Kapitel 35

Donnerstag, 21. November

Das Restaurant Slippen war zur Hälfte gefüllt. Der Vesterelv floss gleich unter den Fenstern dahin, und die Fähre mit Kurs auf Gressvik tuckerte gerade vorbei. Die Dachetage des Literaturhauses auf der anderen Seite des Flusses badete in einem intensiven weißen Licht.

»Du hast immer noch nicht erzählt, ob der Fisch, den du gestern gekauft hast, auch was geworden ist«, sagte Tony Isdahl über den Rand seines Weinglases hinweg. Er kippte den letzten Rest in sich hinein. Kristin tat es ihm gleich und lachte leise in sich hinein, während sie austrank. Sie schob die Dessertschale mit dem tropfenförmigen Himbeersorbet, für das sie keinen Platz mehr im Magen hatte, zur Seite.

»Worüber lachst du?«, fragte er.

»Du fragst, ob ich den Fisch hinbekommen habe. Nicht, ob der Fisch gut war. Du gibst mir also zu verstehen, dass es einzig und allein mein Fehler gewesen wäre, wenn das Abendessen von gestern nicht zehn von zehn Punkten erreicht hätte. Wie furchtbar arrogant du bist.«

Tony Isdahl entblößte seine Zähne zur Gänze. Sie waren weiß und regelmäßig.

»Ich weiß , dass der Fisch gut war, also kam es tatsächlich ausschließlich auf dich an.«

»Wie schon gesagt: Wie furchtbar arrogant du bist!« Kristin lachte. »Was glaubst du denn?«

»Ich bin ganz sicher, dass du es hinbekommen hast. Und weißt du auch, weshalb ich so sicher bin?«

»Nein?«

»Weil ich es ansonsten nämlich schon gehört hätte. Dann hättest du mir gleich hier vor der Tür aufs Brot geschmiert, dass das, was ich dir geraten habe, eine völlig unbrauchbare Methode zum Fischbraten ist.«

»Da hast du allerdings recht.«

Ein Kellner mit Nordland-Akzent fragte, ob sie noch mehr Wein haben wollten. Beide nickten zur Bestätigung. Die nächste Viertelstunde berichtete Tony Isdahl, dass er in Lillestrøm geboren und aufgewachsen war, dass er in verschiedenen norwegischen Restaurants und Hotels als Koch gearbeitet hatte, außerdem fünf Jahre in Sternerestaurants in London und Paris, bevor er vor vier Jahren zurück in die Heimat gezogen war und dass alles, was mit Fisch zu tun hatte, immer schon seine Stärke gewesen war. Das, worin er es wirklich zur Meisterschaft gebracht hatte.

»Du sagst also, dass du mir niemals beibringen kannst, ein Steak zu braten?«

»Dir das beizubringen, werde ich schon auch noch schaffen, aber wie gesagt: Meine Stärke liegt bei Fisch und Meeresfrüchten.«

»Ich dachte, ein ehemaliger Michelin-Sternekoch meistert absolut alles, was mit Essen zu tun hat.«

»Ich vermute mal, dass wir etwas unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was meistern bedeutet. Du kennst doch diese Promi-Köche, die man in verschiedenen Kochsendungen im Fernsehen sieht?«

»Ja?«

»Das gemeine Volk von der Straße glaubt natürlich, dass diese Köche alles können – genauso wie du es glaubst. Und wenn du jeden Einzelnen von ihnen fragtest: Gibt es in diesem Land einen Koch, der noch vielseitiger und besser ist als Sie?, würdest du ein Nein zur Antwort erhalten. Sogar ein absolutes Nein. Weißt du, es gibt keinen Menschen mit einem größeren Ego als einen richtig guten Koch. Aber!« Er hielt einen Zeigefinger in die Luft. »Sie irren sich alle. Norwegens allerbester Koch heißt nämlich …«

»Tony Isdahl?«, unterbrach Kristin.

»Haha. Nein. Olav Birkeland.«

»Nie von gehört.«

»Und darüber freut sich Olav. Er hasst nämlich Aufmerksamkeit, was wiederum die Ursache dafür ist, dass er nichts anderes macht, als Kochbücher zu schreiben. Aber da sieht man es. Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen.«

Tony Isdahl griff nach seinem Glas.

