Freitag, 22. November
Der am Vortag gefallene Schnee war geschmolzen, als sich im Laufe der Nacht Minusgrade in Plusgrade verwandelt hatten. Jetzt schien die Vormittagssonne auf Halden, und der Kies auf dem eingezäunten Fußballplatz war so gut wie trocken. Psychiaterin Karen Thoen trug einen langen hellen Mantel und beobachtete fünf Insassen, die Fußball spielten. Ihr schulterlanges Haar war grauschwarz und gelockt. Mit ernstem Gesichtsausdruck schüttelte sie Lars Weberg die Hand. Einer der Gefangenen rief laut ihren Namen. Karen Thoen sah zu ihm hinüber, und im nächsten Augenblick schoss er den Ball an einem der anderen vorbei ins Tor.
»Haben Sie das gesehen?«, rief er, als er auf das Netz zutrat, um den Ball zu holen.
»Ja, gut«, erwiderte sie, »aber ihr habt ja auch keinen Torwart.«
»Spielt keine Rolle!« Er stieß den Ball ein Stück vorwärts, ehe er ihn einem der anderen zuspielte. »Kein Torwart auf der Welt hätte den gehalten!«
Karen Thoens ernstes Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. Ein paar Sekunden später bekam derselbe Gefangene den Ball wieder zurück. Karen Thoen machte eine Armbewegung und trat langsam auf zwei Hocker am Rande des Fußballplatzes zu. Lars Weberg setzte sich neben sie. Die Psychiaterin blickte auf ihre Armbanduhr, wie um zu unterstreichen, dass sie anfangen sollten.
»Ich weiß, dass Sie gern über Bjørn Farsund reden möchten, aber wie ich gestern schon am Telefon sagte, verbietet mir die Schweigepflicht, mich über ihn zu äußern.«
»Das weiß ich. Ich hatte gehofft, wir könnten uns ganz allgemein unterhalten.«
»Wenn ich jetzt allgemeine Äußerungen von mir gebe«, sagte Karen Thoen und grinste, »wäre es dann nicht offensichtlich, dass ich eigentlich über Bjørn rede?«
»Nein, der Ansicht bin ich nicht.« Lars Weberg streckte ein Bein aus und lehnte sich auf dem Hocker zurück. »Ich habe keine Ahnung, ob Bjørn Farsund ein Psychopath ist oder nicht. Angesichts dessen, wofür er verurteilt wurde, gehe ich nur davon aus, wobei ich das so genau gar nicht weiß. Ich weiß auch nichts darüber, wie Sie ihn hier behandelt haben. Gruppentherapie, Einzelsitzungen, Hypnose … das spielt alles keine Rolle. Ich interessiere mich mehr für allgemeine Aspekte der Aggressionstherapie. Kann man wieder gesund werden?«
»Hm.« Karen Thoen kniff die Augen zusammen. »Okay«, sagte sie und nickte. »Sie fragen, ob man wieder gesund werden kann. Die Antwort wäre dann aber wesentlich komplizierter als die Frage.« Sie sah erneut auf die Uhr. »Eine Person, die in Stresssituationen häufiger als andere Menschen mit Wut reagiert, hat – einfach ausgedrückt – eine geringere Toleranzschwelle und reagiert empfindlicher auf Stress als eine Person, die in der Regel viel Stress erträgt. Wenn nun jemand mit geringerer Toleranzgrenze gestresst wird und dann die Schwelle überschreitet, dann wird er überaktiv und reagiert, indem er beispielsweise schreit oder gewalttätig wird. Selbstverständlich kann man trainieren, seine Toleranzgrenze auszudehnen, und deswegen begibt man sich in Behandlung. Man lernt, Risikofaktoren und Stressmomente zu erkennen.«
»Karen!«
Es war wieder der Fußballspieler. Er balancierte den Ball kurz auf der Ferse, ließ ihn fallen, trat dann mit voller Kraft zu und traf ins Tor. Dann riss er einen Arm hoch und rief: »Haben Sie das auch gesehen?«
Karen Thoen nickte.
»Hab doch gesagt, dass ich ’n Profi werden kann!«, sagte er lachend.
»Der scheint Sie ja zu mögen«, sagte Lars Weberg, während er den Torschützen beobachtete, der den Ball in die Platzmitte dribbelte.
