Freitag, 22. November
Magnus musterte den Lensmann auf der anderen Seite des Schreibtisches. Die Fensterreihe hinter ihm bot einen Panoramablick auf eine Felsenkette, die direkt auf den Fjord hinabzufallen schien. Kleine Schneeflocken rieselten vom Himmel.
Er hatte Sigmund Aasen eine Stunde lang sehr genau zugehört. Es war deutlich, dass der Mann, dessen Alter bei Mitte dreißig liegen musste, den Fall gut kannte. In groben Zügen hatte er erläutert, was sein Vorgänger unternommen hatte, doch was ihn am meisten beschäftigte, waren die Auswirkungen, die der Mord an Rebekka Vehler auf die Stadt und auf das Hochschulmilieu gehabt hatten. Und auch weiterhin hatten. Weil immer noch die Rede von einem Mörder war, der in der Stadt sein Unwesen trieb. Ein Mörder, der wer auch immer sein könnte.
»Du hast gesagt, dass fast vierhundert Vernehmungen durchgeführt wurden«, sagte Magnus und nahm einen Schluck aus der Dose Red Bull, die er in das Lensmannbüro mitgenommen hatte. Er blickte auf die vier großen Pappkartons an der Wand. Sie waren mit »Rebekka Vehler – 18 – 4416/99« gekennzeichnet und enthielten alles, was von Lensmann John-Einar Gjelsvik und seinen Ermittlern zwischen dem frühen Morgen des 23. September 1999 bis zur Einstellung des Falls im April 2002 unternommen worden war. Drei der Kartons verfügten über einen Deckel, wohingegen der letzte wie eine ungeordnete Sammelkiste wirkte, in der alles gelandet war, was nirgendwo sonst eingeordnet werden konnte. Magnus sah von seinem Platz aus, dass der Karton auch einige alte Zeitungen enthielt. Eine zusammengerollte Karte ragte ebenfalls daraus hervor. »Und dass es sich bei dem größten Teil der Vernommenen um Studenten handelte. Das muss ja dann fast die ganze Hochschule gewesen sein?«
»Oh, nein.« Sigmund Aasen schüttelte den Kopf. »1999 gab es etwa dreitausend Studenten an der Hochschule, und rund zweitausend von ihnen haben hier gewohnt. Heute haben wir hier über viertausendfünfhundert Studenten.«
»Viertausendfünfhundert?«, wiederholte Magnus erstaunt. »Geht etwa die halbe Stadt auf die Hochschule?«
»Was sich heute von 1999 unterscheidet, ist die Tatsache, dass diverse Straßenbauprojekte es möglich gemacht haben, hier in Volda zu studieren und gleichzeitig in Nachbargemeinden wie Hareid, Herøy, Stryn oder Nordfjordeid zu wohnen. Das sowie die Online-Vorlesungsangebote in Kombination mit den Präsenzstunden sind die Ursache für das Wachstum. Die Anzahl der Studenten, die hier in Volda leben, ist im Vergleich zu 1999 in etwa gleich geblieben.«
»Verstehe. Und was kann man hier studieren?«
»Ich habe keine genaue Übersicht aller Angebote, in den letzten Jahren sind auch noch einige dazugekommen, aber die bekanntesten Studiengänge sind wohl Journalismus, Sozialarbeit mit Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe sowie Theater und Musik.«
Der Lensmann erhob sich von seinem Schreibtischstuhl. »Ich muss mir mal einen Kaffee holen. Du hast ja deine Koffeindosis selbst mitgebracht, wie ich sehe, aber kann ich dir was Warmes anbieten?«
Magnus schüttelte vorsichtig die Dose. Nur ein kleiner Schluck war übrig. Er trank den Rest und sagte: »Ja, ich nehme auch gern eine Tasse.«
Sigmund Aasen verließ sein Büro. Magnus blickte auf die Pappkartons und streckte die Hand nach dem nächsten aus. Eine braune Dokumentenmappe lag obenauf. Ein weißes Klebeetikett war mit roten Blockbuchstaben beschriftet: OBDUKTIONSBERICHT – REBEKKA VEHLER . Auf der Mappe selbst war Sadés Institut für Pathologie zu lesen.