*

In den dreißig Minuten, die vergangen waren, seit Magnus das Haus verlassen hatte, war die drohende Wolkenschicht dünner geworden, und die Temperatur war auf minus fünf Grad gefallen. Der Große Wagen erstrahlte am dunklen Himmel, während Lady Gaga von einem Typen sang, der ihr eine Million Gründe gegeben hatte, um ihn zu verlassen, wohingegen sie nicht mehr als einen guten Grund brauchte, um zu bleiben.

Magnus hatte gerade Lars Weberg über Mogens Poulsens Anruf in Kenntnis gesetzt und ihn informiert, dass er auf dem Weg nach Volda sei und dass der Kollege am nächsten Tag allein nach Halden fahren müsse, um die Psychiaterin Karen Thoen zu treffen. Der Motor röhrte auf, als die 350 Pferde unter der Haube vom Trab in den Galopp wechselten. Magnus wechselte die Spur und fegte an einem Sattelschlepper vorbei. Er hielt sich weiter links und kam an der Abfahrt nach Moss vorbei.

Er dachte daran, wie wenig er über den Fall Rebekka Vehler wusste. Als er Polizeistudent in Oslo gewesen war, hatte er oft die Abende und einen Großteil der Nächte damit verbracht, in alten Fällen zu stöbern. In gelösten und ungelösten, norwegischen und ausländischen. Und ja, er hatte auch etwas über den Mord an der Studentin in Volda gelesen, viele Informationen darüber gab es allerdings nicht. Er fand es eigenartig, dass in neuerer Zeit nicht mehr aus der Sache gemacht worden war. Wo waren die Amateurdetektive, die sich in ungelöste Fälle vertieften? Wo waren die Podcast-Produzenten und Produktionsgesellschaften, die ein Kamerateam und einen Enthüllungsjournalisten losschickten, um den alten Fährten abermals zu folgen? Im Fall Rebekka Vehler war das nicht passiert. Seitdem die Ermittlungen im Jahr 2002 eingestellt worden waren, hatte niemand mehr für sie gekämpft. Vielleicht war es so, wie der Lensmann Sigmund Aasen gesagt hatte, dass alles getan worden war und es nichts mehr gab, womit sich weiterarbeiten ließ?

Magnus’ Gedanken und Lady Gagas dunkle warme Stimme wurden vom Klingeln des Handys unterbrochen. Er blickte auf das mit dem Telefon verbundene Display am Armaturenbrett. Der Name, der dort stand, ließ ihn unmittelbar denken, dass etwas passiert war, und er brauchte nicht mehr als das »Hallo« zu hören, ehe seine Vermutung bestätigt wurde. Die Stimme klang apathisch. Als ob er bis in den Nachmittag hinein eine Afterparty gefeiert hätte und gerade erst wach geworden war. Nuschelnd fragte er, wo Magnus sei.

»Moss.« Magnus wechselte auf die rechte Spur. »Oder besser gesagt, gleich hinter Moss. E6.«

»Kannst du mich in Göteborg abholen?«

Antons Stimme war heiser. Die Uhr zeigte 20:25. Die Maschine ging in eindreiviertel Stunden. Magnus biss sich auf die Unterlippe. Er lauschte Anton, der, auch wenn er kein einziges weiteres Wort sagte, trotzdem alles erzählte.

»Ich verstehe, wenn das nicht geht«, fuhr Anton schließlich fort. »Ich verstehe es sogar, wenn du sagst, dass es nicht passt, auch wenn es passen sollte. Das würde ich vermutlich tun.«

»Ist schon in Ordnung, Anton.« Magnus drehte das Lenkrad und fuhr an der Abfahrt bei Son von der E6. »Ich fahre jetzt los.«

*

»Von Paris nach Fredrikstad«, sagte Kristin und nahm ihr Glas.

»Klingt wie der Titel eines Romans.«

Tony Isdahls Blick hielt den ihren gefangen.

»Dann allerdings ein ziemlich schlechter«, entgegnete sie und trank einen Schluck.

