Kapitel 34

Volda, 1999, Tag 61

Es waren einundsechzig Tage vergangen, seit er Rebekka zum ersten Mal begegnet war, und drei Wochen, seit er sie umgebracht hatte. Er hatte danach die Wohnung nur verlassen, um sich zur Arbeit oder zum Supermarkt zu begeben, doch an diesem Tag war er fest entschlossen, einen langen Spaziergang zu unternehmen. Nicht weil er wütend war, obwohl ihn der Gedanke an den Verrat noch immer aufwühlte, sondern weil er sich die letzten Wochen wie in einem Nebel bewegt hatte. Die Ereignisse des Abends unten in Elvadalen hatte er noch genau in Erinnerung, doch die Tage und Wochen danach waren irgendwie an ihm vorbeigezogen.

Er stand in der Küche und betrachtete den Klecks Butter, der schmolz und in der Pfanne umherfloss. Aus dem Kühlschrank nahm er sich das letzte Ei. Das Geräusch, das entstand, als er es an der eisernen Pfanne aufschlug, war das gleiche wie jenes, das er gehört hatte, als er auf Rebekkas Kopf getreten war. Das war das Letzte, was er getan hatte. Ein letzter Gruß an die kleine Hure unter seinem Stiefel. Danach war er nach Hause gegangen und hatte gewartet, hatte auf das knirschende Geräusch der Autoreifen auf dem Kies vor dem Haus gewartet. Auf die Finger, die an das geriffelte Glas der Haustür klopften. Auf den Lensmann, der ihn mit entschiedener Stimme bitten würde, für eine kleine Unterhaltung mitzukommen. Nein, nicht bitten, beordern. Der ihn auf die Rückbank des Streifenwagens befördern und ins Lensmannbüro verfrachten wollte, wo er dann aufgefordert würde, zu erläutern, was er an jenem Abend getan hatte, wenngleich das nur der Verschleierung und Irreführung diente, denn selbstverständlich wussten sie, was er an jenem Abend getan hatte. Er war nämlich gesehen worden, als er im Park gewartet hatte. Von jemandem beobachtet worden, als er schnell nach Hause geeilt war.

Aber niemand war gekommen, um an seine Tür zu klopfen.

Es kümmerte ihn nicht, dass einer der Nachbarn sie vielleicht einmal gesehen hatte, als sie gekommen oder wieder gegangen war. Sie war ausschließlich abends bei ihm gewesen, und sein Zimmer ließ sich von außen nicht einsehen. Es war durchaus möglich, dass sie von jemandem beobachtet worden war, während sie zu ihm ging oder von ihm kam, aber dann hatten die Nachbarn allenfalls eine Gestalt gesehen. Eine Gestalt, deren Umrisse zu jedem x-beliebigen Mädchen gehören konnten.

Er briet das Ei, streute Salz und Pfeffer darauf und legte es auf eine Scheibe Brot, ehe er sich an den Küchentisch setzte und zu essen begann. Die Nachmittagssonne schien durch das Fenster, und er dachte an den Ring, den er zusammen mit der Handtasche in den Fjord geworfen hatte. Vielleicht hätte er ihn besser behalten sollen, ihn der Nächsten geben, auch wenn das etwas unpassend wäre – in gewisser Weise gehörte er ja Rebekka. Und einen derartigen Ring weiterzugeben, konnte einfach nicht viel Gutes mit sich bringen. Andererseits war er wie neu gewesen. Nein, nicht wie neu. Er war neu. Nur einmal anprobiert, und selbst das nicht wirklich. Aber nein. Ihn weiterzugeben hätte wohl schlechtes Karma bedeutet. Es war richtig gewesen, sich von ihm zu trennen.

Er hatte den Leichenwagen gesehen, der Rebekka am nächsten Tag abtransportiert hatte. Der war in Begleitung der Polizei und eines Wagens vom Norwegischen Rundfunk NRK gewesen, weswegen es keinerlei Zweifel gab, dass sie da hinten drinlag. Drei Tage später hatte Rebekka ihn von der Titelseite der VG angelächelt, wo auch eine kurze Zusammenfassung des Obduktionsberichts zu lesen war, den ein Rechtsmediziner namens Ole Sadé am Krankenhaus Haukeland in Bergen verfasst hatte: REBEKKA WURDE ERWÜRGT . Er erinnerte sich, dass er die Hände um ihren Hals gelegt hatte und sie aufhörte, Widerstand zu leisten, doch er hatte geglaubt, dass sie lediglich das Bewusstsein verloren hatte. Jedenfalls war er ganz sicher, dass sie noch am Leben gewesen war, als er ihr die Zähne ausgetreten hatte. Deshalb hatte er es auch getan: Er hatte gehofft, dass es sie aus dem Traumland zurückbringen würde, damit er sie dann erneut dorthin schicken könnte.

