Freitag, 22. November
In der Mitte des Wegs war der Schnee platt getrampelt. Schiefe Bäume, deren Zweige in den Kronen fast ineinanderwuchsen, ragten auf beiden Seiten in die Luft. Magnus stellte den Mantelkragen auf und folgte Sigmund Aasen nach Elvadalen hinein. Sie blieben auf dem offenen Platz vor der Fußgängerbrücke stehen, die über den schmalen Fluss führte.
»Hier wurde sie gefunden.« Der Lensmann blickte zu Boden und hob dann den Kopf, während er in östliche Richtung zeigte, auf nackte Bäume und Büsche. Der Verkehr, der sich auf der Straße dahinter bewegte, war gerade noch zu erahnen. »Sie kam von da und ist dann dort auf dem Gehsteig die Straße hinuntergelaufen«, er streckte langsam den Arm aus und zeigte auf einen Streifenwagen, der direkt am Beginn des Wegs abgestellt war, »und dann hier abgebogen.«
»Es besteht kein Zweifel, dass sie genau da langgegangen ist?«
»Nein. Sverre Roers Elternhaus liegt auf der anderen Seite der Straße, hinter dem Hügel. Er hat vom Fenster aus gesehen, dass sie nach links abgebogen und dann den Gehsteig an der Hauptstraße entlanggegangen ist.«
Magnus schob die Hände in die tiefen Taschen seines Mantels und betrat die Fußgängerbrücke. Dort drehte er sich langsam einmal im Kreis und nahm die Umgebung in sich auf. Es gab nichts, wo Kinder schaukeln oder klettern konnten, keine Sitze oder Bänke. Er hatte sich einen Park vorgestellt, begriff jetzt aber, dass es sich eher um eine Art Joggingareal handelte. Dies war kein Ort, an dem man sich länger aufhielt.
»Der alte Lensmann«, begann Magnus. »Er muss doch irgendwelche Theorien gehabt haben? Wenn auch nicht mehrere, dann aber doch zumindest eine?«
»Er hatte mehrere.« Sigmund Aasen trat zu ihm, wischte den Schnee vom Brückengeländer und lehnte sich darüber. Er blickte auf den Fluss, der unter ihnen entlangführte. »Seine erste Theorie lautete, dass sie angefahren wurde und dass der Fahrer – in Panik – die Leiche hier heruntergeschafft hat. Diese Theorie hat sich dann bald wieder verflüchtigt. Er hat auch die Möglichkeit erwogen, dass Rebekka hier abgeladen wurde, war aber sicher, dass es in dem Fall Spuren gegeben hätte. Doch die gab es nicht. Und nachdem die Techniker ihre Arbeit erledigt hatten, gab es keinen Zweifel mehr, dass sie hier ermordet worden war; die Kriminaltechnik hat im Umkreis von zwanzig Metern Blutspuren und Zähne gefunden. Und das untermauerte dann auch John-Einars Haupttheorie.«
»Nämlich?«
»Dass derjenige, der das getan hat, entweder in einem Auto saß oder – eher wahrscheinlich – zu Fuß unterwegs war und sie hier zufällig entdeckt hat. Dass er gesehen hat, wie sie hier hineinging, und ihr dann gefolgt ist.«
Magnus stimmte zu.
»Und diese Person könnte Sverre Roer gewesen sein. John-Einar hat sich viel mit ihm beschäftigt, hat ihn langen, harten Vernehmungen unterzogen. So etwas wäre heute gar nicht mehr möglich.« Der Lensmann richtete sich auf und legte die behandschuhten Hände um das Geländer. »Ein paar Wochen nach dem Mord an Rebekka wurde eine alte Dame auf Brandsøy außerhalb von Florø überfallen und ausgeraubt. Man hat sie während eines Spaziergangs zusammengeschlagen und ihr die Handtasche geklaut. Sie lag mehrere Tage im Koma, und als sie wieder wach wurde, konnte sie nur angeben, dass plötzlich ein Auto neben ihr angehalten hatte. Der Beifahrer sei ausgestiegen, habe sie zu Boden gestoßen und dann so lange auf sie eingetreten und eingeprügelt, bis sie schließlich ihre Tasche losließ, die sie die ganze Zeit umklammert hatte. Sie hat überlebt, aber das war reines Glück. Da Rebekkas Handtasche ebenfalls verschwunden war, haben John-Einar und die anderen Ermittler einen Zusammenhang vermutet. Die große Frage war: Warum musste sie sterben? Weil sie wusste, wer da im Wagen gesessen hatte? Oder weil es dem Täter nicht reichte, sie einfach nur niederzuschlagen wie die alte Dame auf Brandsøy? Stattdessen wurde sie erwürgt. Die haben ihr den Kehlkopf zerdrückt. Alles in allem gab es dann keinen Zweifel mehr, dass der oder die Täter, die ihr die Verletzungen beigebracht haben, sie unbedingt töten wollten. Es kann kein Unfall gewesen sein. Die Frau auf Brandsøy ist mit dem Leben davongekommen, auch wenn das eher Zufall war.«
»Was ist dort dann weiter passiert?«
»Nichts.«
»Aber sie wurden gefasst?«
»Ja, ein halbes Jahr später wurde der eine – der Fahrer – wegen eines Einbruchs in Stavanger festgenommen. In der Hoffnung auf Strafmilderung hat er dann erzählt, dass es sein Kumpel war, der die alte Dame einige Monate zuvor krankenhausreif geprügelt hatte. John-Einar ist nach Stavanger gefahren und hat mit den beiden Männern geredet. Sie behaupteten, zum Zeitpunkt des Mordes an Rebekka in Bergen gewesen zu sein, was stimmte, wie sich dann herausstellte. Der Fahrer hat, eine Stunde bevor Rebekka das Haus ihres Freundes Sverre Roer verlassen hatte, bei einer Radarkontrolle ein Strafmandat bekommen.«
»Ein zuverlässigeres Alibi kriegt man wohl kaum«, sagte Magnus.
