Donnerstag, 21. November
Magnus war schnell gefahren. Um zwanzig vor elf bog er auf den Skeppsbroplats vor dem Comfort Hotel Göteborg ein. Er sah Anton hinter den Fenstern der Rezeption. Mit einer Tasche auf dem Schoß saß er gleich neben dem Eingang und stand auf, sobald er Magnus erblickte. Seine Bewegungen waren langsam, als ob er die letzten Kraftreserven aufbringen müsste, um auf die Füße zu kommen. Die Türen glitten zur Seite und entließen ihn. Die Innenbeleuchtung schaltete sich ein, als er die Beifahrertür öffnete. Anton stopfte seine Tasche zwischen die Vordersitze. Seine Augen waren traurig und geschwollen.
Magnus begrüßte ihn mit einem »Hallo«, erhielt aber nur ein ernstes Nicken ohne Augenkontakt als Antwort. Anton setzte sich auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. Die Innenbeleuchtung dimmte langsam herunter. Anton schnallte sich an, legte den Kopf zurück und schloss die Augen.
Er sagte nichts, und als Magnus eine Stunde später von der Autobahn fuhr und sich zwischen die Zapfsäulen an der Tankstelle im schwedischen Håby stellte, schlief er mit offenem Mund. Magnus stieg aus, schloss die Tür so leise wie möglich, nahm das Zapfventil aus der Halterung und fing an zu tanken. Auf dem Rastplatz gleich gegenüber parkte eine Reihe Lastwagen. Im Haltebereich stand ein alter Volvo 240, aus dem Musik drang. Der Fahrer hatte das Fenster heruntergelassen und rauchte. Magnus warf einen Blick auf Anton. Sein Mund stand immer noch offen. Das Lachen eines Mädchens schallte über den Platz. Magnus blickte auf. Es kam aus dem Volvo. Der Fahrer schnippte die Zigarette weg, kurbelte das Fenster hoch und fuhr los. Auf dem Weg über den Parkplatz schwang das Heck des Wagens von einer Seite zur anderen.
Als der Tank voll war, ertönte ein Klicken. Magnus setzte das Zapfventil zurück in die Halterung, die mit 95 gekennzeichnet war, und betrat den Laden. Er nahm eine Sechserpackung Red Bull und einen halben Liter Cola aus dem Kühlschrank. Auf dem rotierenden Grill an der Kasse lagen ein paar Würstchen, und in dem Glastresen nebenan gab es Backwaren. Fertig belegte Baguettes und Sandwiches. Magnus stellte die Getränke ab, deutete auf die Sandwiches und bat um zwei mit Käse und Schinken. Die Verkäuferin packte die Waren in eine Tüte. Magnus bezahlte und ging hinaus. Durch die Frontscheibe konnte er erkennen, dass Anton wach geworden war.
»Gut geschlafen?«, fragte Magnus und reichte Anton eines der Sandwiches und die Cola.
Anton antwortete mit einem Schulterzucken und legte das Sandwich auf das Armaturenbrett.
»Hier bin ich früher immer rausgefahren.« Anton blickte auf die Tankstelle und drehte den Verschluss der Colaflasche ab. »Das war ein Ritual. Egal, ob es im Cosmopol gut oder schlecht gelaufen war, habe ich hier immer angehalten, um etwas zu essen und zu trinken zu kaufen. Auf den Schuppen in Håby konnte man sich sozusagen stets verlassen. Oft mehr, als man sich auf die Karten verlassen konnte.«
»Ach ja?« Magnus öffnete eine Dose Red Bull, kippte die Hälfte des Inhalts in sich hinein und stellte sie dann in die Getränkehalterung. Er wickelte das Sandwich aus der Verpackung und fing an zu essen, während er gleichzeitig von der Tankstelle wegfuhr. »Hast du gar keinen Hunger?«
»Nein. Danke, übrigens.« Anton deutete auf die Flasche. »Und danke, dass du gekommen bist.«
»Schon in Ordnung«, erwiderte Magnus kauend.
Er legte sich das Sandwich auf den Oberschenkel, nahm noch einen Schluck aus der Dose und drückte auf dem Beschleunigungsstreifen zur E6 das Gaspedal durch. Er rechnete mit einer Bemerkung von Anton. Dass er wie ein Achtzehnjähriger fahre, der gerade seinen Führerschein erworben hatte. Dass er es langsam angehen lassen sollte, weil es nämlich glatt sein könnte. Dass in Schweden ein Tempolimit herrschte, auch wenn man einen Wagen mit norwegischem Kennzeichen fuhr. Dass, wenn er hier jetzt seinen Führerschein verlöre, dasselbe auch für Norwegen gelten würde. Aber Anton sagte nichts. Stattdessen ließ er den Kopf zurücksinken. Die Augenlider blieben halbwegs geöffnet. Ein Lastzug mit einer Reihe gleißender Scheinwerfer auf dem Dach kam ihnen entgegen und fuhr in Richtung Süden. Anton drehte sich weg und sah aus dem Seitenfenster. Einen Augenblick später murmelte er etwas. Die Scheibe vor seinem Mund beschlug.
