Donnerstag, 21. November
Lars Weberg und Magnus Torp fanden den Brief an der Stelle, die ihnen der ehemalige Hubschraubernotarzt genannt hatte. In einem Kästchen unten im Bücherregal hinter der Tür des alten Kinderzimmers. Lars Weberg stellte das geöffnete Kästchen auf den Schreibtisch. Es enthielt ein Schmuckstück mit einem Anker. Außerdem einen Aufnäher aus Stoff, in dessen Mitte ein aufgedruckter Rettungshubschrauber prangte. Darüber stand »330 SKV « und darunter »Wir retten Leben«.
»Stell dir mal vor, du wirst während der Arbeit angeschossen«, sagte Lars Weberg, »und dann wäre es dieser kranke Typ«, er wedelte mit dem Jackenaufnäher, »der dich am Leben halten soll, bis der Helikopter in Ullevål landet. Vielleicht gut, dass man nicht alles über die Menschen weiß, denen man begegnet.«
Magnus dachte daran zurück, wie er einmal blutend und kurz vor dem Sterben in Antons Armen gelegen hatte. Das war jetzt über sieben Jahre her. Er erinnerte sich an die vier Schüsse. Drei davon hatten die Haut durchschlagen und sich durch Fleisch und Eingeweide gebohrt. Die Erinnerungen daran waren verschwommen und nicht sehr zahlreich, eher ein kurzes Aufblitzen von Bildern und Geräuschen. Sirenen. Kollegen vom Streifendienst, die nur sagen konnten, dass alles wieder gut würde, auch wenn sie keine Ahnung hatten, ob sie recht hatten oder nicht. Kreisende Rotorblätter. Das Einzige, woran er sich deutlich erinnerte, war Anton, der nicht eher seine Hand losließ, bis er in den Rettungshubschrauber geschoben wurde, und dass Anton zusammen mit seiner Mutter am Bett gesessen hatte, als Magnus aus dem Koma erwachte.
»Oder nicht?« Lars Weberg nahm den Umschlag aus dem Kästchen. »Ich sagte, gut, dass wir nicht alles über alle wissen.«
»Oh. Ja.«
Magnus nahm den Umschlag. Auf der Rückseite stand:
JUSTIZVOLLZUGSANSTALT HALDEN
BJØRN FARSUND
POSTFACH 1094 SØRLI
1787 HALDEN
Das Datum lag zwei Monate zurück. Magnus las vor:
Lieber Bjørn,
hab Dank für deinen langen und ehrlichen Brief. Ich musste ihn mehrmals durchlesen und habe zwei Tage gebraucht, um alles zu verdauen und um herauszufinden, was ich antworten soll. Oder ob ich antworten soll. Offen gestanden weiß ich nämlich nicht, wo ich beginnen soll. Ich habe nichts gesagt, als ich bei dir zu Besuch war, und du warst so aufgeregt, dass du es vermutlich gar nicht bemerkt hast, aber ich war nervös. Ich habe mich so schrecklich gefürchtet, dass ich kurz davor war, umzukehren und mich wieder in den Wagen zu setzen, als das Tor geöffnet wurde, aber ich hatte beschlossen, mir anzuhören, was du zu sagen hast. Ich wollte sehen, ob du es tatsächlich ehrlich meinst. Die Entschuldigung. Ich glaube, das tust du. Ich habe das auch früher geglaubt, aber dieses Mal war irgendetwas anders. Dass du es in einem Besuchsraum im Gefängnis gesagt hast, kann natürlich etwas zu bedeuten gehabt haben. Ja, ich habe deine dunkelsten Seiten gesehen, aber ich habe auch alle anderen gesehen. Ich entscheide mich also, dir zu glauben, weil ich dir glauben möchte. Ausgehend von deinen Zeilen ist es nicht schwer zu verstehen, was du empfindest, aber ich bin glücklich, und ich bin es seit einiger Zeit. Ich sage nicht, dass ich es mit dir nicht war, denn das war ich – zeitweilig – und du wirst immer einen Platz in meinem Herzen haben.
