Volda, 1999, Tag 73
Als Trine das Schnappschloss hinter sich zufallen hörte, wusste sie, dass sie in Sicherheit war. Dennoch rannte sie weiter, die Treppe hoch in den zweiten Stock, dann den Gang hinunter. Aus einer der Nachbarwohnungen drang Musik, aus einer anderen laute Stimmen. Sie schob den Schlüssel ins Schloss, riss die Tür auf und knallte sie hinter sich wieder zu. Dann drehte sie den Schlüssel herum, lehnte sich an den Rahmen und ließ die Luft aus der Lunge entweichen. Die Poren öffneten sich und entließen den Schweiß, als ob dem Körper klar wurde, dass die Hölle ein Ende gefunden hatte, dass sie an diesem Abend nicht sterben würde.
Sie zog ihre Jacke aus, ging ins Bad und nahm eine lange heiße Dusche. Langsam hörte sie auf zu zittern. Während ihr das Wasser ins Gesicht spritzte, ließ sie den Abend Revue passieren. Am letzten Mittwoch hatte sie keine Zweifel gehabt. Da war jemand gewesen. Heute Abend hatte sie nur etwas gespürt. Womöglich wurde sie verrückt. Vielleicht sollte sie doch besser tun, was die Eltern ihr vorgeschlagen hatten, nach Hause fahren und die Herbstferien bei ihnen in Mandal verbringen. Sie hatte gesagt, dass sie die Ferienzeit für das Studium opfern müsse, dass sie nach all den schrecklichen Geschehnissen eine Menge nachzuholen habe. Es lag durchaus ein Körnchen Wahrheit darin, doch der wirkliche Grund, aus dem sie nicht nach Mandal fahren wollte, waren Rebekkas Eltern, die zu treffen sie nicht über sich brachte. Weil es sich falsch anfühlte, dass Rebekka tot war, während sie selbst lebte.
Sie trocknete sich ab und schlüpfte in ihren Pyjama. Dann ging sie hinüber zu Rebekkas ehemaligem Zimmer und öffnete die Tür. Sie machte Licht, trat ein und setzte sich auf das Bett, auf dem nur noch eine nackte Matratze lag. Der Schreibtisch gehörte dem Studentenverband und stand noch da, war aber ausgeräumt. Rebekkas Eltern waren vorige Woche da gewesen und hatten ihre Habseligkeiten abgeholt. Die Mutter hatte Trine kaum angesehen, genau wie bei der Beerdigung. Trine hatte es verstanden, weil auch sie kaum jemandem in die Augen zu sehen vermochte. Nicht mal ihren eigenen Eltern.
Vor dem Wochenende hatte sich der Studentenverband gemeldet und gefragt, ob sie wollte, dass jemand anderes einzog. Trine hatte erwidert, dass sie lieber eine andere Wohnung wollte, eine mit nur einem Schlafzimmer. Sie blieb auf dem Bett sitzen, starrte an die Wand und dachte an den Abend zurück. Der war weit besser gelaufen als erwartet. Sie glaubte, es hatte damit zu tun, dass dieser junge Mann zu dem Treffen erschienen war, und obwohl ihr der egoistische Gedanke nicht gefiel, entsprach es doch der Wahrheit. Sie faltete die Hände, schloss die Augen und erzählte Gott und Rebekka, dass der muntere junge Mann sie sogar zum Lächeln gebracht hatte. Seit über einem Monat hatte sie nicht mehr gelächelt. Und als sie in Ørsta zum Bus gegangen waren, hatte er etwas Witziges gesagt. Sie kniff die Augen fest zusammen und erzählte, dass sie verabredet hatten, am nächsten Mittwoch zusammen an der Trauergruppe teilzunehmen. Dass sie für Rebekka weiterleben würde. Nicht nur jetzt, sondern immer. Sie stand auf, schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer. Sie vergewisserte sich, dass die Wohnungstür verschlossen war, ehe sie in die Küche ging und sich einen Apfel aus dem Kühlschrank nahm. Dann stellte sie sich ans Wohnzimmerfenster. Allerdings sah sie nicht viel mehr als ihr Spiegelbild.
Da war irgendetwas an diesem Jungen aus der Trauergruppe, was Trine, die sich jetzt sicher verwahrt hinter einer verschlossenen Tür im zweiten Stock befand, in die Lage versetzte, an etwas anderes als das zu denken. An das Böse, das diese Hölle hervorgerufen hatte, in der sie womöglich für den Rest ihres Lebens ausharren musste. Denn jetzt dachte sie daran, dass sie sich zum ersten Mal seit über einem Monat auf etwas freute.