»Ja, allerdings, wir kommen gut miteinander klar. Netter Junge.«
»Das ist er bestimmt. Ist es denn denkbar, dieses Toleranzniveau so auszudehnen, dass es so wird wie bei jemandem, der niemals Gewalt ausübt?«
»Man verfügt ja weiterhin nur über die Bewältigungsstrategien, die einem gegeben sind. Es erfordert sehr viel Arbeit, diese zu ändern, aber da, wo es einem gelingt, erhöht sich die Schwelle für das, was man erträgt. Ich habe selbst einige Patienten behandelt, bei denen die Schwelle im Laufe der Therapie wesentlich höher wurde, aber die Schwelle an sich ist weiterhin vorhanden.«
»Ich würde jetzt gern ein wenig vom Allgemeinen absehen, und selbstverständlich steht es Ihnen frei, so zu antworten, wie es Ihnen am angenehmsten ist. Aber wenn ich mir anhöre, was Sie über geringe Toleranzschwellen sagen, dann scheint mir das nicht auf Bjørn Farsund zuzutreffen. Er war Notarzt in einem Rettungshubschrauber. Stressiger als das kann es doch gar nicht werden. Aber vermutlich kommt es auch darauf an, um welche Art von Stress es sich handelt. Diese Psychopathen sind ja oft ziemlich kompliziert. Oder wie nennt man das in der Fachsprache? Dysfunktionale Persönlichkeitsstörung?«
»Dissozial«, korrigierte sie. »Allerdings habe ich nie gesagt, dass Bjørn eine derartige Persönlichkeitsstörung hat. Sie haben das gesagt.«
»Also hat er das nicht?«
»Das habe ich ebenfalls nicht gesagt.« Karen Thoen lächelte entschieden. »Legen Sie mir bitte nichts in den Mund, Herr Weberg. Ich nehme diese Jungs hier ganz und gar ernst.« Sie deutete auf den Fußballplatz. »Die müssen wissen, dass sie mir alles sagen können, ohne befürchten zu müssen, dass es weitergetragen wird.«
»Muss man etwa kein Psychopath sein, um seine Partnerin mit bloßen Händen fast umzubringen?«
»Nicht unbedingt. Und hier wird die Psychologie wirklich interessant. Sie denken bestimmt, dass Sie niemals eine Frau schlagen könnten. Vermutlich haben Sie im Laufe Ihrer Karriere ein paar Verhaftungen durchgeführt, bei denen Sie Gewalt anwenden mussten. Aber das ist etwas anderes. Ich rede hier von krassen Gewaltausbrüchen. Könnten Sie beispielsweise gewalttätig gegen mich werden?«
»Natürlich nicht.«
»Niemals?«
»Nein.«
»Haben Sie Kinder, Herr Weberg?«
»Ja. Drei. Zwei Jungen und ein Mädchen.«
»Wie alt?«
»Der Älteste ist dreiundzwanzig, und dann habe ich noch einen siebenjährigen Sohn und eine fünfjährige Tochter.«
»Eine erwachsene Frau im psychotischen Zustand geht auf Ihre fünfjährige Tochter los und schlägt sie zusammen. Die Kleine schreit und kämpft um ihr Leben. Sie sind gezwungen, einzugreifen – und das tun Sie natürlich. Koste es, was es wolle. Haben Sie Zugriff auf eine Pistole, besteht vermutlich ein gewisses Risiko, dass Sie sie auch benutzen. Sie fürchten um das Leben Ihrer Tochter. Sie sind wütend und haben eine Heidenangst. Sie verlieren die Kontrolle.«
»Natürlich verteidigt man seine Kinder. Ein etwas unsinniger Vergleich, Frau Thoen.«
»Nein, ist es nicht. Er zeigt nur, dass Ihre Schwelle, etwas Unvorstellbares zu tun, sehr viel höher liegt. Ihr Trigger sind Ihre Kinder, Herr Weberg, genau wie bei den meisten anderen. Und wenn Sie dann endlich wieder zu sich kommen, erkennen Sie, was Sie mit der Frau gemacht haben, die auf Ihre Tochter losgegangen ist. Weil Sie plötzlich nur noch rotgesehen haben. Natürlich verstehen Sie, was Sie getan haben. Und natürlich war das berechtigt. Aber macht Sie diese eine Handlung zu einem Psychopathen?«
»Das klingt so, als wollten Sie sagen, dass Bjørn Farsunds Angriff auf Cecilie Olin berechtigt war.«
»Noch einmal: Ich rede nicht über Bjørn. Ich sage lediglich, dass man keine Dissoziale Persönlichkeitsstörung haben muss, um gewalttätig zu werden. Die Dinge sind eben etwas komplexer.«
Ein dunkler Kombi von der Justizvollzugsbehörde kam in Begleitung eines Streifenwagens vom Tor her angefahren. Beide Fahrzeuge fuhren am Fußballplatz entlang und verschwanden dann außer Sichtweite. Lars Weberg zog sein Handy hervor, rief das E-Mail-Programm auf und suchte die Fotos heraus, die Mogens Poulsen während der Obduktion von Cecilie Olin gemacht hatte. Er wählte eines aus, das den Oberkörper und das Gesicht zeigte.
»Was denken Sie über jemanden, der fähig ist, einem anderen so etwas anzutun?« Er hielt ihr das Handy hin. »Es lässt sich auf dem Foto nicht so gut erkennen, aber sie wurde nicht nur schwer misshandelt, sondern am Ende auch erwürgt.«
Karen Thoen wandte den Blick ab.
»Nein«, sagte Lars Weberg, »ich möchte, dass Sie genau hinsehen. Sie sitzen hier jeden Tag und unterhalten sich mit diesen Menschen. Natürlich wissen Sie, was die getan haben, aber ich bezweifle, dass Sie es auch gesehen haben.«
Karen Thoen sah wieder auf den Bildschirm.
»Sie wurde erst erwürgt, um genau zu sein. Und dann misshandelt.«
»Jetzt habe ich es gesehen.«
Lars Weberg legte sein Handy weg.
»Das war übrigens Cecilie Olin. Jetzt breche ich hier ein wenig meine Schweigepflicht, aber ich möchte, dass Sie verstehen, wie wichtig es für mich ist, Informationen über Bjørn Farsund zu bekommen. Kurz nachdem Cecilie zuletzt in Skjærviken gesehen wurde, war er dort. Als wir das erste Mal mit ihm gesprochen haben, hat er das abgestritten.«
Karen Thoen sah wieder auf die Uhr. Sie erhob sich, wischte unsichtbaren Staub von ihrem Mantel und schob die Hände in die tiefen Taschen. Dann spähte sie zum Fußballplatz hinüber.
»Können Sie mir wenigstens sagen, ob die Behandlung von Bjørn Farsund funktioniert hat?«
Karen Thoen blickte in die Ferne.
»Jetzt haben wir viel über Schwellen gesprochen …«, sagte sie nach einem Augenblick. »Und genau das sind sie, Herr Weberg. Schwellen. Keine undurchdringlichen Mauern.«