Kapitel 39

Freitag, 22. November

Es war nicht die Musik, die Anton plötzlich aus dem Schlaf riss, denn die wurde so leise gespielt, dass er sie kaum hörte. Es hatte einen Knall gegeben, und als er sah, dass Magnus nicht am Steuer saß, dachte er, dass ihn wohl der Knall geweckt hatte, der mit dem Zuschlagen der Autotür einhergegangen war. Anton sah hinaus. Sie befanden sich auf einem Rastplatz. Es war dunkel, doch der sternenklare Himmel und der Schnee, der auf dem Boden lag, erhellten zusammen mit dem Lichtkegel der Autoscheinwerfer die Landschaft. Er sah aus dem Seitenfenster, drehte sich um. Durch die Heckscheibe konnte er Magnus sehen, der breitbeinig ein paar Meter hinter der Auspuffwolke stand, die von den Rücklichtern rot eingefärbt wurde. Anton dachte, dass auch er wohl etwas Wasser lassen sollte. Er öffnete die Tür und stieg aus. Die Luft war kalt und trocken. Er lief an den schneebedeckten Picknicktischen vorbei und knöpfte sich die Hose auf.

»Wo sind wir?«, fragte er, während der Strahl auf den Schnee traf.

»Otta«, kam es von der anderen Wagenseite.

Er wiederholte die Frage. Magnus erwiderte das Gleiche wie zuvor. Anton zog sein Handy hervor. Die Uhr zeigte 04:38. Wie spät war es gewesen, als sie im schwedischen Håby getankt hatten? Halb zwölf oder zwölf? Von dort aus nach Fredrikstad betrug die Fahrzeit nicht mehr als maximal anderthalb Stunden. Er blickte über die Schulter. Magnus schloss den Hosenschlitz und drehte sich gleichzeitig zu Anton um.

»Otta …?«

»Eine kleine Stadt im nördlichen Gudbrandsdal. Am ehesten vermutlich bekannt für …« Magnus zuckte mit den Schultern und trat auf den Wagen zu. »Offen gestanden weiß ich nicht, ob die überhaupt für irgendwas bekannt ist.«

Anton blickte auf den Dampf, der vom Schnee vor ihm aufstieg, brachte sein Geschäft zu Ende und knöpfte sich die Hose wieder zu. Magnus stand an der Fahrertür und sah über das Autodach zu ihm herüber.

»Torp. Findest du, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um es mit Scherzen zu versuchen?« Anton wartete auf eine Antwort, doch Magnus sah ihn nur weiter unverwandt an. »Ich hoffe, du musst jetzt nicht allzu lang über die Frage nachdenken, ich habe nämlich noch zwei.«

»Nämlich?«

»Wieso sind wir hier?«

»Ich war auf dem Weg nach Gardermoen, als du mich angerufen hast. Ich will nach Volda. Ich folge einer möglichen Spur im Fall Cecilie Olin.«

»O. … k.« Anton ging langsam zurück zum Auto, während er auf seine Schuhe blickte. Er blieb zwei Meter vor dem Wagen stehen und presste die Lippen aufeinander. »Frage Nummer zwei: Warum, zum Teufel, hast du mich nicht zu Hause abgesetzt?«

»Hast du mal in den Spiegel geguckt?«

»Seit einigen Stunden nicht.«

»Ich schlage vor, dass du dich in den Wagen setzt, die Sonnenblende runterklappst und mal einen Blick riskierst. Dann verstehst du vielleicht, warum ich dich nicht zu Hause abgesetzt habe.«

»Wir kehren um.«

»Nein.«

»Ich setze mich nicht eher in den Wagen, bis die Schnauze in die andere Richtung zeigt«, sagte Anton gereizt. »Ich will nach Fredrikstad. Ich muss nach Fredrikstad.«

»Das ist mir scheißegal.«

»Was sagst du da?«

»Wieso musst du nach Fredrikstad? Was ist so verdammt wichtig, dass es nicht einen oder maximal anderthalb Tage warten kann?«

»Weil ich zur Arbeit muss, um herauszufinden, was mit Nora passiert ist.«

»Ich verstehe ja, dass das mit Nora schmerzlich und belastend ist, und dass du wissen willst, was passiert ist, aber das ist nicht deine Aufgabe. Damit beschäftigen sich jetzt andere.« Magnus öffnete die Fahrertür. »Ich bin mitten in einer Mordermittlung, und du musst ja nicht allzu weit zurückdenken, um dich zu erinnern, wie wichtig es dabei ist, keine Zeit zu verschwenden. Ich muss um acht Uhr in Volda sein.« Er sah auf die Panerai an seinem Handgelenk. »Bis dahin habe ich noch drei Stunden und zwanzig Minuten. Kannst du dich bitte in den Wagen setzen, damit wir weiterkommen?«

»Ich werde nicht nach Volda fahren, Torp. Ich fahre nach Hause.«

Magnus knallte die Tür wieder zu, trat einen Schritt zur Seite und rief: »Und was willst du machen?« Das Echo hallte von den Bergen wider. »Hier stehen bleiben und darauf hoffen, dass dich jemand mitnimmt?« Er stellte sich ins Scheinwerferlicht. »Du bist dermaßen durch den Wind, dass du es nicht mal selbst kapierst!«

»Bist du jetzt fertig?«

»Nein!«, brüllte Magnus. »Zehn Jahre lang habe ich getan, worum du mich gebeten hast! Habe dir Geld geliehen! Bin für dich da gewesen, egal wann! Ich habe für dich sogar die Innenrevision angelogen! Und heute Abend, nachdem du mich vierzehn Monate lang ignoriert hast, bin ich wieder für dich da, ohne eine einzige Frage zu stellen, auch wenn ich dadurch mein Flugzeug verpasst habe!« Er baute sich dicht vor Anton auf und sagte: »Ich habe dich an erster Stelle gesetzt – weil es nämlich das ist, was man für seinen besten Kumpel tut!« Er deutete auf die Beifahrerseite. »Und jetzt setzt du dich verdammt noch mal in den Scheißwagen!«

Anton blickte auf den Frostnebel, der aus Magnus’ Mund und Nase drang, schob die Hände in die Hosentaschen und sah zum Großen Wagen hinauf. Er sog die kalte Luft tief in die Lunge ein, bis er einen Stich verspürte. Dann formte er die Lippen zu einem kleinen O und ließ die Atemluft zum Himmel emporsteigen. Er hörte Magnus’ schwere Atemzüge, die klangen, als ob er kurz davor wäre, auf ihn loszugehen.

Dann setzte Anton sich wortlos in den Wagen.