»Nein, das kann man wohl sagen. Aber somit ging dann alles zurück auf Los.«
Magnus verließ die Brücke und stellte sich mitten auf den offenen Platz, wo zwanzig Jahre zuvor die kaum erkennbaren Überreste von Rebekka Vehler gefunden worden waren. Er bewegte sich in Richtung des Streifenwagens, blieb aber plötzlich stehen. Dann blickte er zurück zum Lensmann, wieder auf den Weg und um sich herum.
»Wie war das Wetter an jenem Abend?«
»Schön, aber kühl«, erwiderte der Lensmann. »Sternenklar.«
»Das hier war der schnellste und kürzeste Heimweg für Rebekka?«
»Ja.«
»Ich nehme an, abends ist es hier ganz dunkel und ungastlich?«
»Ja.«
»Wo wäre die nächstgelegene Alternative mit Straßenbeleuchtung?«
»Da läuft man hier vorbei«, der Lensmann deutete auf die Straße, »dann weiter hoch bis zur Kreuzung und schließlich mitten durchs Zentrum. Das verlängert den Weg um zwei oder drei Minuten. Woran denkst du?«
»Stell dir vor, du bist ein junges Mädchen und wiegst vierzig und ein paar Kilo. Du bist auf dem Weg nach Hause.« Magnus ging zurück und stellte sich neben den Lensmann. »Du siehst einen Mann, der auf dem Gehsteig auf dich zukommt. Oder du hörst, dass jemand hinter dir ist. Das gefällt dir nicht. Ein unangenehmes Gefühl überkommt dich. Zu diesem Zeitpunkt hat der Betreffende nichts Besonderes gesagt oder getan. Er ist bloß da. Genau wie du. Du weißt, dass dieses unangenehme Gefühl rein instinktiv ist. Diese Art Schreckfantasien sind völlig normal. Ist dir in jungen Jahren bestimmt auch passiert. Ich jedenfalls kenne das. Ich glaube, ich war schon ein Teenager, ehe ich mich nach Einbruch der Dunkelheit über den Friedhof gewagt habe. Ist natürlich völlig irrational. Aber so sind wir Menschen nun mal konstruiert. Jetzt versetz dich mal in Rebekkas Lage an jenem Abend.«
Der Lensmann nickte.
»Du näherst dich dem Weg, der hier hineinführt. Und jetzt spielt es eigentlich keine Rolle, ob sich der Mann, den du da siehst, vor oder hinter dir befindet. Gehst du dann hier weiter, wo du mutterseelenallein im Dunkeln herumstapfst, nur um zwei Minuten abzukürzen, oder bleibst du auf dem Gehsteig, wo es hell ist und die Chancen größer sind, dass du von anderen gesehen wirst?«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst«, sagte Sigmund Aasen. »John-Einar hatte sich auch mit der Möglichkeit beschäftigt. Der Tod kann auch in Elvadalen gelauert haben , sagte er. Aber wer ? Das ist doch hier kein Ort, an dem man herumhängt. John-Einar hat sich immer gefragt, ob vielleicht jemand wusste, dass sie genau hier entlanggehen würde. Und das führte ihn dann immer zu dem Punkt, über den es seiner Ansicht nach nicht genügend Informationen gab: Rebekkas Privatleben. Ich habe ja erzählt, dass er meinte, irgendwas sei da nicht ganz koscher gewesen.«
»Eben«, sagte Magnus. »Genau deswegen denke ich ja in diese Richtung. Wer wusste, dass sie bei Sverre Roer gewesen war?«
»Am frühen Abend war sie beim Quiz im Grünen Baum , und …«
»Was ist das?«, unterbrach Magnus.
»Eine Kneipe, wo man einfache Dinge wie Bier und Pizza bekam. Ist inzwischen pleite, war aber damals ein beliebter Treffpunkt für die Studenten. Gegen zwanzig vor zehn bricht das Kleeblatt, zu dem sie gehörte, von dort auf. Rebekka und Sverre trennen sich vor dem Café, wo wir eben waren, von den anderen beiden. Sie gehen dann zu ihm nach Hause, wo sie etwa eine halbe Stunde gemeinsam verbringen. Kurz vor halb elf verabschieden sie sich auf der Treppe voneinander, und Sverre sieht ihr nach, bis sie aus seinem Blick verschwindet.«
Magnus nickte in sich hinein und sah auf die Uhr. Er trat langsam auf den Streifenwagen zu, während er dachte, dass der alte Lensmann recht gehabt hatte. Der Tod hatte in Elvadalen auf Rebekka gewartet, genauso wie er in Skjærviken auf Cecilie Olin gewartet hatte.