Kapitel 47

Freitag, 22. November

Das Büro von Sverre Roer war klein und chaotisch. An der Wand hingen zwei Akustikgitarren, eine elektrische hing an der Rückseite der Tür. Aktenordner, Notizzettel, Mappen und lose Blätter lagen über den Schreibtisch verstreut. Was von den Haaren des Musiklehrers noch übrig war, hatte er zu einem dünnen Pferdeschwanz gebunden. An beiden Daumen trug er einen breiten Silberring, an den Handgelenken mehrere dünne Lederbänder mit eingearbeiteten Mustern. Magnus sah auch einen Ehering, und einen Stecker an seinem linken Ohrläppchen, der wie ein kleiner Totenkopf aussah.

Magnus hatte auf dem einzigen Besucherstuhl Platz genommen und hörte aufmerksam zu, während Sverre Roer über den Abend des 22. September 1999 berichtete. Es war eine etwas längere Version der Geschichte, die der Lensmann Magnus in Elvadalen erzählt hatte, und es war offensichtlich, dass er dieselbe Geschichte schon unzählige Male wiederholt hatte. Jede Formulierung saß, es gab keine Denkpausen. Er war auf Autopilot.

»Und dann habe ich die Tür geschlossen und bin zu meinen Eltern hineingegangen«, schloss Sverre Roer. Sein Blick fiel auf etwas auf dem Fußboden. Ein Plektron. Er hob es auf und legte es in den Kugelschreiberhalter auf dem Schreibtisch. »Ich wünschte natürlich, ich könnte mehr dazu beitragen, da Sie jetzt beschlossen haben, sich der Sache noch einmal anzunehmen.« Er warf einen Blick auf den Lensmann, der vor der E-Gitarre stand. »Ist ja das, was wir uns die ganze Zeit gewünscht haben, nicht, Sigmund?«

»Doch, ja«, erwiderte der Lensmann knapp.

»Ich weiß nicht so viel«, sagte Magnus, »und Sie müssen bitte entschuldigen, wenn ich hier etwas unvorbereitet erscheine. Das steht sicher alles in den Falldokumenten, und die werde ich natürlich lesen, sobald ich wieder im Süden bin. Aber was wollte Rebekka eigentlich bei Ihnen? Lange ist sie ja nicht geblieben.«

»Sie wollte sich eine CD ausleihen.«

»Wissen Sie noch welche?«

»Ja, es war das neuste Album von Tom Waits. Mule Variations. «

»Und das konnte nicht warten, bis Sie sich am nächsten Tag in der Hochschule wiedergesehen hätten?«

Sverre Roer sah den Lensmann unsicher und fragend an. Es war deutlich, dass ihm nicht gefiel, welche Richtung Magnus einschlug. Sigmund Aasen nickte zustimmend, wie ein Anwalt, der seinem Mandanten grünes Licht für eine Antwort erteilt.

»Ihr Onkel war krank geworden, deshalb wollte sie früh am nächsten Morgen nach Hause nach Mandal.«

Magnus blickte lächelnd über den unordentlichen Schreibtisch. »Das wusste ich nicht, mein Fehler. Ich hoffe, dass Sie sich durch meine vermutlich dummen Fragen nicht belästigt fühlen.«

»Aber nein. Ich verstehe nur nicht so ganz, mit welchen neuen Informationen ich etwas beitragen könnte. Ich habe mich zu jenem Abend schon unzählige Male geäußert. Gegenüber Sigmund und auch dem vorigen Lensmann.«

»Waren Sie in sie verliebt?«

»In Rebekka?« Er runzelte die Stirn. »Auch eine Frage, auf die ich schon mehrmals geantwortet habe.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

»Nein.«

»Na ja, es wäre jedenfalls nicht verwunderlich gewesen. Sie war doch wohl ein reizendes Mädchen.«

»Ja, das war sie, aber wir waren nur Freunde.«

»Also da war nicht mehr zwischen Ihnen, außer dass Sie gut befreundet waren und den Musikgeschmack teilten?«

Sverre Roer schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Er schob den Stuhl zurück, stand auf, drehte sich um und sah hinaus auf das Campusareal. Er zog die Nase hoch und fuhr sich schnell mit der Hand durchs Gesicht. Magnus sah den Lensmann an, der seinen Blick mit einem Schulterzucken erwiderte.

»Ich habe so viele Jahre darauf gewartet, dass jemand sich das Ganze mit einem frischen Blick ansieht«, begann Sverre Roer. »Ich habe zwei Briefe an die Kripo geschickt und gefragt, ob sie nicht auf eigene Initiative eine neue Ermittlung einleiten könnten. Und jetzt, da es endlich so weit ist, machen Sie bloß da weiter, wo John-Einar Gjelsvik mich schließlich wieder aus dem Schwitzkasten entlassen hat. Ich habe vom ersten Tag an die Wahrheit gesagt. Ich bin es nicht gewesen.« Roer blickte Sigmund Aasen an. »Kannst du ihm das nicht begreiflich machen?«

Der Lensmann gab keine Antwort.

