Freitag, 22. November
Es war Abend geworden. Die verschiedenen Flügel des Krankenhauses Kalnes badeten im gelben Licht der Straßenbeleuchtung, als Spikes knirschend über den eisglatten Parkplatz rollten. Anton zog die Handbremse und schaltete den Motor aus. Kurz nachdem sie Oslo hinter sich gelassen hatten, war Magnus zum zweiten Mal eingedöst und saß jetzt immer noch mit einem Pappkarton auf dem Schoß neben Anton und schlief. Anton legte den Autoschlüssel in den Becherhalter und stieg aus. Er schloss die Tür und betrat die psychiatrische Notaufnahme durch den Haupteingang. Dann eilte er den Gang hinunter, während er seine Zugangskarte aus der Geldbörse fischte. Er hielt sie an das Lesegerät an der Schleuse. Rotes Licht. Er fluchte, versuchte es erneut. Grünes Licht. Er trat ein, passierte die nächste Tür, grüßte den Wachmann, der mit einem Buch dasaß und kaum zu ihm aufschaute. Als er am Schwesternzimmer vorbeiging, hörte er jemanden telefonieren. Aus einem der Zimmer drang lautes Gelächter. Die Tür zu dem Zimmer, in dem Nora gelegen hatte, stand offen. Anton verharrte an der Türschwelle. Didrik stand mit dem Rücken zu ihm und zog das Bett ab. Auf dem Nachttisch lag eine Garnitur frischer Bettwäsche.
Anton überkam ein Déjà-vu. Vor nicht einmal achtundvierzig Stunden hatte er an derselben Stelle gestanden und aus demselben Fenster geblickt. Die Vorhänge waren jetzt ebenfalls aufgezogen, genau wie vor zwei Tagen, als Nora gefragt hatte, ob er sie in den Arm nehmen könnte. Er warf einen Blick auf das Scheinwerferlicht draußen und dachte an die möglichen Konsequenzen für den Fall, dass er Nora mitgenommen hätte. Im besten Fall wäre er gefeuert worden. Im schlimmsten Fall hätte man ihn der Entführung bezichtigt. Doch Nora wäre immerhin noch am Leben.
Er blieb stehen und beobachtete Didrik von hinten. Der Kollege summte leise vor sich hin, während er den Sack mit Schmutzwäsche füllte und frische Bettwäsche aufzog. Sorgsam faltete er die Bettdecke, sodass sie genau mit der Kante des Bettes abschloss. Mit der Hand strich er über das Kopfkissen und glättete es. Er hörte auf zu summen, stemmte eine Hand in die Hüfte und betrachtete sein Werk, ehe er aus dem Fenster blickte. Als ob er etwas Bestimmtes ansah.
»Was ist eigentlich passiert?«
Didrik fuhr zusammen und wandte sich jäh um. Anton machte einen Schritt ins Zimmer.
»Ich glaube, da solltest du vielleicht Vibeke fragen«, erwiderte Didrik und griff nach dem Wäschesack.
»Du hast sie doch mit nach draußen genommen, oder?«
»Ja.«
»Dann gibt es wohl niemanden, der besser darauf antworten kann als du.«
»Tut mir leid, Anton, aber sie haben mir einen Maulkorb verpasst. Ich war heute Vormittag zur Vernehmung.«
»Mit wem hast du gesprochen?«
»Mit der Polizei. Ist ja reine Routine. Wenn so was passiert, werden Ermittlungen eingeleitet.«
»Das ist mir schon klar. Ich wollte eigentlich wissen, wer genau dich befragt hat.«
Didrik überlegte.
»Gro? Guro? Jedenfalls eine Frau von der Polizeistation in Sarpsborg. Etwas mit G.«
»Aber die Polizei verpasst Zeugen keinen Maulkorb. Verdächtigen auch nicht, um genau zu sein. Im äußersten Fall kann dich ein Ermittler darum ersucht haben, dass du mit niemandem über das Geschehene redest, aber ich glaube nicht, dass das hier der Fall war. Doch sollte das tatsächlich so sein, dann gibt es nichts, worauf ich im Augenblick mehr scheiße als das, worum Gro oder Guro von der Polizeistation Sarpsborg dich ersucht hat.«
»Das Krankenhaus«, sagte Didrik. »Das Krankenhaus hat mir einen Maulkorb verpasst. Nicht die Polizei.«
»Das ergibt schon mehr Sinn, aber weißt du was?«
Didrik schüttelte den Kopf.
