Volda, 1999, Tag 73
Neun Frauen standen auf drei Gruppen verteilt im Raum und unterhielten sich. Sie sahen alt aus. Wenn man von Trine und ihm absah, musste das Durchschnittsalter irgendwo bei siebzig liegen. Die zehnte, bei der es sich vermutlich um die Leiterin handelte, stand in der Ecke und goss Kaffee in eine Thermoskanne.
An der Tür stehend wippte er auf den Fersen und wartete darauf, gesehen zu werden, aber niemand schien ihn wahrzunehmen. Trine und die beiden Frauen, mit denen sie zusammenstand, setzten sich an den runden Tisch in der Mitte des Raums. Eine von ihnen nahm ein paar Weintrauben von einem Obstteller. Er hatte sich ausgeguckt, wo er sitzen würde. Auf dem freien Platz neben Trine. Stuhlbeine schabten über das Linoleum, als zwei weitere Frauen sich hinsetzten.
Die Gruppenleiterin kam aus ihrer Ecke. Er räusperte sich. Sie sah in seine Richtung, setzte ein Lächeln auf und steuerte auf ihn zu.
»Hallo«, sagte sie gedämpft. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Nun …«, sagte er diskret, ehe er die Stimme zu einer Art Flüstern senkte. »Ich habe neulich erfahren, dass es hier eine Trauergruppe gibt, und habe mich gefragt, ob ich wohl daran teilnehmen könnte, oder benötigen Sie irgendeine Art von Anmeldung?«
»Natürlich können Sie mitmachen«, erwiderte sie sanft. Sie ging zu einem Schrank und kam mit Papier und Stift zurück, die sie ihm reichte. »Füllen Sie bitte den Bogen aus. Bloß ein paar Informationen, damit ich Kontakt mit Ihnen aufnehmen kann.« Sie winkte ihn mit sich. »Nehmen Sie sich doch einen Stuhl.«
Verflucht, dachte er, als er sah, dass die alte Krähe, der er vor ein paar Minuten mit der Tür geholfen hatte, den freien Platz neben Trine einnahm. Er spürte die Enttäuschung, aber gerade jetzt war ein ernster Gesichtsausdruck vielleicht von Vorteil.
Er begrüßte die beiden älteren Frauen, zwischen die er sich setzte. Die Lippen in ihren runzeligen Gesichtern formten sich zu zwei beinahe geraden Strichen. Sein Blick fuhr über den Tisch. Trine saß gegenüber und sah ihn an. Ihr Gesicht war ernst. Als er ihr kurz zunickte, versuchte sie nicht einmal zu lächeln. Stattdessen richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die Gruppenleiterin, die sich hinter ihren Stuhl gestellt hatte.
Schnell füllte er das Formular aus und schob es in die Tischmitte.
»Na, dann sage ich herzlich willkommen.« Ihre Stimme war genauso sanft wie bei der kurzen Begrüßung zuvor. Sie musterte die Gesichter am Tisch und blickte ihn an. »Wie ihr seht, haben wir heute einen Neuzugang. Ich habe verstanden, dass Sie nicht von hier sind, da könnten Sie ja vielleicht anfangen und uns ein bisschen über sich erzählen.«
Er stellte sich vor, erzählte den anderen wie er hieß, wie alt er war und welcher Arbeit er nachging.
»Vermutlich ist es jetzt falsch zu sagen, dass ich froh war«, fuhr er fort, »aber jedenfalls war es beruhigend zu hören, dass hier in Ørsta eine Trauergruppe existiert. Ich bin hierher gezogen, um etwas Abstand zu gewinnen, aber mir ist schnell klar geworden, dass es nicht viel hilft, wenn man versucht, vor den Erinnerungen zu fliehen, und dann ist es ja auch irgendwie nicht so einfach mit Menschen, die man gar nicht kennt, über Trauer und so was zu reden.«
Die Gruppenleiterin nickte verständnisvoll und sagte dann: »Möchten Sie vielleicht etwas über den Hintergrund berichten, der Sie zu uns geführt hat?«
»Ja … Das kann ich sicher.« Er sah zu Boden. »Ich … Ich habe kurz vor dem Sommer meine Freundin verloren.«
Mehrere Frauen am Tisch seufzten. Er erwiderte den warmen Blick der Gruppenleiterin.
»Sie kann ja nicht sehr alt gewesen sein?«, sagte die Frau neben ihm mit abgehackter Stimme.
»Einundzwanzig.« Er schluckte. »Sie war einundzwanzig Jahre und zwei Tage alt.«
Zwei Jahre älter als Rebekka, aber ein paar Veränderungen musste er schließlich vornehmen.
»War es ein Unfall?«
Er schüttelte den Kopf. »Krebs.«
Neue Seufzer. Die Alte neben ihm legte ihre kleine, weiße und fast durchsichtige Hand auf seine und tätschelte sie vorsichtig. Sie war eiskalt. Er zog seine Hand zurück, ballte die Faust und hielt sie sich vor den Mund. Er riskierte einen Blick über den Tisch. Trines Aufmerksamkeit war auf die Tischplatte gerichtet, aber sie wirkte nicht abwesend. Sie hörte zu.
»Daran ist mein Sohn auch gestorben«, sagte eine der anderen Frauen.
Sie gehörte zu den jüngeren. Maximal fünfzig Jahre alt.
»Lassen wir ihn doch weiterreden«, sagte die Gruppenleiterin. »Sind Sie lange mit ihr zusammen gewesen?«
»Fast fünf Jahre. Wir waren schon eng befreundet, seit wir etwa so groß waren.« Er hielt die Handfläche einen knappen Meter über den Fußboden. »Wir waren Teenager, als sie sagte, ich sei eigentlich alles, was sie sich wünschte. Und das war für mich ja ganz genauso, ich hatte mich nur nicht getraut, es zu sagen. Wir hatten wohl beide Angst davor, dass sich die Freundschaft verändern oder bei einem eventuellen Bruch völlig in Luft auflösen könnte.« Er setzte ein trauriges Lächeln auf und hob den Kopf, um nachzuschauen, ob Trine ihn ansah. Jetzt tat sie es. Sie starrte ihn an und hörte dabei zu. »Man weiß ja nie, ob man als Liebespaar funktioniert – auch wenn man eng befreundet ist.«
Trine nickte im Takt mit den anderen. Er senkte den Blick.
»Im April wurde sie dann krank. Also, da ist sie schon eine Weile krank gewesen, aber erst da haben wir erfahren, dass sie Krebs hatte. Fünf Wochen danach ist sie gestorben.« Von den anderen Frauen kam mitfühlendes Gemurmel. Er sah die Gruppenleiterin an und holte tief Luft. »Danke. Seit ich nach Volda gekommen bin, habe ich mit niemandem über das hier gesprochen.« Er streckte die Hand nach einem Teller Kekse aus und nahm sich zwei. Er legte einen vor sich auf den Tisch und zerbrach den anderen in zwei Teile.