»Ich habe dich nicht verstanden«, sagte Magnus.
»Ich sagte«, Antons Stimme war ein winziges bisschen lauter, »ich glaube, am besten nehmen wir die alte Brücke in Svinesund. Da besteht weniger Risiko für eine Zollkontrolle.«
»Wegen einer Zollkontrolle mache ich mir keine Sorgen. Ich hab von nichts zu viel gekauft. Oder ist deine Tasche voller Heroin?« Magnus grinste, obwohl er wusste, dass Anton es nicht sehen konnte.
»Nein, aber ich habe da irgendwas zwischen neunzig- und hunderttausend bei mir.«
»Hunderttausend?«, wiederholte Magnus laut. »Beim Grenzübertritt darf man maximal fünfundzwanzigtausend in bar mit sich führen.«
»Das ist mir klar. Deshalb sage ich es dir ja jetzt.«
»Verfluchter Mist.« Magnus schüttelte den Kopf. »Du verarschst mich jetzt, stimmt’s?«
»Was hätte ich tun sollen? Fünfundzwanzig mitnehmen und den Rest unter der Matratze im Hotel verstecken? Wir werden sowieso nicht angehalten. Und falls doch, werde ich selbstverständlich erklären, dass du nichts davon wusstest. Dass ich es im Casino gewonnen und schlicht und einfach nicht weiter darüber nachgedacht habe.«
»Du hast hunderttausend gewonnen?«
»Nein, ich hab ein Plus von circa achtzig gemacht. Zwanzig hatte ich dabei, und damit habe ich mich in ein Pokerturnier eingekauft. Ich bin nicht mal sicher, ob es überhaupt neunzigtausend sind.«
»Und wieso bist du dann so verdammt schlecht drauf?« Magnus hob die Stimme. »Obwohl du gerade einen Haufen Geld gewonnen hast?«
»Nora. Das Mädchen, das du in der Eingangshalle getroffen hast.«
»Ja? Was ist mit ihr?«
Anton erzählte von dem Telefonat, das er mit der Kollegin aus der psychiatrischen Notaufnahme geführt hatte. Magnus konnte Nora vor sich sehen. Den schüchternen Blick, das zaghafte Hallo. Ihr blondes Haar und den süßen Entschuldige-dass-ich-lebe-Gesichtsausdruck. Anton murmelte etwas.
»Was?«
»Sie hat sich ein paar Fotos angesehen, die ich auf dem Handy habe.«
»Und?«
»Sie hat vermutlich ihr eigenes Handy von meinem angerufen, als wir miteinander gesprochen haben. Das ist die einzige Möglichkeit, wie sie an meine Nummer gekommen sein kann. Die steht sonst nirgendwo.«
»Das spielt doch jetzt wohl keine große Rolle mehr«, sagte Magnus.
»Ich werde Sie also gar nicht mehr sehen. Das hat sie zu mir gesagt, bevor ich gestern Abend gefahren bin. Und sie war es, die mich angerufen hat, Torp. Nicht einmal, sondern zweimal. Ich stand mit dem Telefon in der Hand im Hotelzimmer. Ich habe die Nummer nicht gekannt, und ich hatte keine Lust ranzugehen, weil ich ins Casino hinunterwollte. Vermutlich wäre sie noch am Leben, wenn ich den Anruf angenommen hätte. Nein, eigentlich weiß ich, dass sie es noch wäre. Egal wie tief sie in die Dunkelheit hinabgefallen wäre, hätte ich es geschafft, sie wieder herauszuholen. Jedenfalls lange genug, damit andere sich dann um sie hätten kümmern können.«
»Du wusstest ja nicht, dass sie es war.«
»Was, wenn es irgendein Polizist gewesen wäre, der angerufen hätte, um mir mitzuteilen, dass sie gerade Alex vom Asphalt gekratzt hätten? Ich habe einzig daran gedacht, in dieses verfluchte Casino hinunterzukommen.« Anton schnaubte. »Um Karten zu spielen, Torp.«
»Es ist nicht deine Schuld, und das wirst du auch begreifen, sobald du dich wieder gefangen hast.«
»Ich weiß ja, dass es nicht meine unmittelbare Schuld ist, aber ich hätte es verhindern können, wenn ich nicht die ganze Zeit nur an mich gedacht hätte.«
»Was ist denn überhaupt passiert?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht nach Göteborg hätte fahren sollen.«
Es dauerte nicht lange, ehe er wieder eingeschlafen war. Magnus schaltete das Radio ein. »What’s up« von den 4 Non Blondes waberte durch das Wageninnere. Er drehte die Lautstärke sowie seine Sitzlehne etwas herunter, kippte den Rest der Dose in sich hinein und aktivierte den Tempomat. Er ließ zwei Finger unten auf dem Lenkrad ruhen, aß sein Sandwich auf und öffnete eine neue Dose Red Bull.