»Auch darauf scheiße ich. Was ist passiert?«
»Du wirst es aber für dich behalten?«
»Natürlich.«
»Ich habe Nora nach dem Abendessen gefragt, ob sie etwas an die frische Luft wollte, und sie hat Ja gesagt. Dann sind wir rausgegangen.« Er zeigte auf das Fenster. »Hier vorbei, und dann den Weg runter zum Wald.«
»Wie war sie?«
»Wie sie war?« Didrik wirkte nachdenklich. »Was soll ich sagen? Jedenfalls hatte ihr Verhalten nichts, was beunruhigend war. Wir haben uns unterhalten u…«
»Worüber habt ihr gesprochen?«, fiel Anton ihm ins Wort.
Didrik blickte ihn verwundert an.
»Du meine Güte. Es kann einem ja so vorkommen, als hätte ich sie aufgehängt?«
»Ich bin bloß neugierig zu erfahren, wie das so verflucht schiefgehen konnte.«
»Und das tut mir leid, Anton.«
»Unter Berücksichtigung der Situation schien es ihr am Mittwoch ganz gut zu gehen. Vielleicht war sie etwas deprimierter am Abend, aber dass sie so was machen könnte?«
»Mir ist ja nicht entgangen, dass ihr beide euch gut verstanden habt. Aber egal: Wir haben über Verschiedenes gesprochen. Über dich, unter anderem. Auch darüber, draußen in der Natur zu sein – sie hat wohl gern unter freiem Himmel geschlafen. Und ein bisschen darüber, wie es ihr ging.«
»Und wie ging es ihr?«
»Sie meinte, sie fühlte sich besser. Und sie hat ja auch besser ausgesehen. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass ihre Arme unter dem Pullover bandagiert waren, wäre es mir vorgekommen, als hätte ich mit irgendeinem Mädchen einen Spaziergang gemacht. Ich glaube, dass ich auch deshalb so völlig perplex war.«
»Sie ist einfach weggelaufen?«
»Ich bin für einen Augenblick stehen geblieben, um mir den Schnürsenkel zuzuknoten, da ist sie schnurstracks in den Wald gelaufen. Ich bin hinterhergerannt und hab sie nach etwa hundert Metern wieder eingeholt, und in dem Moment habe ich einfach nicht nachgedacht, sondern habe nur ihre Arme gepackt. Ich hätte sie natürlich um die Taille fassen müssen oder ihre Oberarme festhalten, aber ich konnte nur ihre Unterarme packen, aber das tat ihr anscheinend weh, und sie hat geheult und geschrien wie ein Berserker.«
»Wie ein Berserker? Ein siebzehnjähriges Mädchen, das 45 Kilo wog?«
»Ja, ich musste richtig heftig mit ihr kämpfen. Ich habe sie auf den Boden geworfen, und da hat sie mir einen Tritt in die Eier verpasst. Und ehe ich wieder auf die Beine gekommen bin und Leute von hier angerannt kamen, da war sie über alle Berge.«
»Das Seil. Woher hatte sie das?«
»Sie muss es da drüben gefunden haben.«
»Wo da drüben ?«
»Beim Sportverein Kalnes.«
»Hast du sie gefunden?«
»Nein, das war die Polizei. Die wurde sofort verständigt. Ist bei solchen Sachen ja auch Routine, d…«
»Didrik«, unterbrach Anton ihn. »Auch das ist mir völlig klar.«
»Ich merke, dass du total aufgebracht bist, und ich kann es nur immer wieder bedauern, aber das war nicht mein Fehler.« Didrik griff erneut nach dem Sack mit der Schmutzwäsche. »Ich habe früher schon mal einen Patienten verloren. Als ich mit Psychotikern gearbeitet habe, in Tromsø. Es war ein junger Mann. Ein Drehtürpatient. Sollte am nächsten Tag entlassen werden. Hab ihn nie in besserer Form erlebt als an diesem Tag. Ruhig und zufrieden. Hat Scherze gemacht und gelacht. Genau wie Nora. Und weil man ja hinterher immer klüger ist, sollte man meinen, dass man es zukünftig früher kapieren sollte, gerade weil der Pfeil nach oben zeigte.«
»Ein ziemliches Paradox.«
»Das kann man laut sagen, aber irgendwie finden sie in so einem Moment dann Ruhe – die Entscheidung ist gefallen. Aber wenn wir beschließen, so etwas nie zu glauben, dann können wir überhaupt niemals irgendwen entlassen. Denn deswegen kommen sie ja zu uns. Wir sollen ihnen helfen, den Pfeil herumzudrehen.«
Didrik trat auf die Tür zu.
»Fahr nach Hause, Anton.«
Didrik ging aus dem Zimmer. Anton stellte sich wieder an die Türschwelle. Der Wachmann sah kurz auf, ehe sein Kinn sich wieder zu dem Buch hinabsenkte, das er in den Händen hielt. Didrik legte sich den Wäschesack über die Schulter, während er den Gang hinunterlief. Dann warf er einen kurzen Blick hinter sich, als ob er überprüfen wollte, ob Anton ihn beobachtete.