»Ich zeige hier auf niemanden mit dem Finger«, sagte Magnus mit sanfter Stimme, »ich versuche nur, mich an den Fakten zu orientieren. Und Fakt ist, dass Sie der Letzte waren, der Rebekka Vehler lebend gesehen hat – mit Ausnahme ihres Mörders.« Er drückte den Rücken durch. »Ich habe volles Verständnis für Ihre Frustration, aber diese Fragen hätten sie sowieso beantworten müssen, unabhängig davon, wer sich den Fall erneut ansieht.«

»Ich weiß … Tut mir leid.« Sverre Roer fuhr sich abermals durchs Gesicht und sank dann wieder auf seinen Stuhl. »Es ist nur … ja, nein, ich weiß nicht. Fragen Sie. Fragen Sie, was Sie wissen wollen.«

»Wie ist sie an jenem Abend gewesen?«

»Das ist ja das Seltsame«, sagte er nach einer Weile und blickte wieder den Lensmann an. »Ich habe das Sigmund auch schon erzählt. Aber … Als wir bei mir zu Hause waren, wollte ich ihr nur schnell das Album heraussuchen. Sie hat im Vorbeigehen meine Eltern begrüßt, und dann sind wir auf mein Zimmer gegangen. Ich habe die CD rausgeholt, hab sie ihr gegeben, aber anstatt sie in die Handtasche zu stecken, hat sie sie in den Player gelegt, auf Start gedrückt und sich aufs Bett gesetzt. In den wenigen Wochen, die wir uns kannten, haben wir uns immer gut verstanden, aber diese bestimmte Art intensiver Gespräche hat es nie gegeben. Als Hold On einsetzte – das ist das dritte Stück auf dem Album – fragte sie, ob sie mir vertrauen könne. Aber dann kam sie irgendwie nicht weiter. Sie wirkte traurig. Nachdenklich. Als würde sie gern etwas sagen, traute sich aber nicht, und ich … ja, ich bin wohl von Natur aus nicht so neugierig, und habe auch nicht versucht, mehr aus ihr herauszuholen, also habe ich das Gespräch wieder in eine andere Richtung gelenkt.«

»Erinnern Sie sich, worüber Sie gesprochen haben?«

»Über das Quiz an jenem Abend. Dass wir gewonnen hätten, wenn wir meine Antworten auf die beiden letzten Fragen gewählt hätten. Aber stattdessen hatten wir uns für ihre Vorschläge entschieden.« Sverre Roer schniefte, lächelte und rieb sich die Wange. »Sie waren falsch, ich hatte es genau gewusst, aber sie war so halsstarrig. Ich habe sie deswegen ein wenig aufgezogen, da hat sie gelacht, aber ich habe gespürt, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war.«

»Wie sind Sie darauf gekommen?«

»Tja … Was soll ich sagen? Wir sind an der Hochschule öfter zusammen gewesen, haben viel gequatscht, oft nur über alltägliche Dinge, Sie wissen schon. Wie man eben miteinander redet, wenn man in der Kantine zu Mittag isst. Die Sache ist, dass Rebekka immer nett und ausgeglichen war. Sie hat die ganze Zeit fröhlich gelächelt – bis auf das eine Mal, als sie bei mir zu Hause war. Sie wollte mir etwas sagen. Ich bin ganz sicher. Dieses traurige Lächeln, mit dem sie mich angesehen hat …« Sverre Roer schüttelte den Kopf. »Irgendwas hat sie gequält.«

»Und was das war, haben Sie nicht versucht herauszufinden?«

»Nein«, sagte er. »Ich habe nur geantwortet Natürlich kannst du mir vertrauen, und hab sie dann gefragt, ob etwas passiert sei, aber da hat sie nur den Kopf geschüttelt. Als ob sie sich plötzlich anders entschieden hätte und doch nichts sagen wollte.«