Mir kommt es falsch vor, dass wir uns wiedertreffen, wenn du entlassen wirst. Du weißt, dass ich geheiratet habe, ich habe ja auch gesehen, dass du mehrmals auf meinen Ring gestarrt hast, aber du hast nichts gesagt. Wenn ich ganz ehrlich sein soll (und wir verdienen beide, dass ich es bin), finde ich das sowohl etwas seltsam als auch etwas erschreckend. Du hast nämlich nicht gefragt, wie es ist, frisch verheiratet zu sein. Du hast auch gar nicht nach Fredrik gefragt. Du hast nicht gefragt, wie es Papa geht. Du hast nicht einmal gefragt, wie es mir geht. Alles, worüber du gesprochen hast, waren wir. Wir beide.
Vor langer Zeit haben wir verstanden, dass wir vielleicht nicht so gut füreinander sind und dass du dort bist, wo du bist, lässt daran kaum einen Zweifel. (Ich meine das nicht böse.) Du weißt, dass ich dich geliebt habe, und die guten Zeiten, die wir miteinander hatten, möchte ich gegen nichts eintauschen. Du sollst wissen, dass ich dir vergeben habe und dass ich dir alles Gute für die Zukunft wünsche, aber die findet ohne mich statt. Du schreibst, dass du alles tun würdest, worum ich dich bitte. Deshalb bitte ich dich, stattdessen alles für dich selbst zu tun. Alles wird wieder gut.
Der Grund für mein Kommen war mein Wunsch nach Aussprache. Damit wir, falls wir uns auf der Straße, im Laden, vor dem Stadion oder wo sonst begegnen, einander freundlich zunicken können und uns keine bösen Blicke zuwerfen müssen. Ich habe das Gefühl, dass wir jetzt an diesem Punkt sind – dass wir uns als Freunde trennen. Jetzt musst du dir selbst helfen, indem du weitergehst, sodass du, wenn du entlassen wirst, mit dem fortfahren kannst, was du als einer der Besten immer getan hast, nämlich Menschen zu helfen, die deine Hilfe brauchen.
Es grüßt Cecilie
»Das hilft uns ja nicht viel weiter«, sagte Lars Weberg.
Magnus steckte den Brief zurück in den Umschlag und sagte: »Die Voraussetzungen für Untersuchungshaft sind erfüllt, also haben wir ihn für die nächsten zwei Wochen erst mal unter Kontrolle.« Er legte den Umschlag in einen durchsichtigen Zip-Lock-Beutel und verschloss diesen. Dann warf er einen Blick auf Lars Weberg, der sich mit verschränkten Armen an den Schreibtisch gestellt hatte. »Interessant wäre es zu sehen, was er ihr geschrieben hat.«
»Ich dachte das Gleiche, aber die Technik hat nichts Derartiges gefunden. Ich schätze, sie hat es weggeworfen.«
»Er hat eine Gefängnispsychiaterin erwähnt, Karen Thoen. Vielleicht sollten wir uns mal mit ihr unterhalten?«
»Ich kümmere mich darum«, sagte Lars Weberg. »Du glaubst also nicht, dass er, ja, wie hat er das genannt, sich geändert hat?«
»Nicht eine Sekunde.« Magnus fluchte leise in sich hinein. »Ich hätte seinen Schachzug kommen sehen müssen.«
»Dass er dir selbst von der Fahrt durch Skjærviken erzählt?«
»Ja.«
»Wie hättest du das kommen sehen können?«
»Weil es das Klügste war, was er tun konnte. Seine ganze berufliche Karriere basiert darauf, in äußerst schwierigen Situationen einhundertprozentig zu funktionieren. Denk nur an all die schnellen Entscheidungen, die er im Laufe der Jahre treffen musste. Um so einen wie ihn in Stress zu versetzen, braucht es viel mehr als eine Vernehmung mit einem netten und höflichen Polizisten. Am besten funktioniert er, wenn um ihn herum das Chaos herrscht.«