Nachdem er aufgegessen hatte, zog er sich an und ging hinaus. Gegen halb fünf kam er an der Hochschule vorbei. Die Vorlesungen waren schon längst beendet. Er spazierte über den Campus und weiter bis zur Steinbrücke, die zum Parkplatz hinüberführte. Dabei dachte er daran, dass hier das komische Bauchgefühl aufgekommen war, als Rebekka sich an den Pavian geklammert hatte. Der Pavian, der sie vor drei Wochen um den Verstand gevögelt hatte. Das Schwein hatte zwei Tage danach seine widerliche Fresse in Dagbladet präsentiert. Dadurch war klar geworden, dass der Typ Sverre Roer hieß, neunzehn Jahre alt war und an der Hochschule Musik studierte. Der Artikel handelte davon, dass der Fotzendieb der Letzte war, der Rebekka lebend gesehen hatte, und dass beide sehr enge Freunde gewesen waren. Sehr eng , hatte er gedacht, ja, dass sie das gewesen waren, hätte er unterschreiben können. Derselbe Clown war dann auch mit geschwollenen Augen und feuchten Wangen in die Bresche gesprungen, als der Studentenverband nach drei Tagen eine Gedenkstunde im Grünen Baum abgehalten hatte. Er selbst war nicht dabei gewesen, hatte aber einen Bericht in den TV 2 -Nachrichten gesehen, in dem ein Reporter und ein Kameramann draußen vor der Kneipe standen und filmten, während die Untröstlichen einander trösteten.

Er ging wieder zur Straße hinunter. Der Gipfel des Hausbergs Rotsethorn lag in Nebel eingehüllt. Er hatte Lust verspürt, die Strecke hinaufzugehen. Ein Kollege von ihm, der ebenfalls von auswärts kam, hatte das in der vergangenen Woche gemacht und erzählt, dass der Ausblick spektakulär sei.

Die Straßenbeleuchtung wurde eingeschaltet, während er den Bürgersteig an der E39 entlangging. Als er sich Elvadalen näherte, wurde er langsamer. Seit jenem Abend war er nicht mehr hier unten gewesen, hatte den Tatort nur am heimischen Fernseher und in verschiedenen Zeitungen gesehen. Eine Frau mit einem Kinderwagen kam ihm entgegen. Sie lächelte ihn an und sagte »Hallo«, während sie auf Elvadalen zuging. Er grüßte zurück, blieb jedoch stehen, wo der Asphalt in Kies überging. Er folgte der Frau mit dem Blick, derweil sie auf die Brücke über den Fluss zuging.

Das rot-weiße Absperrband der Polizei, das er auf allen Fotos gesehen hatte, war nicht mehr da. Ein Haufen kleiner Teddybären, die bereits von Wind und Wetter zerzaust waren, lag zusammen mit ausgebrannten Grablichtern an einem der Baumstämme.

Hinter sich konnte er lautes Kinderlachen hören, und er sah zwei Jungen auf ihren Fahrrädern. Sie fuhren mit hochgerissenen Vorderrädern im Zickzack umher. Er trat an die Seite, ließ sie vorbeirollen und schlug den Weg ins Zentrum ein, um sich etwas zu trinken zu kaufen.

Der junge rothaarige Mann an der Kasse blickte kaum auf, als er in den Laden kam.

Er manövrierte sich zwischen zwei Regalen mit Backwaren und Konserven hindurch und steuerte auf die Kühlschränke zu.

Ehe er sich dessen bewusst wurde, hielten seine Füße plötzlich inne, machten eine Vollbremsung. Vor einem der Kühlschränke stand eine junge Frau. Er sah sie im Profil. Sie war schlank und nicht sonderlich groß. Wie Rebekka. Sie hatte ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Wie Rebekka. Und sie war genauso schön, wenn nicht sogar noch schöner.

Mit langsamen Schritten trat er zurück zwischen die Regale und beobachtete sie durch eine Lücke in den Warenfächern. Obwohl er sie nur einmal zuvor gesehen hatte, war er sicher, dass es sich um die Cousine handelte. Trine.