»Verstehe«, sagte Magnus. »Und wie ging es weiter?«

»Na ja, da gab’s dann nicht mehr viel, worüber wir noch geredet haben … Schulkram und so. Rebekka war unsicher, ob Pädagogik etwas für sie war, ob sie nicht besser Musik hätte wählen sollen. Sie hatte schon seit der Kindheit zu Hause in Mandal im Chor gesungen, aber ihre Eltern meinten wohl, dass es nicht einfach sei, darauf eine Karriere aufzubauen – und das stimmt ja auch in gewisser Weise. Als Musiker hat man in Norwegen entweder Erfolg, oder man endet als Lehrer. Dazwischen gibt es nichts. Und als Cold Water fast zu Ende war, erhob sie sich vom Bett, nahm die CD raus, legte sie in die Handtasche und meinte, sie müsste jetzt mal nach Hause. Ich habe sie auf die Treppe hinausbegleitet, sie hat mich umarmt, und …« Er atmete tief ein und hielt die Luft an, ehe er sie wieder entweichen ließ. »Da wirkte sie ziemlich nachdenklich, fast ein wenig unglücklich. Ich war etwas perplex, weil ich sie nie zuvor so erlebt hatte. Ich habe sie noch einmal gefragt, ob etwas nicht stimmte, und da sah sie aus, als müsste sie sich zu einem Lächeln zwingen, sie schüttelte den Kopf und sagte: Nichts, was ich nicht in Ordnung bringen kann. «

»Was meinte sie damit?«

»Ich habe nicht gefragt … Dumm wie ich war, habe ich sie nicht gefragt. Ich habe das später mit ein paar Kumpeln diskutiert, und die waren überzeugt, dass da noch jemand anderes im Spiel war, dass sie mich wegen eines Jungen um Rat fragen wollte.«

»Wieso glauben Sie das?«

»Weil ich sie in der Zeit davor mehrmals gefragt habe, ob wir uns treffen und was unternehmen wollen. Als Freunde, um präzise zu sein. Aber oft hatte sie schon Pläne, und als ich fragte, was sie vorhätte, da wurde sie ganz geheimnisvoll. Einmal hab ich im Scherz gefragt, ob wir uns zu einem Date treffen wollten, aber da hat sie es bloß weggelächelt.«

»Was, glauben Sie, steckte dahinter?«

»Unmöglich zu wissen, aber ich hatte das Gefühl, dass sie jemanden traf.«

»Genau das meinte ich vorhin, Torp«, sagte Sigmund Aasen. »John-Einar und die anderen Ermittler konnten so gut wie nichts über sie herausfinden.«

»Ja«, sagte Sverre Roer. »Sobald man nur leicht an der Oberfläche gekratzt hat, wurde gleich die Verteidigungsmauer hochgefahren. Ich habe das ja die ganze Zeit über immer wieder gesagt. Dass da noch jemand anderes involviert war. Was könnte sonst die Ursache sein, auf diese Art umgebracht zu werden? Ein Raubüberfall ?« Er verdrehte die Augen. »Dass diese Möglichkeit überhaupt ernsthaft erwogen wurde, sagt alles über die damalige Ermittlung. Wer raubt schon ein junges Mädchen aus? Wir sind hier in Volda , nicht in Detroit.«

»Sverre …« Der Lensmann hatte das Wort ergriffen.

»Nein«, sagte Sverre Roer gereizt, »es ist höchste Zeit, mal etwas zu sagen. Und ich werfe dir nichts vor, Sigmund, das weißt du. Aber hier gibt es immer noch Menschen, die mich schräg ansehen, und die werden das so lange tun, bis Rebekkas Mörder gefasst ist. Ich erinnere mich, dass der frühere Lensmann mehrmals sagte, sie hätten jeden Stein umgedreht und alles doppelt und dreifach untersucht. Aber das war – und ist – Unsinn! Wenn es so gewesen wäre, dann würde er«, der Musiklehrer zeigte mit dem Finger auf Magnus, »heute nicht hier sitzen. Rebekka war kein zufälliges Opfer.«

»Wie können Sie sich da so sicher sein?«, fragte Magnus.

»Ich habe lange geglaubt, dass sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war, aber je mehr ich darüber nachdachte, wie eigenartig sie bei mir zu Hause gewesen war, desto sicherer war ich, dass alles anders ausgesehen hätte, wenn sie mir erzählt hätte, was sie so quälte.«

Magnus’ Handy klingelte. Es war Lars Weberg. Magnus stand auf, entschuldigte sich und ging hinaus. Er hielt sich das Handy ans Ohr und meldete sich, während er die Tür hinter sich schloss. Lars Weberg berichtete von dem Gespräch, das er mit Karen Thoen im Gefängnis Halden geführt hatte.

»Bjørn Farsund hat also nicht aufgehört, Frauen zu verprügeln?«

»Man wird nicht wieder gesund«, erwiderte Lars Weberg. »Man kann sich eine höhere Schwelle für das erarbeiten, was man zu ertragen bereit ist, ehe man durchdreht. Oder ein größeres Toleranzniveau, wie die korrekte Terminologie wohl lautet.«

»Und das hat er getan?«

»Ja, aber wenn jemand lange genug auf den entsprechenden Knopf drückt, spielt es keine Rolle, ob man in Behandlung gewesen ist oder nicht. Da brennen einfach die Sicherungen durch.«