sie einmal, das Ganze aus meiner Perspektive zu betrachten … Wie es aussieht, haben Sie nicht länger ein Alibi für den Zeitpunkt, an dem Cecilie verschwunden ist. Und eine Stunde nach dem letzten Lebenszeichen von ihr kommen Sie von dort angefahren, wo sie gefunden wurde.« Magnus sah ihn abwartend an. »Sie sagen, Sie würden ihr niemals etwas antun, aber Sie wurden erst neulich aus dem Gefängnis entlassen, wo Sie achtzehn Monate eingesessen haben, eben weil Sie ihr etwas angetan haben.«
Bjørn Farsund sprang so unverhofft von seinem Stuhl auf, dass Magnus zusammenzuckte.
»Glauben Sie vielleicht nicht, dass ich das gern ungeschehen machen würde?«, brüllte er. »Ich habe an jenem Abend nicht nur sie, sondern alles verloren.«
»Sie denken an Ihre Karriere?«
»Natürlich denke ich an meine Karriere«, rief er.
»Bjørn.« Magnus blieb ganz ruhig. »Seien Sie so gut und setzen Sie sich wieder hin.«
Bjørn Farsund atmete aus.
»Sie sind immer noch Arzt«, fuhr Magnus fort. »Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie für den Rest Ihres Lebens unten am Hafen in einer Bar stehen und Wodka Red Bull zusammenmixen, ist eher gering, obwohl ich es gut verstehen kann, dass Sie kein großes Bedürfnis verspüren, ins Krankenhaus Kalnes zurückzukehren. Sie machen sich Sorgen darüber, was die Leute wohl denken und sagen werden, nicht wahr?«
»Es spielt keine Rolle, dass Cecilie und ich uns ausgesöhnt haben und dass die Strafe abgesessen ist.« Er ließ sich auf seinen Stuhl sinken. »Ich kann hier nie wieder irgendwo im Distrikt arbeiten, jedenfalls nicht mit erhobenem Kopf.«
»Es gibt auch anderswo in diesem Land Krankenhäuser, Kliniken und medizinische Einrichtungen.«
»Ich kann nicht so weit fortgehen. Bei meiner Mutter wurde im letzten Jahr Alzheimer diagnostiziert, und auch wenn sie derzeit noch nicht so stark davon geprägt ist, wird sie es irgendwann sein. Und dann muss ich für sie da sein.«
»Sie sagten, Sie und Cecilie hätten sich ausgesöhnt. Wann? Samstagabend?«
»Nein, nein, schon vor einiger Zeit. Als ich noch in Halden war. Ich habe ihr einen Brief geschrieben. Für mich war es leichter zu schreiben, als ihr zu sagen, was ich empfand, und als sie mich in Halden besucht hatte und dann wieder fuhr, habe ich sie gefragt, ob ich ihr schreiben dürfte, und da hat sie Ja gesagt. Das ist ja das, was ich Ihnen zu sagen versuche: Zwischen uns war nichts mehr ungeklärt.«
»Sie empfinden also keine Wut oder Bitterkeit über den sozialen Abstieg, der aus Ihrer Verurteilung resultiert?«
»Natürlich ist das bitter, aber es ist meine eigene Schuld.«
»Sie sind klug genug, um zu begreifen, dass man kein Ermittler der alten Schule sein muss, wenn man diese Bitterkeit als mögliches Motiv betrachtet.«
»Das weiß ich.« Bjørn Farsunds Stimme klang schwach. »Deswegen wollte ich noch einmal mit Ihnen sprechen und erzählen, dass ich nicht direkt nach Hause gefahren bin.«
»Mhm. Was haben Sie ihr geschrieben?«
»Ach«, seufzte er. »Das waren Gedanken. Gedanken, die ich besser hätte mit ihr teilen sollen, als wir noch zusammen waren.«
»Hat sie Ihnen geantwortet?«
»Ja, natürlich habe ich eine Antwort bekommen. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir uns ausgesprochen haben.«
»Was hat sie geschrieben?«
»Ich habe den Brief immer noch, falls Sie ihn sehen möchten.«