Magnus griff danach. Er registrierte, dass Rebekka 1,55 groß gewesen war und 45 Kilo gewogen hatte. Er las die dokumentierte Todesursache dreimal hintereinander durch. Magnus hatte gedacht, dass der alte Rechtsmediziner vielleicht übertrieben hatte, als er meinte, nur der Name und das Alter unterschieden die Fälle voneinander. Dass er die Wahrheit nach ein paar Gläsern Tuborg zu viel womöglich etwas modifiziert hatte. Aber das hatte er nicht; die Gewalt, der das Opfer ausgesetzt gewesen war, war die gleiche. Und sie war überwiegend post mortem ausgeführt worden. Die Todesursache lautete Erwürgen. Und zwar mit einer solchen Kraft, dass der Kehlkopf zerdrückt worden war – wie bei Cecilie Olin.
Magnus legte die Bilder auf den Schreibtisch. Rebekka Vehler war auf grausamste Art zugerichtet worden, und die Tatsache, dass man sie für die Obduktion gewaschen hatte, brachte jeden Riss und jede Wunde ans Tageslicht. Das erste Foto war von den Schultern aufwärts aufgenommen worden. Der Hals war gelb und braun verfärbt, mit großen bläulich roten Bereichen. Genau wie bei Cecilie Olin. Nase und Lippen waren in zwei Teile gerissen. Sie hatte verklebte Augen. Die Knochen in den dünnen Unterarmen waren gebrochen, die Haut geschwollen. Die Schulter saß schief wie bei Cecilie Olin, aber Magnus konnte nicht unterscheiden, ob sie komplett ausgerenkt oder gebrochen war. Die frisch gewaschenen Haare waren zurückgekämmt. Der gebrochene Schädel wies im Stirnbereich eine offene Wunde auf.
»Rebekka hat hier fast zwei Monate gelebt«, sagte der Lensmann, als er mit dem Kaffee zurückkam. »Sieben Wochen und drei Tage, um genau zu sein. Sie war ziemlich beliebt, alle mochten sie, aber nach und nach, wie du selbst sehen wirst, wenn du einen Blick auf die Vernehmungsprotokolle wirfst, stellte sich heraus, dass es nicht viele gab, die sie kannten .«
Er stellte eine Tasse vor Magnus ab und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »John-Einar hat immer gesagt, dass es nur wenig gab, was mit Rebekka nicht stimmte, aber dass dies genau der Punkt sei, an dem es eigentlich mehr zu holen geben sollte.«
»Wo …?«
Sigmund Aasen nippte an seinem Kaffee und wischte sich dann über die Lippen.
»Ihr Privatleben. Hermetisch verschlossen.«
»Okay?«
»Wir reden hier über ein Mädchen, das jeden verzaubern konnte, wo immer sie gerade war. Sogar ihre Lehrer hatten einen sehr deutlichen Eindruck von ihr gewonnen, und das bedeutet ja nicht gerade wenig, wenn man bedenkt, wie kurz … ja, wie kurz ihr Studium letztlich war und wie viele Studenten jede Lehrkraft pro Semester hat. Aber als John-Einar anfing etwas tiefer zu graben, gab es eigentlich niemanden, der wirklich etwas über sie wusste.«
»Es dauert ja oft auch eine Weile, bis man sich kennengelernt hat«, sagte Magnus, »und wenn sie erst seit sieben Wochen hier war …«
»Ja, ja, aber Teenager-Mädchen sind Teenager-Mädchen. John-Einar hat den Klatsch und das Gerede vermisst. Sowohl die Wahrheiten als auch die Lügen. Mädchen in diesem Alter reden doch über alles – und teilen es mit anderen.«
Magnus blies leicht in die Kaffeetasse, während er das nächste Foto betrachtete. Rotviolette Leichenflecken bedeckten den Unterkörper und zogen sich an den Seiten der Oberschenkel hinauf. Vorsichtig probierte er den Kaffee, trank einen kleinen Schluck und saugte Luft ein, um den Mund abzukühlen.
»Frisch gebrüht«, kam es von Sigmund Aasen. »Zu stark?«
Magnus schüttelte den Kopf. Das dritte Bild zeigte den Bereich vom Schritt bis zum Hals. Der Torso war zerschunden und erinnerte farblich an die schwedische Flagge, aber mit einem leichten Braunstich.
Magnus hielt sich das Foto vors Gesicht, musterte den Bereich zwischen den Brüsten und suchte nach dem, was während des Besuchs bei Mogens Poulsen vor zwei Tagen den größten Eindruck auf ihn gemacht hatte: der Fußabdruck auf der Brust, und die in die Lunge hineingetretenen Rippen.
