Volda, 1999, Tag 40
Sie blieb vor dem Eingang zum Wohnblock stehen und zog den Schlüssel aus der Handtasche. Er trat einen Schritt vor und kniff die Augen zusammen. Sollte er etwas sagen? Und wenn sie es gar nicht war? Er hatte sich geschworen, sie nicht anzusprechen. Sie sollte ihn nicht einmal sehen. Genau wie die anderen Male.
Die Tür ging auf, und sie schlüpfte hinein. Durch die Glasscheibe in der Tür behielt er ihren Rücken im Auge, während sie die Treppe hinaufstieg.
Keine dreißig Sekunden später wurde es hell in der zweiten Etage. Eine Gestalt huschte schnell am vierten Fenster von rechts vorbei und blieb für ein paar Sekunden verschwunden, ehe sie ebenso schnell wieder zurückeilte. Einen Augenblick später stellte sie sich ans Fenster. Er hörte Stimmen. Die kamen von der Straße hinter ihm. Zwei, nein, drei Männer. Sie redeten laut und lachten. Er zog sich wieder in die Dunkelheit zurück, versuchte, eins mit dem Garagentor zu werden. Wenn sie ihn jetzt sähen, dachte er plötzlich, würde das nur noch verdächtiger wirken, als wenn er vorgäbe, draußen unterwegs zu sein. Aber er konnte sich nicht rühren. Noch nicht. Erst musste er sehen, dass sie es war.
Die drei gingen an ihm vorbei, ohne in seine Richtung zu blicken, während sie weiter laut miteinander redeten. Sie stand am Fenster, zog sich den Pullover aus, während sie nach draußen starrte. Auf den Parkplatz und die Garagen. Aber so lange das Licht drinnen brannte, war er unmöglich zu entdecken.
Er spähte zum Fenster hoch. Es war nicht Rebekka, sondern die Missgeburt. Die Kuh. Die Saboteurin. Trine.
Warum waren sie nicht zusammen nach Hause gegangen? Er wusste nicht, ob Trine auch mit zum Quiz gegangen war, doch er nahm es an.
Jetzt war es schon halb zehn, verdammt. Was hatte sie gesagt, wann sie aufstehen müsste? Fünf? Nein, halb fünf! Noch knapp sieben Stunden, und sie hatte vermutlich noch nicht einmal angefangen, an den Rückweg zu denken; dann wäre sie nämlich zusammen mit Trine gekommen.
Er spürte den hämmernden Pulsschlag, der sich vom Hals über die Wangen bis in die Schläfen ausbreitete. Langsam wurde ihm heiß. Die Fäuste ballten sich in den Hosentaschen. Das Hasenherz, das endlich verstummt gewesen war, schlug plötzlich und ohne Vorwarnung wieder heftig.
Er war sieben Jahre alt gewesen, als er diese Wut zum ersten Mal verspürt hatte. Seine Mutter hatte ihn auf sein Zimmer geschickt. Die Folge war, dass er den Schreibtischstuhl zu Kleinholz geschlagen und Teile der Tapete von der Wand gerissen hatte, ehe er ein Loch in die Wand trat. Als er dann später Wutanfälle bekam, schickte seine Mutter ihn nicht auf sein Zimmer, sondern an die Luft. Es spielte keine Rolle, ob es Sommer oder Winter war. Renn es aus dir raus, hatte sie immer gesagt, du kannst nach Hause kommen, wenn du wieder ruhig bist. Er hatte es gehasst, zu rennen, war aber liebend gern gelaufen. Nur die Füße waren in Bewegung, da war es einerlei, ob er stinkende Auspuffgase, den Duft des Waldes oder den Geruch von warmem, regenfeuchtem Asphalt einatmete. Ohne Ziel und ohne Zweck umherzulaufen, das war alles, was er brauchte, um den Kopf wieder freizubekommen.
Er musste sich bewegen. Wieder runterkommen.
Die Missgeburt stand immer noch am Fenster. Im schlimmsten Fall sah sie den Rücken einer Gestalt, die sich neben den Garagen über den Parkplatz bewegte. Er musste lachen. Warum hatte er so große Angst davor, dass sie ihn sehen könnte? Sie wusste doch nicht einmal, dass er existierte. Er hätte sie genauso gut nach dem Weg fragen können, und Trine hätte ihm diesen gezeigt, und nie wieder an ihn gedacht. Er trat in die Dunkelheit und setzte Kurs auf den Grünen Baum .