»Du bist übrigens genau so, wie ich mir das vorgestellt habe, nachdem ich dir gestern begegnet bin.«

»Wie denn? Bedeutet das, du hast, nachdem ich gestern gegangen bin, mich als diejenige abgespeichert, die bis zum dreißigsten Lebensjahr nicht wusste, wie man Fisch brät?«

Er legte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich vor.

»Ich dachte, dass du vielleicht ein bisschen … arg … unbekümmert bist? Hast einfach ’ne ziemlich große Klappe. Ich habe mich gestern natürlich nicht getraut, das zu sagen, sonst hättest du mir wohl Handschellen angelegt und einen Strafzettel ausgestellt.« Er lachte trocken und aufgesetzt. »Jetzt neige ich eher zu der Ansicht, dass du vielleicht nicht ganz so taff bist, wie du gern erscheinen möchtest, aber um auf deine Frage zu antworten: Ja, ich habe gestern an dich gedacht und darauf gehofft, dass du bald wieder vorbeikommst.« Er lachte erneut. Dieses Mal war das Lachen echt. »Wobei ich nicht geglaubt habe, dass du so schnell zurückkommen würdest, aber ich verstehe dich gut … Kammmuscheln sind lecker. Und Kammmuscheln im Slippen sind noch besser.«

Kristin musterte ihn. Ihre Augenlider wurden langsam schwer. Reiß dich zusammen, dachte sie, werd jetzt nicht betrunken. Sie stellte das Glas auf den Tisch und schob es hinter die Kerze, fast außer Sichtweite.

»Du bist ein scheußlicher Mann, Tony Isdahl. Ein scheußlicher Mann, der dabei ist, mich betrunken zu machen. Du musst damit aufhören. Erzähl mir lieber von deinem grauenhaft schlechten Roman. From Pärris to Fredrikstad.«

Tony Isdahls Kinnlade fiel übertrieben schockiert herunter.

»Du hast eine unfassbar große Klappe, bist du dir dessen eigentlich bewusst?«

»Ja, du hast es mir vor zwanzig Sekunden bereits gesagt. Hallo? Noch hast du mich nicht betrunken gemacht. Das wird dir heute Abend auch kaum gelingen, denn …«, sie schob die Hand hinter die Kerze, griff nach dem Glas und kippte den Rest des Weins in sich hinein. »Ich höre jetzt auf. Du hast also deinen Job als Sternekoch in Paris aufgegeben, um in Fredrikstad Fisch auszunehmen und Kochtipps zu geben?«

»Ich war es leid, ständig 200 Prozent zu geben, und das muss man, wenn man in den besten Restaurants der Welt arbeitet. Am Ende ist mir schon übel geworden, wenn ich nur daran dachte, zur Arbeit zu gehen. Es war dann einfach nicht mehr lustig. Wie ist das bei dir?«

Kristin erzählte, dass sie nach dem sechs Jahre zurückliegenden Examen an der Polizeihochschule ein Jahr lang im gewöhnlichen Streifendienst in der Hauptstadt tätig gewesen war, gefolgt von drei Jahren bei der berittenen Polizei ebenfalls in Oslo, ehe sie sich für eine Stelle als Ermittlerin in Moss beworben hatte.

»Vom Pferderücken zum Schreibtisch. Hm. Tja.«

»Was?«

»Nicht so ein starker Buchtitel.« Er blickte sie schelmisch an. »Ich habe mal gehört, dass man sehr geachtet wird, wenn man zum Reiterkorps gehört. Angeblich soll das einer der angesehensten Jobs sein. Wurde ich da falsch informiert?«

»Nein, ganz und gar nicht. Ich habe mich da außerordentlich wohlgefühlt, aber du weißt, wie das ist … die Liebe kam. Und die kam aus Halden. Wir wollten es vor den Toren Oslos mit einer Familiengründung versuchen. So wurde es dann Moss.«

Tony Isdahl hatte tags zuvor im Fischgeschäft direkt auf ihre Finger gesehen. Sowie auch mehrmals im Laufe dieses Abends. Und jetzt tat er es wieder.