Er konnte keinen Abdruck sehen, aber ein solcher hätte sich ohnehin nur schwer erkennen lassen; Rebekka Vehler hatte anscheinend noch mehr Schläge einstecken müssen als Cecilie Olin.
»Du siehst übrigens ein bisschen müde aus. War das Hotelbett nicht weiterzuempfehlen?«
»Ich habe den Flug nicht gekriegt«, sagte Magnus hinter dem Foto. »Ich musste fahren.«
»Wie weit ist es bis zu dir da unten?«
Magnus legte das Foto weg und nahm sich das nächste. Es zeigte denselben Bereich des Körpers, war aber aus einem anderen Blickwinkel geschossen.
»Nach Fredrikstad?« Über den Rand des Fotos hinweg warf er dem Lensmann einen knappen Blick zu. »Gut 600 Kilometer.«
»Dann wollen wir hoffen, dass sich die Reise gelohnt hat.«
»Die Verletzungen sind die gleichen. Daran besteht kein Zweifel. Und da der Täter nie gefasst wurde, denke ich, dass es sich definitiv lohnt, einen genauen Blick auf den Fall zu werfen.«
Magnus legte das Foto weg. »Zu Brei geschlagen, erwürgt und abermals zu Brei geschlagen.«
Er packte die Bilder zu einem Stapel zusammen.
»John-Einar hat immer gesagt, wer auch immer das da gewesen ist«, entgegnete der Lensmann und nickte in Richtung des Fotostapels, »hat nicht nur eine wilde und lebensbedrohliche Wut in sich getragen, sondern auch echte Bosheit. Nichts könnte mich glücklicher machen, als nach all den Jahren endlich eine Antwort darauf zu bekommen. Rebekka hat es verdient. Volda hat es verdient.«
»Und es gab damals keinen Namen, der interessanter war als andere?«
»Doch. Einen.«
Magnus blickte an Lensmann Sigmund Aasen vorbei und aus dem Fenster hinaus. Ein grün-weißes, zweimotoriges Propellerflugzeug der Fluglinie Widerøe setzte zur Landung an. Er stand auf und trat ans Fenster. Auch der Lensmann erhob sich von seinem Stuhl und stellte sich neben ihn.
»Deine Aussicht ist definitiv spannender als meine«, sagte Magnus, während das Flugzeug direkt am Büro des Lensmanns vorbeiglitt.
Als die Maschine aufsetzte, stieg eine Rauchwolke von den Rädern auf. Das Flugzeug bremste und kam am Ende der Landebahn vollständig zum Stehen. Dann rollte es weiter. Magnus entdeckte plötzlich einen Mann, der mit einer Tasche über der Schulter die Straße entlangging.
Er fluchte und packte den Fenstergriff, drückte ihn herunter und riss das Fenster auf.
»Hey! Wo willst du hin?«
Anton drehte sich um, ging aber weiter. Rückwärts.
»Nach Hause«, kam es von unten an der Straße.
»Wer ist das?«, fragte der Lensmann. »Bist du nicht allein gekommen?«
»Nicht ganz …«, erwiderte Magnus, bevor er sich wieder an Anton wandte: »Warte!«
»Ich bin mit nach Volda gekommen, aber ich habe nicht gesagt, wie lange ich bleiben möchte.«
Anton drehte sich um 180 Grad und lief weiter.
»Blinder Passagier?« fragte der Lensmann lächelnd.
»So ähnlich«, seufzte Magnus. »Tut mir leid, aber da hast du den Grund dafür, dass ich den Flug verpasst habe. Ich musste ihn da unten aus dem Dreck ziehen. Und wie du siehst, ist mir das nur teilweise gelungen.«
Er steckte wieder den Kopf aus dem Fenster: »Kannst du bitte warten?!«
»Ich will was essen«, rief Anton zurück. »Und dann will ich nach Hause!«
Magnus sah, wie Anton sich dem Flugplatz näherte.
»Kein Problem. Wir können unser Gespräch auch in einem Café im Zentrum fortsetzen, da kann dein Kumpel auch was zu sich nehmen.« Der Lensmann zog seine Uniformjacke an. »Sieht so aus, als hätte er es nötig.«
»Anton!«, rief Magnus. »Gib mir zehn Minuten!«
Anton blieb stehen, ließ die Tasche auf den schneebedeckten Boden fallen und setzte sich darauf wie ein trotziger Siebenjähriger.