Kapitel 30

Volda, 1999, Tag 40

Inzwischen war es richtig kalt geworden. Vermutlich waren es nur wenige Minusgrade, doch die kurzen Windstöße ließen es eher wirken wie zehn Grad unter null. Dennoch tropfte der Schweiß an ihm herunter. Innerhalb kürzester Zeit war er am Rücken und unter den Armen klitschnass geworden, denn da drüben konnte er Rebekka sehen. Sie kam auf dem Gehsteig in seine Richtung.

Er verlor sie aus dem Blick, als sie hinter einem kräftigen Gebüsch an der Straße verschwand. Sekunden später konnte er hören, wie das Geräusch des fließenden Wassers im Flusstal von Gummisohlen auf knarzendem Kies begleitet wurde. Lautlos löste er sich vom Baumstamm. Es war so dunkel, dass er nur ihre Silhouette näher kommen sah. Ihre Schritte waren leicht. Fröhlich. Sorglos. Frisch gevögelt. Den Blick hatte sie gesenkt. Aus der Dunkelheit heraus beobachtete er sie. Sie war jetzt nicht mehr als zehn, maximal fünfzehn Meter von ihm entfernt. Wäre es heller Tag, würde sie ihn schon längst gesehen und dieses Lächeln aufgesetzt haben, das ihn, wie sie wusste, dazu bringen konnte, alles Mögliche zu tun. Das Lächeln, mit dem sie ihn wochenlang verzaubert und getäuscht hatte, aber nein: ab jetzt nicht mehr.

Er ließ sie vorbeigehen. Es raschelte im Gebüsch, als er aus seinem Versteck trat, doch das Geräusch des brausenden Flusses übertönte alles. Der Mond warf einen schwachen Lichtschein auf den offenen Platz vor der Fußgängerbrücke, auf die sie zuhielt.

»Wo bist du gewesen?«

Rebekka blieb wie angewurzelt stehen. Sie hatte den Nacken noch immer gebeugt, stand ganz steif da, aber etwas an ihrer Haltung verriet, dass sie genau wusste, wer zu ihr sprach. Er trat auf sie zu, verharrte einen knappen Meter vor ihr, wiederholte die Frage. Sie drehte sich zu ihm um.

»Verfolgst du mich?«

»Wer ist er?«

»Wer?«

»Von dem du gerade kommst.«

»Ach, mein Lieber«, seufzte sie, »das ist einer aus der Schule. Was treibst du hier eigentlich?«

Er wollte sie fragen, ob sie mit dem Pavian geschlafen hatte, aber er kannte die Antwort und wollte die Bestätigung nicht hören.

Sie starrten einander an.

»Für ihn hattest du also heute Abend Zeit, aber nicht für mich?« Er trat einen Schritt näher. Ihre Atemwolken vermischten sich. »Hm?«

Ihre Augen glänzten, und ihr Gesicht hatte sich zu einer Fratze verzogen, wie bei einer Dreijährigen, der im Laden die Süßigkeiten verwehrt wurden.

»Bist du jetzt auch taub geworden?«, fuhr er fort. »Antworte mir, du kleine Hure.«

Sie kniff ein paarmal die Augen zusammen. An ihren Wangen liefen Tränen herab.

»Eigentlich sollte ich doch heulen, oder? Aber du «, fauchte er und bohrte ihr den Zeigefinger in die Brust, »du bist diejenige, die mich hintergangen hat, und jetzt stehst du hier und flennst?«

»Ich habe niemanden hintergangen«, schluchzte sie.

»Wir hatten heute eine Verabredung, die du abgesagt hast, weil du wegen des Flugs früh ins Bett wolltest. Aber bis weit nach Ende des Quiz im Grünen Baum sitzen und mit dem Arschloch nach Hause gehen … Dafür hattest du Zeit?«

Mit dem Jackenärmel wischte sie sich Wangen und Nase ab.

»Das funktioniert so nicht«, rief sie weinend.

»Hast du mit ihm geschlafen?«

»Natürlich nicht!«

Nee klar, bestimmt nicht, dachte er.

»Dann erzähl mir doch mal, warum es so nicht funktioniert. Sag mir, was ich falsch gemacht habe.« Er wartete darauf, was sie sagen würde, aber es kam nichts. »Eben! Du hast mich vom ersten Tag an getäuscht.«

»Das habe ich nicht …« Sie schüttelte kräftig den Kopf. »Denk mal drüber nach, wie du in den letzten Wochen gewesen bist.« Ihr Tonfall wurde lauter. »Ich brauche Abstand!«

»Also war der plötzlich erkrankte Onkel eine Lüge, ja?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wie soll ich denn überhaupt gewesen sein? Ich bin genau derselbe, den du vor vierzig Tagen kennengelernt hast.« Er hielt ihr einen Zeigefinger vor das Gesicht. »Apropos vierzig Tage … Ich habe rausgefunden, dass dein Kumpel und ich etwas gemeinsam haben.« Er entblößte seine Eckzähne. »Nachdem Jesus von Johannes die Taufe erhielt, wurde er in der Wüste Juda vierzig Tage und Nächte vom Teufel versucht. Wusstest du das? Satan kam, Rebekka, aber Jesus hat allen Versuchungen widerstanden. Ich hingegen, ich habe mich täuschen lassen, als du mich gestreichelt und geküsst hast und dann meintest, du könntest nicht genug von mir bekommen. Dass du dabei wärst, dich in mich zu verlieben. Ich habe alles geschluckt. Und heute Abend«, er streckte die Arme zur Seite aus, »wurde ich gekreuzigt.«

»Du tickst ja nicht richtig«, flüsterte Rebekka mit weit aufgerissenen Augen.