»Kommt jetzt der Punkt, an dem du mir erzählst, dass du einen Partner hast?«

»Tja. Was sagt man in so einem Fall? Dass es kompliziert ist?«

»Der Klassiker.« Tony Isdahl verdrehte übertrieben die Augen. »Und lass mich hinzufügen: Herrje

»Touché.«

»Ja.« Er grinste sie schief an. »Jetzt hast du es aber gekriegt. Also hast du jemanden?«

»Kann man sagen, dass er eher ein Zimmergenosse als ein Liebhaber ist?«

»Du hast einen Mitbewohner …?« Tony Isdahl runzelte die Stirn. »Im Ernst?«

Kristin spielte es mit einer Handbewegung herunter.

»Es ist jetzt ein halbes Jahr so hin- und hergegangen. Er arbeitet offshore, und wenn er frei hat, sitzt er nur zu Hause und spielt PlayStation.«

»Jetzt sag nicht, dass er auch Kopfhörer und ein Mikrofon hat.«

»Aber ja doch. Brüllt auf Englisch irgendwelche Kommandos.« Kristin grinste. »Am Anfang fand ich das ein bisschen süß, aber da hat er es auch nur mal einen Abend zwischendurch gemacht. Jetzt ist es mittlerweile so schlimm, dass er anderen Spielern zusieht, wenn er selbst nicht spielt. Ich habe mich so oft bei ihm beschwert, aber ich dringe einfach nicht zu ihm durch.«

»Und jetzt ist er arbeiten, vermute ich?«

»Ja. Das Ganze ist von meiner Seite aus wohl eigentlich beendet. Vielleicht auch von seiner.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Ist wohl eigentlich beendet …?« Tony Isdahl seufzte. »Kristin?«

»Ja, ich weiß, wie blöd sich das anhört. Können wir über was anderes reden?«

»Eine Frage noch?«

»Eine.«

»Wie viele Runden musstest du drehen und überlegen, ehe du den Kammmuschelanruf getätigt hast?«

»Zwei. Findest du, ich hätte es besser sein lassen sollen?«

Tony Isdahl schüttelte den Kopf. Er hob das Glas zum Anstoßen und registrierte, dass ihres leer war. Er sah sie an.

»Ich weiß, dass du vorhin Stopp gesagt hast«, sagte er und suchte Augenkontakt mit einem Kellner, »aber jetzt beschließe ich, dass du noch ein Glas trinkst. Das ist der Preis dafür, dass ich dir beigebracht habe, Fisch zu braten.«

Kristin lächelte geschlagen. Eine Minute später hoben beide die Gläser. Es klirrte.

»Ich hatte eigentlich beschlossen, nicht zu fragen.« Tony Isdahl ließ sich mit dem Glas in der Hand auf seinem Stuhl zurücksinken. »Aber es käme mir ziemlich unnatürlich vor, wenn ich es nicht täte.«

»Was denn?«

»Lisette. Ich nehme an, dass sie wieder aufgetaucht ist?«

Kristin spülte den Mund mit Wein, schluckte und spürte, dass sie wirklich hätte aufhören sollen, als sie es beschlossen hatte.

»Darüber kann ich nicht reden.«

»Das verstehe ich, aber ich gehe davon aus, dass sich das alles geklärt hat, sonst könnten du und ich ja jetzt nicht hier sitzen und uns amüsieren …« Da war er wieder, der geile Blick, mit dem er gestern im Fischgeschäft versucht hatte, sie auszuziehen. »Du kannst übrigens selbst entscheiden, ob da ein Punkt oder ein Fragezeichen am Ende des Satzes steht.«

Kristin dachte nach. Als sie am Vormittag zweimal hatte nachdenken müssen, ehe sie anrief und nach ihm fragte, war das nicht wegen ihres Mitbewohners geschehen, der bald ein Ex-Liebhaber sein würde, sondern weil sie sich gefragt hatte, ob sich wohl alles in einem schicklichen Rahmen abspielen würde, da sie Tony Isdahl nun mal im Zusammenhang mit der Arbeit kennengelernt hatte. Wenn es noch immer Zweifel an seiner Rolle in dem Vermisstenfall gäbe, hätte sie es sein gelassen. Er war wirklich attraktiv, aber nicht so attraktiv, dass sie deswegen ihre Karriere aufs Spiel setzte. Auch nicht so attraktiv, dass sie das Risiko eingehen wollte, ins Büro des Direktors zitiert zu werden, der in diesem Fall der Polizeichef war.

Oder doch. Tatsächlich war er es.