»Doch. Ich bin nur blind gewesen, aber …« Er kicherte. »Heute Abend können wir wohl mit Sicherheit feststellen, dass ich wieder Licht gesehen habe.«

»Ständig diese Fragen. Jeden einzelnen Tag.« Sie ließ ihre Stimme theatralisch klingen und fuhr fort: »Was hast du heute gemacht? Mit wem warst du zusammen? Was hast du jetzt vor? Triffst du jemanden? Mit wem hast du in der Schule rumgehangen? Ist da einer, der es auf dich abgesehen hat? Flirtest du mit anderen – nein, das machst du doch wohl nicht?«

»Ist es verboten, sich zu kümmern? Ich soll dir also kein Interesse entgegenbringen? Fein! Ich scheiß drauf. Du wärst erstaunt, wie gut ich bin, auf was zu … scheißen

»Interesse entgegenbringen?« Sie lachte höhnisch. »Du wiederholst jede Frage, als ob du überprüfen wolltest, dass ich auch ja das Gleiche antworte. Glaubst du etwa, ich merke das nicht?« Sie trat einen halben Schritt zurück. »Und allein, dass du mich heute Abend verfolgt hast … Ich wünschte, du könntest dich im Spiegel sehen – dein Blick ist schwarz wie die Nacht.«

»Warum bist du nicht gemeinsam mit Trine nach Hause gegangen?«

»Trine? Wovon redest du?«

»Sie ist um halb zehn nach Hause gekommen.«

»Trine war überhaupt nicht mit im Grünen Baum . Sie war bei einem aus ihrer Klasse und hat an einer Aufgabe gearbeitet. Aber …« Sie rümpfte die Nase. »Bist du bei mir zu Hause gewesen?«

Er lachte künstlich und sagte: »Du kannst ganz beruhigt sein, ich habe nicht angeklingelt, niemand hat mich gesehen. Das wäre doch nicht gut gewesen, oder?« Er trat einen Schritt vor. »Aber vielleicht ist das ja das Problem? Dass das kleine Fräulein Vehler zwei Pferde gleichzeitig reitet und dass Trine und die anderen Mädchen nur von einem wissen?« Sein Blick verengte sich. »Hm? Durfte ich deswegen deinen Freundinnen nicht guten Tag sagen? Hast du dich deswegen kaum mit mir an die Öffentlichkeit gewagt – und das nicht mal im Dunkeln? Man könnte meinen, ich hätte die Krätze.«

Sie gab ein schwaches Schluchzen von sich und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.

»Du hast überhaupt nichts verstanden …«, sagte sie leise. »Sogar jetzt kapierst du nichts.«

Von irgendwo auf dem Fjord ertönte ein lang gezogener Signalton. Er hob den Kopf und blickte nach Westen, versuchte, das Geräusch einzuordnen.

»Das war ein Schiff«, sagte sie, »kein Elefant.«

»Riskierst du jetzt auch noch ein großes Maul?«

»Das war ein Scherz, du bist doch so von denen besessen.« Sie versuchte es mit einem Lächeln. »Entschuldige.«

»Weißt du, was mir bei diesen Tieren am besten gefällt?« Er beugte sich ein Stückchen vor. »Dass sie loyal sind.«

»Ich habe nichts falsch gemacht.« Sie wischte sich erneut über das Gesicht und seufzte. »Ich muss jetzt nach Hause und meine Tasche packen.« Sie hob den Arm und sah auf die Uhr. »Trine wird durchdrehen, wenn ich nicht bald komme.«

Der Ring. Sie trug den Ring nicht.

»Wo ist er?«, fauchte er.

Sie atmete tief ein, legte den Kopf zurück, schloss die Augen und stöhnte.

»Wo … ist … er?«

»In meiner Handtasche.« Wieder liefen ihr Tränen über die Wangen.

»Er hat nicht ganz gepasst! Wir passen nicht ganz!«

»Also hast du ihn gestern als Erstes abgenommen? Du hast letzte Nacht nicht damit geschlafen?«

Ihr Gesicht war immer noch den Sternen zugewandt, die hinter der dünnen Wolkenschicht leuchteten. Er presste die Kiefer aufeinander. Sie versuchte zu schlucken. Seine Fäuste begannen zu zittern.

Renn es aus dir raus, du kannst nach Hause kommen, wenn du wieder ruhig bist.

Das Blut pochte jetzt nicht mehr sanft in seinen Schläfen, es hämmerte und wütete.

Er wusste, dass er hätte tun sollen, was seine Mutter ihm immer geraten hatte, wenn er kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren. Wenn er dabei war, verrückt zu werden und alles um ihn herum schwarz wurde. Als er dort gestanden und auf Rebekka gewartet hatte, war ihm kurz der Gedanke gekommen, zum Rotsethorn zu laufen, aber dann hatte er eingesehen, dass es ihm nicht einmal dann helfen würde, wenn er bis zum Gipfel hinaufstürmte.

Nicht an diesem Abend.